Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Saskia P*****, geboren am 17. Mai 2000, und Rebecca P*****, geboren am 8. Jänner 2002, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie Rechtsvertretung Bezirke 12, 13 und 23, 1230 Wien, Rößlergasse 15), infolge Rekurses der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 4. November 2008, GZ 42 R 520/08v, 42 R 521/08s-U-49, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, die Beschlüsse des Bezirksgerichts Meidling vom 25. August 2008, GZ 2 P 197/06f-U-37 und
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Beschlüsse des Erstgerichts in der berichtigten Fassung wiederhergestellt werden.
Text
Begründung:
Die am 17. 5. 2000 geborene Saskia P***** und die am 8. 1. 2002 geborene Rebecca P***** sind die Kinder von Sigrid und Volker P*****. Die beiden Minderjährigen, die im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter in Wien leben, und ihre Eltern sind deutsche Staatsbürger. Die Mutter ist nach der unstrittigen Aktenlage jedenfalls seit 1. 10. 2007 in Österreich als Arbeitnehmerin beschäftigt und sozialversichert. Der Vater, der in Deutschland lebt, ist aufgrund eines vor dem Oberlandesgericht München am 16. 5. 2006 zur AZ 30 UF 28/06 abgeschlossenen Vergleichs zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 156 EUR gegenüber Saskia und von 131 EUR gegenüber Rebecca verpflichtet. Er war bis zu seiner Kündigung am 11. 2. 2008 in Deutschland beschäftigt und bezog zuletzt ein Einkommen von 1.183,45 EUR netto monatlich. Weiters bezog er vom 30. 1. 2008 bis 19. 3. 2008 Krankengeld in Höhe von 30,83 EUR täglich, vom 20. 3. 2008 bis 17. 4. 2008 Übergangsgeld in Höhe von insgesamt 812,56 EUR und anschließend wieder Krankengeld in Höhe von 30,83 EUR täglich. Seit 5. 5. 2008 bezieht er Arbeitslosengeld in gleicher Höhe. Der Vater ist auch noch für den mj Jonas P*****, geboren am 16. 2. 1996, sorgepflichtig.
Am 24. 12. 2007 beantragten die durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger vertretenen Minderjährigen Unterhaltsvorschuss nach §§ 3 und 4 Z 1 UVG in Titelhöhe. Es sei davon auszugehen, dass durch eine Pfändung des Einkommens des Vaters die laufenden Unterhaltsbeiträge der letzten 6 Monate keinesfalls einbringlich zu machen seien.
Das Erstgericht gewährte den beiden Antragstellerinnen mit den teilweise berichtigten Beschlüssen vom 25. 8. 2008 Unterhaltsvorschüsse für die Zeit vom 1. 12. 2007 bis 31. 1. 2008 in Höhe von 156 EUR monatlich für mj Saskia und 131 EUR monatlich für mj Rebecca sowie vom 1. 2. 2008 bis 30. 11. 2011 in der eingeschränkten Höhe von jeweils 102 EUR monatlich pro Kind. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren wies es unbekämpft ab. Das Erstgericht traf die bereits eingangs wiedergegebenen Feststellungen und ging weiters davon aus, dass die über das Landratsamt Oberallgäu im Amtshilfeweg betriebene zwangsweise Eintreibung des Unterhalts unter Anrechnung hereingebrachter Rückstände auf den laufenden Unterhalt diesen für die letzten 6 Monate vor Antragstellung nicht gänzlich gedeckt habe. Während des aufrechten Dienstverhältnisses des Vaters (bis 31. 1. 2008) sei der Unterhaltsanspruch der Minderjährigen in der jeweiligen Höhe des Unterhaltstitels gerechtfertigt, während für den Zeitraum ab 1. 2. 2008 nur ein monatlicher Unterhaltsanspruch von jeweils 102 EUR pro Kind angemessen sei.
Das Rekursgericht änderte diese Beschlüsse des Erstgerichts dahin ab, dass es die Anträge der beiden Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abwies. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y) knüpfe der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 nur an die Rechtsstellung des Geldunterhaltsschuldners an, da nur dessen Leistungen durch die Vorschüsse substituiert würden. Im vorliegenden Fall hätten die beiden Minderjährigen als Familienangehörige ihres in Deutschland lebenden geldunterhaltspflichtigen Vaters daher nur in Deutschland einen von ihrem Vater abgeleiteten Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen im Sinne der VO 1408/71. Ein Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse bestehe hingegen nicht.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil die zitierte jüngere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von der früheren Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen abweiche.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der - nach dem Ergebnis der vom Obersten Gerichtshofs veranlassten Erhebungen - rechtzeitige Revisionsrekurs der Antragstellerinnen mit dem Antrag auf Wiederherstellung der antragstattgebenden Entscheidungen des Erstgerichts.
Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien und die Eltern der Minderjährigen erstatteten keine Revisionsrekursbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.
Die Antragstellerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Nichtgewährung der Unterhaltsvorschüsse stelle im vorliegenden Fall eine gemeinschaftsrechtswidrige Diskriminierung dar. Im Übrigen würde im Hinblick auf den Wohnort der beiden Antragstellerinnen in Österreich ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss in Deutschland gemäß Art 76 der VO 1408/71 bis zu dem nach dem österreichischen UVG vorgesehenen Betrag ruhen, sodass Österreich vorrangig für die Gewährung von Vorschüssen zuständig sei.
Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, hat erst jüngst in den Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 78/08f, 10 Ob 83/08s ua jeweils vom 27. 1. 2009 zur Frage des Anspruchs eines Minderjährigen auf Unterhaltsvorschuss nach der VO (EWG) Nr 1408/71 idgF (im Folgenden: VO 1408/71) im Wesentlichen wie folgt Stellung genommen:
Nach § 2 Abs 1 UVG haben mj Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ist eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischem UVG eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 (Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261; Urteil vom 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205; Urteil vom 20. 1. 2005, Rs C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553).
Nach Art 3 Abs 1 der VO 1408/71 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Angehörigen dieses Staats, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fallen nach Art 2 Abs 1 der VO 1408/71 „Arbeitnehmer und Selbständige ..., für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind ..., sowie für deren Familienangehörige ...".
Der Begriff „Arbeitnehmer" und „Selbständiger" wird in Art 1 lit a der VO 1408/71 definiert. Nach dessen Z i ist „Arbeitnehmer" oder „Selbständiger" jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
Der Begriff „Familienangehöriger" wird in Art 1 lit f Z i der VO 1408/71 definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehörige bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl EuGH, 15. 3. 2001, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 34 mwN), kommt es für eine unterhaltsberechtigte Antragstellerin, um in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 zu fallen, nur mehr darauf an, ob sie ihre Stellung von einem Elternteil ableiten kann (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 28. 9. 2000, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 55). Der persönliche Anwendungsbereich nach Art 2 der VO 1408/71 ist daher eröffnet, wenn eine Antragstellerin als Familienangehörige eines Arbeitnehmers oder Selbständigen anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH und der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fällt somit eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i der VO 1408/71 ist, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (EuGH, 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205 Rz 54; RIS-Justiz RS0116311). Dieser Grundsatz wurde auch in der vom Rekursgericht zitierten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y; 1 Ob 267/07g) ausdrücklich aufrecht erhalten. Eine weitere Voraussetzung für die Anwendung der VO 1408/71 ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Diese Voraussetzung ist dahin zu verstehen, dass eine Anwendung der Vorschriften über die Koordination von Leistungen der sozialen Sicherheit nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte in Betracht kommt. Der danach als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt also voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden (10 Ob 36/08d mwN; 10 Ob 60/03a; vgl Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 2 VO 1408/71 Rz 6 und 14 mwN). Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustandekommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält (Neumayr in Schwimann, ABGB3 § 1 UVG Rz 20 mwN).
Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass die Mutter der Antragstellerinnen, mit der sie in häuslicher Gemeinschaft leben, Arbeitnehmerin im Sinne der VO 1408/71 ist. Der grenzüberschreitende Gesichtspunkt besteht darin, dass die Mutter eine deutsche Staatsangehörige ist, die in Österreich unselbständig erwerbstätig ist, somit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Es ist daher zusammenfassend davon auszugehen, dass der zur Beurteilung stehende Sachverhalt sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht der VO 1408/71 unterliegt.
Weiters hat der erkennende Senat in den erwähnten Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 78/08f, 10 Ob 83/08s ua jeweils vom 27. 1. 2009 Folgendes ausgeführt:
Das in Art 3 Abs 1 VO 1408/71 normierte Gleichbehandlungsgebot steht unter dem Vorbehalt „soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen". Es führt daher nicht zu einem Verbot einer unterschiedlichen Behandlung, die sich gegebenenfalls aus Unterschieden der aufgrund von Kollisionsnormen wie Art 13 Abs 2 VO 1408/71 anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften über Familienleistungen ergibt (EuGH, 20. 1. 2005, Rs C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 51; 4 Ob 4/07b).
Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für Familienleistungen und damit auch für den österreichischen Unterhaltsvorschuss richtet sich grundsätzlich nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff der VO 1408/71. Ziel dieser Bestimmungen ist es, dass jede Person einer einzigen bestimmten Sozialrechtsordnung unterliegt; es sollen daher durch die Verordnung weder Versicherungslücken noch Doppelversicherungen oder Doppelleistungen entstehen (vgl Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 13 VO 1408/71 Rz 1).
Gemäß Art 13 Abs 1 VO 1408/71 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats; dieser ist nach Titel II der Verordnung zu bestimmen. Gemäß Art 13 Abs 2 lit a VO 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staats, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Gemäß Art 73 der VO 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staats (Beschäftigungsstaat), als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten. Dabei werden Familienleistungen gemäß Art 75 Abs 1 der VO 1408/71 in dem in Art 73 dieser Verordnung genannten Fall vom zuständigen Träger des Staats gewährt, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder den Selbständigen gelten. Sie werden nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gezahlt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staats oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält. In der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y; 1 Ob 267/07g) wurde die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.
Dieser Ansicht, die im Widerspruch zur früheren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/07p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua) steht, vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Es ist nach den zitierten Kollisionsnormen der VO 1408/71 vielmehr davon auszugehen, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Eine solche Anknüpfung an den versicherungspflichtigen Arbeitnehmer oder Selbständigen ist im Rahmen der VO 1408/71 grundsätzlich auch sachlich gerechtfertigt, weil der überwiegende Teil der erfassten Sozialleistungen auf Versicherungssystemen beruht (vgl Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 25. 5. 2004, Rs C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 32 f). Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Vaters als Geldunterhaltsschuldner ist den zitierten Koordinierungsregelungen nicht zu entnehmen und würde überdies auch mit den oben dargelegten Ausführungen, wonach sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer als auch jene der Mutter als Arbeitnehmerin im Sinne der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen vermag, im Widerspruch stehen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 39). Im Anlassfall unterliegt die nach dem Akteninhalt nur in Österreich unselbständig erwerbstätige Mutter der Antragstellerinnen nach den dargestellten Kollisionsnormen allein österreichischem Recht. Davon ausgehend, haben die Antragstellerinnen einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG. In den vom Anwendungsbereich der VO 1408/71 erfassten Fällen, ist - entgegen § 2 Abs 1 UVG - die österreichische Staatsbürgerschaft des antragstellenden mj Kindes nicht Anspruchsvoraussetzung (10 Ob 36/08d mwN).
An diesem Ergebnis würde sich, wie der erkennende Senat ebenfalls bereits dargelegt hat (vgl 10 Ob 78/08f, 10 Ob 87/08d) auch nichts ändern, wenn der Vater der Antragstellerinnen ebenfalls von seinem Recht auf Freizügigkeit bereits Gebrauch gemacht hätte, daher ebenfalls als Arbeitnehmer im Sinn der VO 1408/71 anzusehen wäre und die Antragstellerinnen im Hinblick auf Art 73 dieser Verordnung auch nach deutschem Recht Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätten. Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, sieht die VO 1408/71 die Prioritätsregeln ihres Art 76 sowie des Art 10 der Verordnung (EWG) Nr 574/72 (im Folgenden: VO 574/72) vor. In Art 76 Abs 1 VO 1408/71 ist der allgemeine Grundsatz festgelegt, dass im Fall einer Kumulierung von Familienleistungen aufgrund einer beruflichen Tätigkeit aus dem Wohnsitzstaat der Familienangehörigen und von Familienleistungen aus dem Beschäftigungsstaat, in dem die Berufstätigkeit ausgeübt wird, die Familienleistungen des Beschäftigungsstaats bis zur Höhe der Familienleistungen des Wohnsitzstaats ausgesetzt werden. Damit besteht eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats von einer Berufstätigkeit abhängen (Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 76 VO 1408/71 Rz 3).
Art 76 Abs 1 VO 1408/71 wäre in Bezug auf den österreichischen Unterhaltsvorschuss aber nicht einschlägig, weil nach österreichischem Recht der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss unabhängig von einer Erwerbstätigkeit gebührt. Es wäre daher die Prioritätsregelung in Form des Wohnortstaatprinzips des Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 heranzuziehen: Unterliegen die Eltern den Rechtsvorschriften verschiedener Staaten (Art 13 ff VO 1408/71, so ist demnach für die Familienleistungen vorrangig jener der beiden Staaten zuständig, in welchem sich die Familie mit dem Kind ständig aufhält (Wohnortstaatprinzip). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind (vgl Holzmann-Windhofer, Kinderbetreuungsgeld für EG-Wanderarbeitnehmer, SozSi 2008, 16 ff [25] mwN). Selbst wenn daher im vorliegenden Fall der Vater der Antragstellerinnen in Deutschland erwerbstätig wäre, wäre nach der zutreffenden Rechtsansicht der Antragstellerinnen Österreich, wo ihre Mutter erwerbstätig ist und die Antragstellerinnen mit ihr leben, für die Gewährung des Unterhaltsvorschusses vorrangig leistungszuständig (vgl Neumayr aaO § 1 UVG Rz 41). Ob die Antragstellerinnen in Deutschland ebenfalls einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss oder eine vergleichbare Leistung haben, braucht daher im Hinblick auf die dargestellte Rechtslage nicht geprüft zu werden (vgl 9 Ob 157/02g). Da das Erstgericht somit die beantragten Vorschüsse im Ergebnis zu Recht gewährt hat, war spruchgemäß zu entscheiden.
Anmerkung
E9072610Ob10.09g-2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00010.09G.0421.000Zuletzt aktualisiert am
10.06.2009