Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 21. April 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Richterin im Evidenzbüro Mag. Finster als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Aytac K***** und andere Angeklagte wegen des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung, AZ 10 Hv 54/08a des Landesgerichts Steyr, über die von der Generalprokuratur gegen 1./ den Beschluss des Landesgerichts Steyr vom 5. September 2008 gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO, 2./ die vom Landesgericht Steyr im Verfahren AZ 10 Hv 54/08a unterlassene Zustellung der Ausfertigung des Protokolls der Hauptverhandlung und 3./ das Urteil des Oberlandesgerichts Linz vom 15. Dezember 2008, AZ 10 Bs 391/08h, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen Aytac K***** wegen des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB, AZ 10 Hv 54/08a des Landesgerichts Steyr, verletzen das Gesetz
1./ der gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO gefasste Beschluss des Landesgerichts Steyr vom 5. September 2008, GZ 10 Hv 54/08a-14, auf Absehen vom Widerruf der zu AZ 13 Hv 36/05x des Landesgerichts Steyr gewährten bedingten Strafnachsicht unter Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre, in § 494a Abs 3 StPO;
2./ die vom Landesgericht Steyr im Verfahren AZ 10 Hv 54/08a ungeachtet mangelnden Verzichts unterlassene Zustellung der Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Beteiligten in § 271 Abs 6 letzter Satz StPO;
3./ das Urteil des Oberlandesgerichts Linz vom 15. Dezember 2008, AZ 10 Bs 391/08h, in dem aus dem zweiten Abschnitt des 22. Hauptstücks der StPO iVm § 489 Abs 1 StPO hervorgehenden Grundsatz, dass über alle gegen ein Urteil des Einzelrichters, von welcher Seite auch immer ergriffenen Berufungen und Beschwerden in Ansehung der nicht zur partiellen Rechtskraft fähigen Entscheidungsteile gleichzeitig entschieden werden muss.
Das Urteil des Oberlandesgerichts Linz vom 15. Dezember 2008 wird aufgehoben.
Dem Oberlandesgericht Linz wird aufgetragen, die Akten vorerst dem Landesgericht Steyr zur Zustellung des Protokolls der Hauptverhandlung an die Beteiligten und erneutem Vorlagebericht zu übermitteln und sodann über die (nicht ausgeführte) Berufung und die Beschwerden des Angeklagten Aytac K***** sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft Steyr erneut zu entscheiden.
Text
Gründe:
Mit Urteil eines Einzelrichters des Landesgerichts Steyr vom 5. September 2008, GZ 10 Hv 54/08a-14, wurden Aytac K***** des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB und Kerem Ö***** des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig erkannt. Aytac K***** wurde zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten, Kerem Ö***** zu einer - ebenfalls bedingten - Geldstrafe verurteilt. Gleichzeitig ordnete das Gericht mit Beschluss gemäß §§ 50, 52 StGB in Ansehung beider Angeklagter Bewährungshilfe an und sah überdies gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO hinsichtlich Aytac K***** vom Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts Steyr, AZ 13 Hv 36/05x, gewährten bedingten Strafnachsicht ab und verlängerte die Probezeit auf fünf Jahre. Weiters wurden Kerem Ö***** und Muhammet Öz***** von dem wider sie erhobenen Vorwurf der gefährlichen Drohung gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung meldete Aytac K***** Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an und erhob gegen die genannten Beschlüsse Beschwerde (ON 13, S 10).
Noch am 5. September 2008 meldete auch die Staatsanwaltschaft Steyr gegen das Urteil in Ansehung „sämtlicher Beschuldigter" (richtig: Angeklagter) Berufung wegen Nichtigkeit sowie des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe an (ON 16).
Die an Aytac K***** veranlasste Zustellung der nicht behobenen Urteilsabschrift ist durch Hinterlegung ausgewiesen (ON 14 S 18).
Eine Ausführung der Berufung wurde in der Folge nur von der Staatsanwaltschaft und zwar wegen des Ausspruchs über die Strafe und lediglich den Angeklagten Aytac K***** betreffend eingebracht (ON 17), wobei die Staatsanwaltschaft unter einem erklärte, „die im darüber hinausgehenden Umfang angemeldete Berufung wegen Nichtigkeit und Strafe" zurückzuziehen (ON 18).
Nach Ablauf der Frist zur Erstattung der Gegenausführung legte das Landesgericht Steyr den Akt an das Oberlandesgericht Linz mit einem (nur) die Staatsanwaltschaft als Rechtsmittelwerberin betreffenden Vorlagebericht bezüglich beider Angeklagter und des Freigesprochenen (ON 19) vor.
Gegenstand der Berufungsverhandlung vom 15. Dezember 2008 vor dem Oberlandesgericht Linz, AZ 10 Bs 391/08h, war ausschließlich die Berufung der Staatsanwaltschaft wegen des Ausspruchs über die gegen Aytac K***** verhängte Strafe, der nicht Folge gegeben wurde (ON 21). Der zum Termin geladene Angeklagte Aytac K***** kam zur Berufungsverhandlung trotz ausgewiesener Ladung (ON 20 S 2) nicht. Eine Ladung des Angeklagten Kerem Ö***** bzw des freigesprochenen Muhammet Öz***** unterblieb offenbar infolge des (vermeintlich ausdrücklich) eingeschränkten Berufungsgegenstands.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde überwiegend zutreffend aufzeigt, stehen der Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO durch den Einzelrichter des Landesgerichts Steyr, die unterlassene Zustellung auch des Protokolls der Hauptverhandlung an die Beteiligten sowie das Urteil des Oberlandesgerichts Linz mit dem Gesetz nicht im Einklang:
1./ Vor einer Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht hat das Gericht den Ankläger, den Angeklagten und den Bewährungshelfer zu hören (§ 494a Abs 3 erster Satz StPO). Nach dem Protokoll über die Hauptverhandlung wurde der nicht durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte Aytac K***** vom Einzelrichter des Landesgerichts Steyr vor Verkündung des Beschlusses auf Absehen vom Widerruf der im Verfahren AZ 13 Hv 36/05x desselben Gerichts gewährten bedingten Strafnachsicht bei gleichzeitiger Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre, nicht gehört.
2./ Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten (§ 220 StPO), soweit sie darauf nicht verzichtet haben, eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen. Eine solche Zustellung - oder ein Verzicht darauf - kann dem Akt aber nicht entnommen werden.
3./ Einerseits aus dem Gesamtzusammenhang der im zweiten Abschnitt des 22. Hauptstücks der Strafprozessordnung enthaltenen Bestimmungen iVm § 489 Abs 1 StPO, andererseits aus dem Verbot mehrfacher Entscheidungen in derselben Strafsache (Art 4 des 7. ZPMRK; Ratz, WK-StPO § 473 Rz 1; 13 Os 106/05w) geht hervor, dass über alle gegen ein Urteil, von welchem Beteiligten auch immer ergriffenen Berufungen und Beschwerden in Ansehung der nicht zu partieller Rechtskraft fähigen Entscheidungsteile gleichzeitig entschieden werden muss (Fabrizy, StPO10 § 474 Rz 1).
Dieser Verpflichtung kam das Oberlandesgericht Linz aber weder in Ansehung der unausgeführt gebliebenen Berufung des Angeklagten Aytac K***** wegen Nichtigkeit und wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe bzw dessen Beschwerden nach, noch in Ansehung der diesen, aber auch Kerem Ö***** und Muhammet Öz***** betreffenden, nicht ausgeführten (und nicht ausdrücklich zurückgezogenen) Schuldberufung der Staatsanwaltschaft. Auch veranlasste das Oberlandesgericht keine Aufklärung der missverständlichen Erklärung der Staaatsanwaltschaft Steyr im Wege der Oberstaatsanwaltschaft Linz.
Weiters führt die Generalprokuratur aus:
„Die Zustellung einer Ausfertigung des Protokolls der Hauptverhandlung ist vor allem für den Angeklagten Aytac K***** von Bedeutung, zumal die Zustellung nur der Urteilsausfertigung die Frist zur Rechtsmittelausführung nicht auszulösen vermag (Danek, WK-StPO § 271 Rz 40). Nach ständiger Rechtsprechung wurde bereits vor der Strafprozessnovelle 2005 eine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte angenommen (Z 4 des § 281 Abs 1 StPO), wenn das Protokoll im Zeitpunkt der Urteilszustellung noch nicht vorlag oder dem Rechtsmittelwerber während der Rechtsmittelfrist (wenn auch nur zeitweise) nicht zugänglich war (RIS-Justiz RS0099058; 13 Os 184/94; Fabrizy, StPO10 § 271 Rz 7; Danek, WK-StPO § 271 Rz 40).
Seit der Strafprozessnovelle 2005 besteht ein Rechtsanspruch der Beteiligten auf ehestmögliche Zustellung einer Ausfertigung des Protokolls der Hauptverhandlung, wobei diese spätestens zugleich mit der Urteilsausfertigung zu erfolgen hat.
Der Umstand, dass die Bestimmung des § 285 Abs 1 StPO für den Beginn der Ausführungsfrist nach dem Wortlaut nur die Zustellung des Urteils verlangt, steht der Auslegung nicht entgegen, lässt sich doch aus dem 14. Hauptstück der Strafprozessordnung und insbesondere aus Abs 6 letzter Satz und Abs 7 letzter Satz des § 271 StPO der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers ableiten, dass das Verhandlungsprotokoll den Beteiligten während der Gesamtdauer der Frist zur Ausführung des Rechtsmittels zur Verfügung stehen soll.
Aus der gesetzlichen Regelung der Protokollberichtigung ergibt sich bereits das Gebot zur einschränkenden Auslegung des § 285 Abs 1 StPO und zeigt sich darin auch die vom Gesetzgeber anerkannte Bedeutung des Hauptverhandlungsprotokolls zur Urteilsbekämpfung.
Die Beachtung der Verteidigungsrechte im Lichte des Art 6 MRK (fair trial) - vor allem auch im Zusammenhalt mit der Bestimmung des § 281 Abs 1 StPO - gebietet nach der ratio legis daher auch im Fall der Verletzung der Vorschrift des § 271 Abs 6 letzter Satz StPO die in § 271 Abs 7 letzter Satz StPO normierte Rechtsfolge.
Das Erstgericht wäre daher vom Oberlandesgericht Linz unverzüglich aufzufordern gewesen, sowohl die neuerliche Zustellung einer Urteilsabschrift als auch zeitgleich die Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an Aytac K***** zu veranlassen, um diesem unverkürzt die Frist zur Ausführung des Rechtsmittels in ungeschmälerter Kenntnis des Hauptverhandlungsprotokolls zu ermöglichen (vgl auch Danek, WK-StPO § 271 Rz 40; Fabrizy, StPO10 § 271 Rz 7; aM [jedoch zur alten Rechtslage] Ratz, WK-StPO § 285 Rz 4)."
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Durch das BGBl I 2004/164 („Strafprozessnovelle 2005") wurde § 271 Abs 6 StPO um die Anordnung ergänzt, dass eine Ausfertigung des Protokolls der Hauptverhandlung den Parteien (nunmehr Beteiligten), soweit sie darauf nicht verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen ist. Zur Rechtslage vor dem 1. März 2005 hatte die Rechtsprechung nämlich bereits ergänzend verlangt, dass das Hauptverhandlungsprotokoll bei Zustellung des Urteils - im Sinn eines Abschlusses des erstinstanzlichen Verfahrens - fertiggestellt sein muss (RIS-Justiz RS0098684, RS0100741).
Nach Anmeldung einer Nichtigkeitsbeschwerde hat der Beschwerdeführer das Recht, binnen vier Wochen nach Zustellung einer Urteilsabschrift eine Ausführung seiner Beschwerdegründe beim Gericht zu überreichen (§ 285 Abs 1 StPO).
Weder sprechen die Materialien (EBRV 679 der BlgNR XXII. GP) zur Strafprozessnovelle 2005 noch § 271 Abs 7 StPO für eine Auslegung des - unverändert gebliebenen - § 285 Abs 1 StPO wie von der Generalprokuratur vorgenommen.
Zentrales Anliegen der Strafprozessnovelle war die „Reform der Protokollführung in Strafsachen" sowohl durch Vereinfachungen (wie etwa den fakultativen Verzicht auf die Beiziehung eines Schriftführers) als auch durch eine „ausdrückliche Regelung der Protokollberichtigung", die eine Beschwerdemöglichkeit der Beteiligten in allen Verfahrensarten vorsah. Hiezu wurde ausgeführt, dass „die Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung erst erfolgen [darf], wenn das Protokoll abgeschlossen wurde. Wird das Protokoll berichtigt, so muss die - die Frist zur Ausführung eines angemeldeten Rechtsmittels auslösende - Zustellung der Ausfertigung des Urteils neuerlich vorgenommen werden" (EBRV 679 der BlgNR XXII. GP S 9, 10). § 271 Abs 7 letzter Satz StPO entspricht dieser Intention des Gesetzgebers, indem er anordnet, dass erst die neuerliche Zustellung (der Urteilsausfertigung) nach einer Protokollsberichtigung die Ausführungsfristen auslöst (in diesem Sinn auch 14 Os 26/08t, RIS-Justiz RS0123477). Eine Verknüpfung der Zustellung des Protokolls der Hauptverhandlung mit dem Beginn der Rechtsmittelausführungsfrist - durch eine Erweiterung des § 285 Abs 1 StPO - wurde gerade nicht normiert.
Auch zwingt die Beachtung der Verteidigungsrechte aus grundrechtlicher Sicht nicht zu einer erweiternden Auslegung des § 285 Abs 1 StPO; Art 6 Abs 3 lit b MRK wird für den Fall, dass einem Angeklagten oder seinem Verteidiger entgegen der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung des § 271 Abs 6 letzter Satz StPO das Protokoll der Hauptverhandlung nicht spätestens zugleich mit der Ausfertigung des Urteils zugestellt wird, sondern zu einem die Verteidigungsrechte bereits beeinträchtigenden Zeitpunkt, durch den Rechtsbehelf des § 364 StPO - außer es läge diesen ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last - Genüge getan (Ratz, WK-StPO § 285 Rz 4).
Weil sich der Oberste Gerichtshof in diesem Punkt der Argumentation der Generalprokuratur nicht anzuschließen veranlasst sieht, war dem Oberlandesgericht Linz aufgrund der Feststellung der Verletzung des § 271 Abs 6 letzter Satz StPO aufzutragen, die Akten dem Landesgericht Steyr zur Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Beteiligten und erneutem Vorlagebericht, nicht aber zum Zweck einer allfälligen Ausführung der Rechtsmittel des Aytac K***** zu übermitteln.
Die Beschlussfassung gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO ohne Anhörung des Angeklagten Aytac K***** - die in der neuerlich durchzuführenden Berufungsverhandlung nachzuholen sein wird - sowie die unterlassene Entscheidung über dessen unausgeführt gebliebene Rechtsmittel durch das Oberlandesgericht Linz haben sich zu seinem Nachteil ausgewirkt (§ 292 letzter Satz StPO).
Angesichts dessen sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil des Oberlandesgerichts Linz aufzuheben und diesem aufzutragen, nach Wiedervorlage der Akten über die Rechtsmittel des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft Steyr - nach Einholung einer ausdrücklichen Erklärung über die allfällige Rückziehung der Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld auch in Bezug auf Kerem Ö***** und Muhammet Öz***** - zu entscheiden.
Textnummer
E90906European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0110OS00019.09T.0421.000Im RIS seit
21.05.2009Zuletzt aktualisiert am
11.08.2011