TE OGH 2009/4/29 7Ob68/09i

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Veröffentlicht am 29.04.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI Dr. Reinhard Z*****, vertreten durch Neumayer, Walter & Haslinger Rechtsanwälte-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Mag. Martin Paar und Mag. Hermann Zwanzger, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das mit Beschluss vom 16. März 2009, GZ 4 R 119/08m-24, berichtigte Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 31. Oktober 2008, GZ 4 R 119/08m-20, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 31. März 2008, GZ 39 Cg 76/06d-14, infolge Berufung der beklagten Partei bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften über den vom Obersten Gerichtshof am 23. April 2008 in der Rechtssache 7 Ob 26/08m gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen.

Nach Einlangen der Vorabentscheidung wird das Revisionsverfahren von Amts wegen fortgesetzt werden.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Der Kläger schloss bei der Beklagten für den Zeitraum vom 1. 8. 1998 bis 1. 8. 2008 einen Rechtsschutzversicherungsvertrag ab, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung (ARB 1998) zugrundegelegt wurden. Deren Artikel 6.7.3. lautet:

„Genießen mehrere Versicherungsnehmer zur Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen Versicherungsschutz aus einem oder mehreren Versicherungsverträgen und sind ihre Interessen aufgrund der gleichen oder einer gleichartigen Ursache gegen den/dieselben Gegner gerichtet, ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung vorerst auf die außergerichtliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Versicherungsnehmer und die Führung notwendiger Musterprozesse durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter zu beschränken.

Wenn oder sobald die Versicherungsnehmer durch diese Maßnahmen nicht ausreichend gegen einen Verlust ihrer Ansprüche, insbesondere durch drohende Verjährung, geschützt sind, übernimmt der Versicherer darüber hinaus die Kosten für Gemeinschaftsklagen oder sonstige gemeinschaftliche Formen außergerichtlicher und gerichtlicher Interessenswahrnehmungen durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter."

Der Kläger hatte bei einem Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Kurzbezeichnung A*****) 20.211,15 EUR investiert. Infolge Insolvenz des Unternehmens wurde er - wie viele andere Anleger auch - geschädigt. Er begehrt mit seinen Haupt- und Eventualbegehren im Wesentlichen Rechtsschutzdeckung bei freier Anwaltswahl für die gerichtliche Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen (unter anderem auch gegen die Republik Österreich, der er Versäumnisse der Finanzmarktaufsicht vorwirft) und die Feststellung, dass die Vereinbarung der Beschränkung der freien Anwaltswahl in Artikel 6.7.3. ARB 1998 rechtsunwirksam sei. Diese Bestimmung der ARB 1998 schränke das in Artikel 4 der Richtlinie 87/344/EWG (Rechtsschutzversicherungs- Richtlinie) postulierte und durch § 158k VersVG in Österreich umgesetzte Recht des Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl unzulässig ein und sei daher unbeachtlich.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung. Der Fall A***** sei ein klassischer Massenschaden. Massenschäden seien bei Einführung der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie vom 22. 6. 1987 und des die Richtlinie umsetzenden § 158k VersVG größtenteils unbekannt gewesen, nicht bedacht und nicht geregelt worden. Artikel 6.7.3. ARB 1998 verstoße daher nicht gegen die Richtlinie und § 158k VersVG, zumal die beanstandete Klausel wegen der Kosteneinsparung im Interesse der Versicherungsnehmer geboten sei und den Versicherungsnehmern Vorteile bringe.

Das Berufungsgericht bestätigte die dem Hauptbegehren stattgebende Entscheidung des Erstgerichts. Die Verweigerung der Rechtsschutzdeckung bei freier Anwaltswahl für die vom Kläger angestrebten Gerichtsverfahren unter Berufung auf die „Massenschadensklausel" des Artikel 6.7.3. ARB 1998 verstoße gegen § 158k VersVG.

Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 12. 3. 2008 zu 7 Ob 26/08m im Deckungsprozess eines anderen durch A***** geschädigten Anlegers gegen denselben Rechtsschutzversicherer dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Artikel 234 EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1.) Ist Artikel 4 (1) der Richtlinie 87/344/EWG des Rates zur Koordination der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung vom 22. 6. 1987 dahin auszulegen, dass ihm eine in Allgemeinen Versicherungsbedingungen eines Rechtsschutzversicherers enthaltene Klausel, die den Versicherer in Versicherungsfällen, in denen eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis (etwa die Insolvenz eines Wertpapierdienstleistungsunternehmens) geschädigt wird, zur Auswahl eines Rechtsvertreters berechtigt und damit das Recht des einzelnen Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl beschränkt (sogenannte 'Massenschadensklausel'), widerspricht?

2.) Im Fall der Verneinung von Frage 1.): Unter welchen Voraussetzungen liegt ein 'Massenschaden' vor, der es im Sinn (bzw in Ergänzung) der genannten Richtlinie gestattet, dem Versicherer anstelle des Versicherungsnehmers das Recht der Auswahl des rechtsfreundlichen Vertreters einzuräumen?"

und das dortige Verfahren bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Die zu 7 Ob 26/08m gestellte Vorlagefrage ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch für den hier zu beurteilenden (Parallel-)Fall maßgeblich. Das Berufungsgericht hat Anträge der Beklagten auf Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs und Unterbrechung des Verfahrens bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung in der Rechtssache 7 Ob 26/08m mit der Begründung zurück- bzw abgewiesen, es liege kein europarechtlicher Bezug vor, da mit § 158k VersVG ein höherer Schutz der freien Anwaltswahl geschaffen worden sei, als es die Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie vorgesehen habe. Diese Behauptung ist unrichtig. Sie wird schon durch die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 641 BlgNR 18. GP, 4 ff) widerlegt, in denen ausgeführt wird, dass der - sodann Gesetz gewordene - Entwurf sich im Wesentlichen (nur) auf dasjenige beschränke, wozu der EWR-Vertrag Österreich verpflichte. § 158k Abs 1 VersVG enthalte den in Artikel 4 der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie vorgegebenen Grundsatz der freien Wahl des Rechtsvertreters. Der Richtlinie entsprechend unterscheide die Bestimmung zwischen zwei Fällen. Zum einen sei (gemäß Art 4 Abs 1 lit a der Richtlinie) die freie Wahlmöglichkeit dann gegeben, wenn der Versicherungsnehmer Anspruch auf Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren habe, zum anderen habe der Versicherte (gemäß Art 4 Abs 1 lit b der Richtlinie) bei Eintritt einer Interessenkollision die Wahlmöglichkeit generell, also nicht nur für die Vertretung in einem Verfahren. Bei Eintritt einer Interessenkollision solle also etwa auch im Bereich des Beratungsrechtsschutzes (der - neben anderen Sparten - gemäß Art 10 Z 2 der ARB 1988 derzeit von der freien Anwaltswahl ausgenommen sei) die Wahlmöglichkeit gegeben sein. Im Absatz 2 sei die Möglichkeit vorgesehen, das Wahlrecht im Versicherungsvertrag für den Bereich der Vertretung in einem Verfahren örtlich zu begrenzen (vgl Art 10 Z 1 ARB 1988). Diese Gestaltungsmöglichkeit solle den Vertragsparteien erhalten bleiben, da eine solche Begrenzung kostensparend (zB kein doppelter Einheitssatz im Gerichtsverfahren) und sohin auch prämiensenkend wirken könne. Davon, dass ein höherer Schutz der freien Anwaltswahl gegenüber dem in der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie vorgegebenen beabsichtigt gewesen sei, wie das Berufungsgericht unterstellt, kann demnach keine Rede sein. Seine Rechtsansicht, es liege kein europarechtlicher Bezug vor, wird übrigens vom Berufungsgericht selbst dadurch relativiert, dass es sich ausführlich (über viele Seiten lang) mit der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie und deren Zielen auseinandersetzt.

Da bei der Interpretation des § 158k VersVG einer Richtlinienauslegung der Vorrang vor anderen innerstaatlichen Auslegungsregeln einzuräumen ist (vgl Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, JBl 2008, 158 [170]), ist es (wie schon in den Parallel-Verfahren 7 Ob 30/08z, 7 Ob 70/08g, 7 Ob 91/08w, 7 Ob 145/08m und 7 Ob 151/08v) zweckmäßig und geboten, mit der Entscheidung bis zu jener des Europäischen Gerichtshofs über das gestellte Vorabentscheidungsersuchen zuzuwarten und das Verfahren zu unterbrechen. Dies ist prozessökonomisch sinnvoll, weil der Oberste Gerichtshof auch in Rechtssachen, in denen er nicht unmittelbar Anlassfallgericht ist, von einer allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs auszugehen und diese auch für andere als die unmittelbaren Anlassfälle anzuwenden hat (RIS-Justiz RS0110583).

Textnummer

E90867

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0070OB00068.09I.0429.000

Im RIS seit

29.05.2009

Zuletzt aktualisiert am

21.01.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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