Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie die Hofräte und Hofrätinnen Hon.-Prof. Dr. Sailer, Dr. Lovrek, Dr. Jensik und Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Luna Mae R*****, über den Revisionsrekurs der Mutter Dr. Edgarda M*****, vertreten durch Dr. Gabriela Kaiser, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 18. Februar 2009, GZ 23 R 24/09s, 38/09z-S34, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Purkersdorf vom 2. Jänner 2009, GZ 1 P 66/08d-S15, und vom 30. Jänner 2009, GZ 1 P 66/08d-S26, teilweise abgeändert wurden, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:
„Der Antrag des Vaters, der Mutter als einstweilige Maßnahme die Obsorge für das gemeinsame Kind zu entziehen und an ihn zu übertragen, wird abgewiesen.
Der Mutter wird, als einstweilige Maßnahme bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den Obsorgeübertragungsantrag des Vaters, gestattet, das gemeinsame Kind für die Dauer der Chemotherapie der Mutter in die Obhut ihrer Schwester Dr. Antonella M*****, zu geben. Die vorläufigen Anordnungen der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben."
Text
Begründung:
Das Kind wurde am 22. September 2005 als uneheliche Tochter einer italienischen Staatsbürgerin geboren, die zu diesem Zeitpunkt mit dem österreichischen Vater in dessen Wohnung in Niederösterreich im gemeinsamen Haushalt lebte. Schon am 30. September 2005 anerkannte der Vater die Vaterschaft. Das Kind ist italienische Staatsangehörige.
Etwa dreizehn Monate nach der Geburt des Kindes verließ der Vater die Haushaltsgemeinschaft (Oktober 2006). Die Mutter lebt weiterhin mit dem Kind in der Wohnung des Vaters. In diesem Haus (zwei Stockwerke höher) wohnen auch die väterlichen Großeltern, welche mittlerweile in Pension sind. Der Vater wohnt in einer in der Nähe liegenden Gemeinde mit seiner nunmehrigen Lebensgefährtin und dem im August 2008 geborenen Halbbruder des Kindes.
Im Februar 2007 wurde bei der Mutter Leukämie diagnostiziert. Nach neunmonatiger Chemotherapie galt sie zunächst als geheilt. Ihre Blutwerte verbesserten sich jedoch nicht, im Mai 2008 wurde das Wiederauftreten der Erkrankung festgestellt.
Der Vater beantragte am 13. Juni 2008, ihm die Obsorge für das Kind zu übertragen, was vorweg als einstweilige Maßnahme bewilligt werden sollte. Die Mutter sei krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage, das Kind ausreichend zu betreuen, sie leide unter Schwächeanfällen, schaffe es nicht mehr, mit dem Kind die Wohnung zu verlassen, sei depressiv. Der Vater und seine Eltern, die das Kind auch in der Vergangenheit immer wieder betreut hätten, könnten und wollten die Betreuung übernehmen. Sie wären bereit, das Kind gegebenenfalls auch täglich zur Mutter ins Spital zu bringen. Die Mutter äußere immer wieder, das Kind zu ihrer Schwester nach Italien zu geben, wodurch es das gewohnte soziale Umfeld verlieren würde.
Die Mutter wendete ein, sie könne sich sehr wohl um das Kind kümmern. Der Vater unterstütze sie nicht, auf emotionaler Ebene dürfe man sich von ihm nichts erwarten. Sie habe Angst, dass der Vater das Kind nicht zu ihr ins Krankenhaus bringen würde, er habe dies sogar verweigert. Der Vater weigere sich, mehr Zeit mit dem Kind zu verbringen und lasse es durch dritte Personen, etwa seine Lebensgefährtin, betreuen. Die Mutter habe nicht vor, das Kind auf Dauer nach Italien zu schicken.
Aufgrund des Berichts des Jugendamts, das keine Gefährdung des Kindes und auch keine Pflege- und Betreuungsmängel feststellen konnte, wies das Erstgericht den Antrag des Vaters auf vorläufige Obsorgeübertragung ab.
Am 28. Oktober 2008 erklärte der Vater, ungeachtet weiter bestehender Bedenken vor allem bezüglich einer Übersiedlung des Kindes nach Italien, das Obsorgeverfahren nicht fortsetzen zu wollen, was vom Erstgericht als Antragszurückziehung gewertet wurde. Für den Fall der Zurückziehung des Antrags hatten die Eltern einen Vergleich über das Besuchsrecht des Vaters (vierzehntägig von Freitag 9:30 Uhr bis Sonntag 19:00 Uhr) geschlossen.
Am 2. Jänner 2009 sprach der Vater bei Gericht vor und teilte mit, die Mutter befinde sich aufgrund einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands im Spital. Im Moment kümmerten sich die Verwandten aus Italien um das Kind, er fürchte jedoch, dass das Kind nach Italien verbracht werde.
Das Kind wurde bereits in der Vergangenheit von den väterlichen Großeltern betreut. Der Vater übt regelmäßig sein Besuchsrecht zu den Wochenenden aus. Das Kind ist der Schwester der Mutter sehr zugetan, sieht sie aber lediglich ein bis zweimal jährlich. Das Kind spricht fließend italienisch. Die Mutter fühlt sich durch das Verhalten des Vaters sehr gekränkt. Es ist ihr nicht möglich, mit dem Vater Kontakt zu haben, ohne dass es sie psychisch stark belastet. Bei starken Aufregungen verschlechtern sich ihre Blutwerte. Sie ist derzeit nicht in der Lage, ohne Hilfe Dritter sich und das Kind zu versorgen. Das Erstgericht entzog daraufhin mit seinem Beschluss vom 2. Jänner 2009 der Mutter die Obsorge für das Kind (zur Gänze) einstweilig (bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die endgültige Obsorgeübertragung) und übertrug sie dem Vater. Dadurch sei gewährleistet, dass das Kind vorerst in seinem gewohnten Umfeld verbleiben könne. Zudem sei die Mutter nicht in der Lage, sich ohne Gefahr eines Nachteils für das Kind um dieses zu kümmern. Sowohl der Vater als auch dessen Eltern, die zwei Stockwerke über der Mutter und dem Kind wohnten, bemühten sich, die Mutter in ihrer schweren Situation zu unterstützen, indem sie das Kind zu sich nahmen, wenn die Mutter Hilfe brauchte. Dadurch habe das Kind sowohl zum Vater als auch zu den väterlichen Großeltern eine tragfähige Beziehung. Das Spital habe mitgeteilt, dass die Mutter „in den nächsten Wochen" nicht in der Lage sein werde, sich um das Kind zu kümmern und es zu versorgen.
Nach Spitalsentlassung der Mutter am 15. Jänner 2009 brachte sie vor, eine Gefährdung des Kindes habe niemals vorgelegen, weil sie dafür gesorgt habe, dass es von ihrer Schwester betreut werde. Sie habe ihre Verpflichtungen aus der Obsorge nicht verletzt. Ihre Schwester sei aus Sizilien angereist und wohne bei ihr in der Wohnung. Es sei noch offen, wann sie zurückreisen werde. Ihr sei ein Blutgerinnsel operativ entfernt worden, die Chancen einer Chemotherapie hätten sich nur geringfügig verschlechtert. Es müsse bloß zugewartet werden. Sie habe sich noch nicht entschieden, ob und wo sie sich behandeln lassen werde. Sie überlege auch, in ein Krankenhaus nach Verona zu gehen, an dem ihr Onkel in führender Position als Arzt tätig gewesen sei. Sie wolle auf jeden Fall ihre Tochter erziehen und kämpfe dafür. Sie versuche, ihre Chancen zu optimieren. Wenn man ihr ihre Tochter wegnähme, dann könne sie so nicht weiterleben.
Das Erstgericht verkündete noch am 15. Jänner 2009 den Beschluss, wonach die Obsorge in den Teilbereichen der Pflege und Erziehung mit der Auflage auf die Mutter rückübertragen werde, dass sie verpflichtet sei, im Fall einer Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands, aufgrund welcher sie nicht in der Lage sei, sich selbst um das Kind zu kümmern, den Vater oder die väterlichen Großeltern zur Übernahme des Kindes in Pflege und Erziehung aufzufordern. Nur in dem Fall, dass diese verhindert sein sollten, sei die Mutter berechtigt, dritte Personen mit der Pflege des Kindes zu beauftragen. Weiters untersagte das Erstgericht der Mutter, den Aufenthalt des Kindes aus Österreich zu verlegen. Der Vater brachte unter Hinweis auf die Betreuungssituation wegen verstörender Äußerungen der Mutter und seiner Befürchtung, das Kind könnte nach Italien gebracht und er im Ergebnis vor vollendete Tatsachen gestellt werden, neuerlich den Antrag ein, ihm die Obsorge zu übertragen. Dem Kind ginge es seiner Ansicht nach bei ihm besser. Die Mutter beantragte, ihr - in Abänderung der mit Beschluss vom 15. Jänner 2009 erteilten Auflage - zu gestatten, ihre Tochter für die Dauer der Chemotherapie nach Italien in die Obhut ihrer Schwester zu geben. Ihr Gesundheitszustand habe sich durch die Ereignisse im Verfahren plötzlich dramatisch verschlechtert. Sollte sie sich keiner Chemotherapie unterziehen, hätte sie nur mehr ein Monat zu leben. Wenn sie sich einer Therapie unterziehe, was vorerst einen Spitalsaufenthalt von fünf Wochen erforderte, hätte sie eine Überlebenschance von etwa 50 %. Es sei ihr aber unmöglich, sich einer derartig belastenden Therapie zu unterziehen, wenn sie ihre Tochter für diese Zeit nicht in der für sie bestmöglichen Betreuung wisse. Sie hänge sehr an ihr und sei es für sie sehr schwierig, länger von ihr getrennt zu sein. Ihre Schwester sei nach ihrem Dafürhalten geeignet, der Tochter in dieser schweren Zeit beizustehen. Sie würde in der Familie der Schwester Geborgenheit, Sicherheit, Stabilität und Betreuung erfahren. Die Therapie habe nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie sich keine Sorgen um die Tochter machen müsse. Sie lasse sich nur behandeln, wenn sichergestellt sei, dass das Kind zu ihrer Schwester komme.
Mit Beschluss vom 30. Jänner 2009 fertigte das Erstgericht den am 15. Jänner 2009 mündlich verkündeten Beschluss schriftlich aus und erkannte der einstweiligen Übertragung der Obsorge in den Teilbereichen der gesetzlichen Vertretung und Vermögensverwaltung an den Vater gemäß § 44 AußStrG vorläufige Verbindlichkeit zu und wies den Antrag der Mutter vom 22. Jänner 2009 ab.
Die anlässlich der Rückübertragung der Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung erteilten Auflagen begründete das Erstgericht damit, dass dem Kind für den Fall längerer Krankenhausaufenthalte der Mutter der Verbleib in seinem gewohnten sozialen Umfeld gesichert werden müsse. Die Betreuung im Haushalt des Vaters sei daher gegenüber der Betreuung durch die Tante vorzuziehen. Angesichts der Tatsache, dass die Mutter es strikt ablehne, dem Vater das Kind zur Betreuung zu übergeben, sondern es vorziehe, dass es von der Tante nach Italien verbracht werde, sei der darauf abzielende Antrag der Mutter abzuweisen. Es erscheine nicht im Kindeswohl gelegen, die Minderjährige aus ihrem gewohnten Umfeld herauszureißen und in ein ihr wohl bekanntes, aber vom Lebensalltag her doch fremdes Land zu verbringen. So wäre das Kind einerseits mit einer sicherlich schmerzlichen Trennung von der Mutter konfrontiert gleichzeitig würde es aber auch noch seinen äußeren Bezugsrahmen, die ihm doch vertrauten Großeltern und den Vater verlieren und wäre somit im doppelten Maße mit ungewohnten Situationen konfrontiert. Aus dieser Sicht sei auch der Mutter die Beschränkung aufzuerlegen, den Aufenthalt des Kindes nicht aus Österreich zu verlegen. Der Vater habe erklärt, für die Minderjährige die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Um dies zu ermöglichen, sei dem Beschluss, soweit es die Obsorge in den Teilbereichen gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung betreffe, die vorläufige Verbindlichkeit zuzuerkennen.
Das Rekursgericht änderte die einstweilige Obsorgeregelung über Rekurs der Mutter dahin ab, dass der hauptsächliche Aufenthalt des Kindes bis auf weiteres der Haushalt der Mutter in Niederösterreich sei; sofern die Mutter krankheitsbedingt die Pflege und Erziehung, insbesondere die Betreuung des Kindes während der Nachtstunden, nicht selbst vornehmen könne, könne sie das Kind dort durch die Schwester der Mutter pflegen lassen, sofern diese dort anwesend sei. Sollte die Schwester an der Ausübung der Pflege gehindert oder dazu nicht bereit sein, habe die Mutter den Vater, subsidiär die väterlichen Großeltern zur Übernahme der Pflege aufzufordern. Übernehmen der Vater oder die väterlichen Großeltern die Pflege, seien sie - vorbehaltlich anderer Wünsche der Mutter - verpflichtet, dem Kind Besuche bei seiner Mutter im Krankenhaus im Abstand von höchstens 72 Stunden zu ermöglichen. Nur für den Fall, dass Vater und Großeltern verhindert sein sollten oder die Pflege ablehnen, sei die Mutter berechtigt, andere Personen mit der Pflege zu beauftragen, wobei es der Mutter untersagt werde, den Aufenthalt des Kindes außerhalb des gewohnten sozialen Umfelds, insbesondere außerhalb Österreichs zu bestimmen. Der Kontakt des Kindes zu seinem Vater werde - für den Fall, dass er oder die Großeltern das Kind nicht selbst betreuen - dahingehend geregelt, dass er berechtigt und verpflichtet sei, das Kind an jedem Freitag einer ungeraden Kalenderwoche um 9:30 Uhr von der Wohnung der Mutter abzuholen und bis zum darauffolgenden Sonntag 19:00 Uhr bei sich zu haben. Der Vater sei verpflichtet, das Kind im gesamten Zeitraum (allenfalls in Anwesenheit dritter Personen) selbst zu betreuen. Den Antrag der Mutter vom 22. Jänner 2009, ihr zu gestatten, das Kind für die Dauer der Chemotherapie nach Italien in die Obhut ihrer Schwester zu geben, wies das Rekursgericht ab. Alle übrigen Anordnungen des Erstgerichts hob es auf. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil im weiteren Verfahren die Beurteilung des Umfangs der Betrauung mit der elterlichen Gewalt kraft Gesetzes von erheblicher Bedeutung sei und überdies mit der amtswegigen Regelung des Kontakts zwischen nicht hauptsächlich betreuendem Elternteil und dem Kind, gestützt auf § 176 ABGB, ein neuer Rechtsprechungsweg beschritten worden sei.
Für die Beurteilung, wer Träger der Obsorge sei, sei italienisches Recht maßgeblich. Die elterliche Gewalt gebühre beiden Eltern, die das Kind anerkannt haben und zusammenleben. Lebten die natürlichen Eltern nicht zusammen, so gebühre die elterliche Gewalt demjenigen, mit dem das Kind zusammenlebe. Der Richter könne ausschließlich im Interesse des Kindes eine andere Anordnung treffen. Er könne auch beide Eltern von der elterlichen Gewalt ausschließen und einen Vormund bestellen. Bis zum Zeitpunkt der Haushaltstrennung seien beide Elternteile mit der Obsorge betraut gewesen. Auch für den Fall der Auflösung der Lebensgemeinschaft von Eltern, denen beiden die elterliche Gewalt gebühre, sei vom Fortbestehen dieser Rechtslage bis zu einer entsprechenden Regelung trotz faktischer Trennung auszugehen. Selbst im Fall des Weiterbestehens der elterlichen Gewalt beider Eltern könnten diese die elterliche Gewalt erst nach Maßnahmen im Sinn des Art 155 des italienischen Zivilgesetzbuches ausüben. Die gemäß Art 3 des Minderjährigenschutzübereinkommens anzuerkennende elterliche Gewalt als solche gebe den Eltern noch keine Befugnis zu ihrer tatsächlichen Ausübung. Der Aufenthaltsstaat könne daher alle nach seinem Recht erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Ginge man dagegen von einer der Mutter allein zustehenden elterlichen Gewalt aus, wäre eine Vormundbestellung nach italienischem Recht nur zulässig, wenn beide Elternteile an der Ausübung der elterlichen Gewalt gehindert seien. Unaufschiebbare dringend notwendige Maßnahmen der Vermögensverwaltung oder gesetzlichen Vertretung lägen nicht vor. Die italienische Staatsbürgerschaft gefährde das Kindeswohl keinesfalls. In diesen Teilbereichen der Obsorge sei daher keine einstweilige Regelung nach § 107 Abs 2 AußStrG erforderlich. Sowohl das italienische Recht, das eine Vormundbestellung nur kenne, wenn beide Eltern verstorben seien oder beide die elterliche Gewalt nicht ausüben könnten und den anderen Elternteil allein zur Ausübung der elterlichen Gewalt berufe, als auch das österreichische Recht, normierten den Vorrang des anderen leiblichen Elternteils vor allen anderen Personen. Dass der Vater zur Ausübung der Obsorge nicht geeignet sei, könne nach den bisherigen Verfahrensergebnissen nicht festgestellt werden. Zur abschließenden Beurteilung der Vorwürfe der Mutter gegen den Vater betreffend seine mangelnde Eignung zur Ausübung der Obsorge bedürfe es umfangreicher weiterer Beweisaufnahmen, welche derzeit infolge gegebener Dringlichkeit der Angelegenheit nicht möglich seien. Dem Wohl des Kindes entspreche es am besten, wenn ihm sein bisher gewohntes soziales Umfeld erhalten bleibe. Es könne kein Zweifel bestehen, dass die weitere Betreuung des Kindes primär durch die Mutter diesem Ziel am besten entspreche. Allerdings berechtige dieser Umstand die Mutter nicht, über die gesetzlichen Vorgaben hinweg ihre Mitarbeit an diesem Ziel davon abhängig zu machen, dass das Kind in Betreuung ihrer vom Gesetz subsidiär dazu berufenen Schwester übergeben werde. Zum sozialen Gefüge des Kindes gehöre der Vater, zu dem es ebenso wie zu den väterlichen Großeltern eine tragfähige Beziehung habe. Für den mit der Erfüllung der primären Pflicht der Mutter gegenüber dem Kind, alles in ihrer Macht stehende zu tun, dem Kind die wichtigste Bezugsperson zu erhalten, notwendigerweise verbundenen Fall der vorübergehenden Verhinderung der Eigenpflege durch die Mutter müsse durch die gerichtliche Regelung der Betreuung Vorsorge getroffen werden. Dem Kind müssten weitere Besuche bei der Mutter ermöglicht werden. Sofern es der Gesundheitszustand der Mutter erlaube, sei dem Vater und den väterlichen Großeltern die Verpflichtung aufzuerlegen gewesen, Kontakte des Kindes zur Mutter im Krankenhaus im zumindest dreitägigen Abstand zu ermöglichen. Damit dem Kind die tragfähige Beziehung zum Vater nicht verloren gehe, müsse der Mutter aufgetragen werden, den Aufenthalt des Kindes nicht außerhalb des gewohnten sozialen Umfelds, jedenfalls aber nicht außerhalb Österreichs zu bestimmen. Die Abwendung einer Gefährdung für das Wohl des Kindes verlange unter den gegebenen Umständen die Aufrechterhaltung der Kontakte zwischen Vater und Kind, weshalb die ursprünglich von den Eltern vereinbarte Kontaktregelung in die vorläufige Regelung der Ausübung der Obsorge aufzunehmen sei. Das Wohl des Kindes verlange einen vorläufigen Eingriff in die Obsorge der Mutter, um dem Kind einerseits sein soziales Umfeld zu erhalten und ihm andererseits die Aufrechterhaltung seiner Kontakte zu Mutter und Vater zu sichern.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie die Beseitigung sämtlicher (vorläufigen) Eingriffe in ihre elterlichen Rechte anstrebt, ist zulässig und berechtigt.
Zur von der Mutter zunächst geltend gemachten Nichtigkeit wegen Verletzung ihres rechtlichen Gehörs ist darauf zu verweisen, dass der angefochtene Beschluss in einem Provisorialverfahren zur einstweiligen Regelung der Obsorgefrage ergangen ist. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass Art 6 MRK auf einstweilige Verfügungen keine Anwendung findet (RIS-Justiz RS0074799), weil das Sicherungsverfahren grundsätzlich von der Erlassung provisorischer Maßnahmen auch aufgrund bloß einseitigen Parteivorbringens ausgeht. Der Gegner der gefährdeten Partei hat keinen verfahrensrechtlichen Anspruch, vor der Entscheidung über den Sicherungsantrag gehört zu werden (zu einer vorläufigen Obsorgeentscheidung: 6 Ob 160/06g mwN). Die Ausführungen des Revisionsrekurses über die angebliche Nichtigkeit des Verfahrens gehen daher ins Leere.
Sowohl die Wirkungen der Unehelichkeit eines Kindes (§ 25 Abs 2 IPRG) als auch dessen Obsorge (§ 27 Abs 1 IPRG) sind nach dem Personalstatut des Kindes zu beurteilen. Gemäß Art 3 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (MSA, BGBl 1975/446) ist ein Gewaltverhältnis, das nach dem innerstaatlichen Recht des Staats, dem der Minderjährige angehört, kraft Gesetzes besteht, in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. So ist die kraft Gesetzes bestehende elterliche Obsorge nach den Sachnormen des Heimatrechts des Kindes zu beurteilen (6 Ob 30/08t mwN). Da hier die (vorläufige) Obsorgeregelung für ein italienisches Kind zu beurteilen ist, ist die Frage nach der bestehenden Obsorgeregelung nach italienischem Recht zu beurteilen. Nach Art 316 Abs 2 codice civile (c.c.) wird die elterliche Gewalt von beiden Elternteilen im gegenseitigen Einvernehmen ausgeübt. Gemäß Art 317 bis c.c. steht dem Elternteil, der ein nichteheliches Kind anerkannt hat, die elterliche Gewalt über dieses zu. Zufolge Art 261 c.c. bewirkt die Anerkennung für den Elternteil die Übernahme aller Pflichten und aller Rechte, die jener gegenüber ehelichen Kindern hat (Art 147, 148, 317 bis 324 c. c.). Leben die Eltern nicht zusammen, so steht die Ausübung der elterlichen Gewalt dem Elternteil zu, bei dem das Kind lebt (3 Ob 89/05t).
Ob die gemeinsame elterliche Gewalt, die durch Anerkennung und Aufnahme in den gemeinsamen Haushalt der Eltern entsteht, auch über den Zeitpunkt der Auflösung des gemeinsamen Haushalts der Eltern hinaus fortdauert oder nicht, woraus ein Fortbestehen der gemeinsamen elterlichen Gewalt oder aber das Entstehen (oder die Reduktion auf) der alleinigen elterlichen Gewalt der Mutter im vorliegenden Fall gegründet werden könnte, braucht hier nicht weiter untersucht zu werden. Gegenstand des Verfahrens ist die vorläufige Entziehung der mütterlichen Obsorge infolge deren Unfähigkeit, Pflege und Erziehung des Kindes fortdauernd zu gewährleisten. Diese sowie die Übertragung auf den Vater ist in ihren Voraussetzungen unabhängig davon, ob die Obsorge der Mutter aufgrund bestehender elterlicher Gewalt ihr alleine oder zusammen mit dem Vater zukommt.
Art 1 MSA sieht die Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts eines Minderjährigen für Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen vor. Die Behörden des Aufenthaltsstaats haben die nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen zu treffen; dieses Recht bestimmt die Voraussetzungen für die Anordnung, die Änderung und die Beendigung dieser Maßnahmen. Es regelt auch deren Wirkungen sowohl im Verhältnis zwischen dem Minderjährigen und den Personen oder den Einrichtungen, denen er anvertraut ist, als auch im Verhältnis zu Dritten (Art 2 MSA). Die Maßgeblichkeit eines Gewaltverhältnisses nach dem innerstaatlichen Recht des Staats, dem der Minderjährige angehört (Art 3 MSA) schließt nicht aus, dass die Behörden des Staats, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Maßnahmen zum Schutz des Minderjährigen treffen, soweit er in seiner Person oder in seinem Vermögen ernstlich gefährdet ist (Art 8 MSA). Aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in Österreich können daher Schutzmaßnahmen grundsätzlich nach österreichischem Recht getroffen werden (7 Ob 43/03d).
Ist hinsichtlich eines minderjährigen Kindes eine Entscheidung zu treffen, welchem Elternteil die Obsorge allein zustehen soll, so kann das Gericht nach ständiger Rechtsprechung dann, wenn besondere Umstände im Interesse des Kindes eine sofortige Entscheidung erfordern, auch vorläufige Maßnahmen anordnen (RIS-Justiz RS0007035). Voraussetzung einer solchen vorläufigen gerichtlichen Maßnahme als Provisorialentscheidung - bis zur endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB - ist dabei eine akute Gefährdung des Kindeswohls nach § 176 ABGB (7 Ob 43/03d mwN). Voraussetzung für eine vorläufige Maßnahme ist beispielsweise, dass die Belassung des Kindes in der bisherigen Umgebung eine solche konkrete Gefährdung für das Kind mit sich bringt, dass Sofortmaßnahmen in Form einer Änderung des bestehenden Zustands zwingend geboten erscheinen oder die Gefahr der Verbringung des Kindes ins Ausland vorliegt, wodurch unabänderlich eine nachteilige Erziehungssituation geschaffen würde; es muss aufgrund eines bestimmten Verhaltens der Eltern oder eines Elternteils, in dem die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung elterlicher Pflichten zu erblicken ist, zu befürchten sein, dass das Wohl des Kindes beeinträchtigt werden wird. In Ermangelung der Voraussetzungen für eine vorläufige Maßnahme bedeutet deren gleichwohl erfolgte Anordnung eine Verletzung des Kindeswohls (7 Ob 43/03d mwN). Eine derart konkrete Gefährdung des Kindeswohls kann im vorliegenden Fall aufgrund des bislang erhobenen Sachverhalts nicht erblickt werden. Eine Objektivierung eines Zustands gröblicher Vernachlässigung der Pflege und Erziehung des Kindes liegt nicht vor. Ungeachtet der wiederholt vorgetragenen Befürchtungen des Vaters konnte das Jugendamt bei einem unangekündigten Hausbesuch keine Mängel feststellen. Es ergibt sich vielmehr aus den bisherigen Geschehnissen, dass die Mutter für den Fall ihrer zeitweiligen Verhinderung, selbst Vorsorge getroffen hat, in dem sie etwa für die Pflege durch ihre Schwester Sorge trug. Ohne Hinzutreten besonderer Umstände bestehen im Allgemeinen keine Bedenken, wenn der Obsorgeberechtigte die Ausübung seiner Rechte und Pflichten zeitweilig auf andere Personen überträgt. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dadurch im Regelfall nicht gegeben (Betreuung im Kindergarten, Schule, durch Tagesmutter etc, sei es im privaten Bereich durch Verwandte, Freunde und Bekannte etc). Muss sich die Mutter daher - auch einer länger dauernden - Spitalsbehandlung unterziehen, so gefährdet es das Kindeswohl grundsätzlich nicht, wenn sie während dieser Zeit eine dem Kind vertraute Verwandte (ihre Schwester) mit der Pflege des Kindes betraut. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Schwester mit dem Kind für eine gewisse Zeit zu ihrer Familie nach Italien fährt, handelt es sich hiebei doch um das Heimatland der Mutter, dessen Sprache dem Kind geläufig ist. Die damit verbundene Änderung des Lebensumfelds ist a priori nicht so gravierend, dass ohne Hinzutreten besonderer - hier allerdings nicht erkennbarer - Umstände von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgegangen werden könnte. Es bestehen bislang keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter tatsächlich beabsichtigt, den Kontakt des Kindes zum Vater, allenfalls auch zu seinen Eltern, mit denen das Kind gleichfalls vertraut ist, auf Dauer zu unterbinden. Die zeitweilige räumliche Entfernung - etwa für einen mehrwöchigen Spitalsaufenthalt in Italien oder auch einen Erholungsurlaub bei der Familie in der Heimat - bietet für solche Befürchtungen keinen Anlass. Es kann keine Rede davon sein, dass die familiäre Umgebung in Italien grundsätzlich für das Kind schlechter wäre als die familiäre Umgebung in Österreich. Der Umstand, dass der Vater das Besuchsrecht nicht im bisherigen Ausmaß werde wahrnehmen können oder die Ausübung des Besuchsrechts für ihn mit größerem Aufwand verbunden wäre, wenn das Kind vorübergehend bei seiner Tante in Italien betreut wird, rechtfertigt die von den Vorinstanzen vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen nicht (vgl 1 Ob 274/00a), insbesondere nicht die Einschränkung der persönlichen Freizügigkeit (Art 2 4. ZPMRK). Mangels ausreichend konkreter Anhaltspunkte für eine akute Gefährdung des Kindeswohls bei Aufrechterhaltung der mütterlichen Obsorge sind die von den Vorinstanzen getroffenen vorläufigen Maßnahmen (teilweise Entziehung der Obsorge und Übertragung auf den Vater; die den väterlichen Großeltern sowie die der Mutter erteilten Auflagen ua) ersatzlos aufzuheben. Dem Antrag der Mutter, ihr die für die Dauer einer notwendigen Spitalsbehandlung geplante Übertragung des Kindes „in die Obhut ihrer Schwester in Italien" ist hingegen als vorläufige (und klarstellende) Maßnahme stattzugeben.
Anmerkung
E908373Ob74.09tSchlagworte
Kennung XPUBLDiese Entscheidung wurde veröffentlicht inZak 2009/383 S 253 - Zak 2009,253 = ZfRV-LS 2009/40 = AnwBl 2009,368= iFamZ 2009/185 S 281 - iFamZ 2009,281XPUBLENDEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0030OB00074.09T.0512.000Zuletzt aktualisiert am
01.10.2009