Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, durch die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Mag. Michaela Haydter (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ali-Irfan G*****, vertreten durch Rechtsanwälte Ganzert, Ganzert & Partner OEG in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Jänner 2009, GZ 11 Rs 6/09w-57, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. Dezember 2008, GZ 18 Cgs 198/07i-53, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger hat die Kosten seiner Revision selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 10. 9. 2007 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 1. 7. 2007 ab.
Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 8. 2007 zu gewähren. Mit Urteil eines türkischen Zivilgerichts vom 9. 7. 2002 sei sein Geburtsdatum vom 5. 7. 1952 auf 5. 7. 1950 richtig gestellt worden. Er habe von 1987 bis 2003 durchgehend in einem Unternehmen als Gießer gearbeitet.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Gemäß § 358 Abs 3 ASVG sei das Geburtsdatum 5. 7. 1952 maßgeblich.
Es ist unstrittig, dass
- der Kläger unter Annahme des Geburtsdatums 5. 7. 1950 alle sonstigen Voraussetzungen für eine Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG zum Stichtag 1. 8. 2007 erfüllt und
- unter Annahme des Geburtsdatums 5. 7. 1952 ein Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension nach § 255 Abs 3 ASVG nicht besteht.
Das Erstgericht stellte mit Urteil (dem Grunde nach) fest, dass der Anspruch des Klägers auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. 8. 2007 zu Recht bestehe. Es verpflichtete die beklagte Partei zu einer vorläufigen Zahlung in Höhe von monatlich 500 EUR. Es traf folgende Feststellungen:
Der Kläger ist am 5. 7. 1950 geboren. Im Zuge seiner erstmaligen Arbeitsaufnahme in Österreich wurde er von seinem Arbeitgeber bei der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse mit dem Geburtsdatum 5. 7. 1952 angemeldet. Ein Personaldokument mit diesem Geburtsdatum wurde zu diesem Zeitpunkt vorgelegt. 1992 wurde der Kläger mit einem Formularvordruck im Zuge der generellen Erfassung von Versicherungszeiten vor dem 1. 1. 1972 ersucht, seine Vordienstzeiten in der Türkei bekannt zu geben. Dieser Vordruck wurde vom Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungen an den Arbeitgeber versandt. Die Sozialversicherungsnummer war auf der ersten Seite bereits vorgedruckt. Die zweite Seite enthält die Rubrik „weitere persönliche Daten", unter der das Geburtsdatum 5. 7. 1952 handschriftlich - nicht vom Kläger - ausgefüllt ist. Der Kläger hat dieses Formular am 9. 6. 1992 unterfertigt. Soweit der Kläger Rehabilitationsanträge stellte, wurden die Formulare jeweils bei der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse entsprechend dem dort registrierten Geburtsdatum des Klägers ausgefüllt. Im Antrag vom 9. 5. 2003 auf Gewährung einer Versehrtenrente gab der Kläger kein Geburtsdatum an. Am Antrag findet sich lediglich eine - fehlerhafte - Sozialversicherungsnummer. Bei seinem ersten Pensionsantrag vom 2. 12. 2003, der bei einem Sprechtag aufgenommen wurde, wies der Kläger auf sein durch das türkische Gericht berichtigte Geburtsdatum hin. Er legte seine Geburtsurkunde vom 3. 12. 2003 vor. Unter den Personaldaten wurde das Geburtsdatum 5. 7. 1950 festgehalten.
In seiner rechtlichen Beurteilung gelangte das Erstgericht nach Vergleich des § 358 Abs 3 ASVG mit § 33a dSGB I und einer Wortinterpretation zu dem Ergebnis, dass „Erstangabe" nicht die Angabe gegenüber irgendeinem Versicherungsträger bedeute, sondern gegenüber dem Sozialversicherungsträger, von dem aktuell eine altersabhängige Leistung begehrt werde bzw das Alter festzustellen sei. Diese Auslegung werde auch dem Normzweck, einer missbräuchlichen Inanspruchnahme von Leistungen vorzubeugen, gerecht. Schon in seinem ersten Antrag an die beklagte Partei habe der Kläger das berichtigte Geburtsdatum mit 5. 7. 1950 bekannt gegeben. Dass er im Zusammenhang mit der Erhebung von Versicherungszeiten im Jahr 1992 das Geburtsdatum 5. 7. 1952 angegeben habe, widerspreche dem nicht, habe doch dieses Datum den damaligen korrekten Personenstanddaten entsprochen. Diese Angaben seien in keinem Zusammenhang mit einem Leistungsantrag, geschweige denn im Zusammenhang mit der Geltendmachung einer altersabhängigen Leistung gestanden. Es sei daher bei der Prüfung der Invaliditätspension vom Geburtsdatum 5. 7. 1950 auszugehen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte die angefochtene Entscheidung im klageabweisenden Sinn ab. Die vom Erstgericht getroffene Feststellung des Geburtsdatums mit 5. 7. 1950 könne sich nicht auf eine unbedenkliche Anwendung der Beweislastregel des § 358 Abs 2 ASVG gründen. Es sei auf die erste Angabe des Geburtsdatums gegenüber „einem" Sozialversicherungsträger abzustellen. Hiefür sprächen die Gesetzesmaterialien und die Erwägung, dass nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers möglichst früh eine „erste Angabe" des Versicherten fixiert werden solle. Der Normzweck könne umso besser erreicht werden, je früher eine vom Versicherten selbst abgegebene Nennung eines Geburtsdatums als fixiert gelten solle. Der Kläger habe schon 1992 ein Formular zur Erfassung von Versicherungszeiten vor dem 1. 1. 1972, in der sein Geburtsdatum mit 5. 7. 1952 erfasst gewesen sei, unterschrieben. Bei diesem Vorgang handle es sich um die von § 358 Abs 3 ASVG genannte Erstangabe eines Geburtsdatums gegenüber einem Versicherungsträger. Es könne daher dahingestellt bleiben, welchem Versicherungsträger gegenüber dieser Formularabdruck abgegeben worden sei, obgleich die damit beabsichtigte Erfassung von Versicherungszeiten einen - auch in diesem Verfahren relevanten - pensionsversicherungsrechtlichen Aspekt betreffe. Da die maßgebliche Erstangabe des Klägers bereits 1992 erfolgt sei, komme dem späteren Urteil des türkischen Zivilgerichts keine rechtliche Bedeutung mehr zu. Das durch die Erstangabe fixierte Geburtsdatum könne nur noch (sehr) eingeschränkt - entweder durch die Geltendmachung eines offenkundigen Schreibfehlers oder durch eine der Erstangabe zeitlich vorangehende Urkunde - widerlegt werden. Beides sei hier nicht der Fall gewesen. Dementgegen habe das Erstgericht dem Urteil des türkischen Zivilgerichts zu Unrecht maßgebliche Bedeutung beigemessen und seine Feststellung des Geburtsdatums 5. 7. 1950 darauf gestützt. Das Berufungsgericht treffe daher die Feststellung, dass der Kläger am 5. 7. 1952 geboren sei. Der Kläger erfülle deshalb nicht die Voraussetzungen des § 255 Abs 4 ASVG. Aufgrund der unbestrittenen Verweisbarkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stehe ihm eine Invaliditätspension nach § 255 Abs 3 ASVG nicht zu.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob nur die erste Angabe gegenüber dem jeweiligen Sozialversicherungsträger, der die beanspruchte Leistung zu erbringen habe, relevant sei oder auf die erste Angabe gegenüber „einem" Sozialversicherungsträger abzustellen sei.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen das Berufungsurteil erhobene Revision des Klägers ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht stattzugeben.
Die Revision führt aus, zutreffend sei das Erstgericht zur Auffassung gelangt, dass die erste schriftliche Angabe des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger im Zusammenhang mit einer vom Lebensalter des Versicherten abhängigen Leistung maßgeblich sei.
Hiezu hat der Senat erwogen:
1. § 358 Abs 3 ASVG lautet:
„Für die Feststellung des Geburtsdatums des (der) Versicherten ist die erste schriftliche Angabe des (der) Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger heranzuziehen. Von dem zu ermittelten Geburtsdatum darf nur abgewichen werden, wenn der zuständige Versicherungsträger feststellt,
1. dass ein offensichtlicher Schreibfehler vorliegt oder
2. sich aus der Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der ersten Angabe des (der) Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt."
Bei dieser Regelung handelt es sich um eine gesetzliche Vermutung (Tatsachenvermutung). Sie ist als Regel über die Beweislast zu verstehen und gehört demselben Rechtsgebiet an wie die Normen, auf denen der zu beurteilende Anspruch beruht. Damit stellt diese Bestimmung eine Norm des materiellen Rechts dar, die auch von den Sozialgerichten anzuwenden ist (RIS-Justiz RS0117421).
Nach den Gesetzesmaterialien (RV 834 BlgNR 21. GP 19) soll diese Bestimmung jene Schwierigkeiten beseitigen, die im Zusammenhang mit der Änderung von Geburtsdaten ausländischer Staatsbürger aufgetreten sind. In Anlehnung an die seit 1. 1. 1998 in Deutschland geltende Regelung (§ 33a SGB I) soll daher für die Ermittlung des Geburtsdatums des Versicherten jenes Datum maßgeblich sein, das sich aus der ersten Angabe des Versicherten gegenüber einem Sozialversicherungsträger ergibt. Von dem so ermittelten Geburtsdatum darf nur abgewichen werden, wenn der zuständige Versicherungsträger feststellt, dass ein offensichtlicher Schreibfehler vorliegt, oder sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der ersten Angabe des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt.
Nach § 33a SGB I ist dann, wenn Rechte oder Pflichten davon abhängig sind, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, dasjenige Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialversicherungsträger oder, soweit es sich um eine Angabe im Rahmen des Dritten oder Sechsten Abschnitts des Vierten Buchs handelt, gegenüber dem Arbeitgeber ergibt. Von einem demnach maßgebenden Geburtsdatum darf nur abgewichen werden, wenn der zuständige Leistungsträger feststellt, dass 1. ein Schreibfehler vorliegt oder 2. sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der „ersten Angabe" ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt. Diese Regelung wurde damit begründet, dass die verwaltungsintensive Prüfung des Geburtsdatums vereinfacht und sichergestellt werden soll, dass die in verschiedenen ausländischen Rechtsordnungen vorgesehene Möglichkeit, das Geburtsdatum durch gerichtliche Entscheidung zu ändern, zur Vermeidung missbräuchlicher Inanspruchnahme von Sozialleistungen im deutschen Sozialrecht grundsätzlich keine Berücksichtigung finden soll. Der deutsche Gesetzgeber hat damit die unbedingte Anknüpfung an das „wahre" Geburtsdatum aufgegeben und für den Geltungsbereich des SGB das maßgebliche Geburtsdatum eigenständig definiert (vgl 10 ObS 200/03i mwN).
Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 10 ObS 200/03i die Frage unbeantwortet gelassen, ob nur die erste Angabe gegenüber dem jeweiligen Sozialversicherungsträger, der die beanspruchte Leistung zu erbringen hat, relevant oder auf die erste Angabe gegenüber „einem" Sozialversicherungsträger abzustellen ist. Für die erste Variante könnte die Wortfolge „gegenüber dem Versicherungsträger" sprechen. Diese Auslegung steht aber in einem Spannungsverhältnis zur Regelung, dass von dem so ermittelten Geburtsdatum nur abgewichen werden darf, wenn der „zuständige Versicherungsträger" feststellt ... . Dagegen sprechen aber gerade auch die Gesetzesmaterialien, der Wortlaut der Vorbildnorm § 33a SGB I („aus der ersten Angabe ... gegenüber einem Sozialversicherungsträger") und die Erwägung, dass entsprechend der Regelungsabsicht des Gesetzgebers möglichst früh eine „erste Angabe" des (der) Versicherten fixiert werden soll. Sowohl die an der Absicht des historischen Gesetzgebers als auch die am Zweck der Regelung orientierte Auslegung des § 358 Abs 3 ASVG ergibt somit, dass jedenfalls im hier zu beurteilenden Fall, in dem sich die „erste Angabe" des Versicherten auf die Feststellung von Pensionsversicherungszeiten durch den Hauptverband der Sozialversicherungsträger bezogen hat, das vom Kläger am 9. 6. 1992 unterfertigte Formular als relevante „erste Angabe" im Sinn des § 358 Abs 3 ASVG anzusehen ist.
Im Übrigen genügt es auf die zutreffende, vom Rechtsmittelwerber auch nicht angegriffene Begründung des Berufungsgerichts zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).
Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass weder verfassungsrechtliche noch gemeinschaftsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 358 Abs 3 ASVG bestehen (10 ObS 176/04m). Der Rechtsmittelwerber macht Bedenken dieser Art auch nicht geltend.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 2 lit b ASGG.
Textnummer
E90900European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00076.09P.0512.000Im RIS seit
11.06.2009Zuletzt aktualisiert am
24.04.2013