Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 26. Mai 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Böhm als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dimitrij M***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 10 U 74/08i des Bezirksgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen das (Abwesenheits-)Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 24. Juli 2008, GZ 10 U 74/08i-8, sowie die im Folgenden genannten Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen Dimitrij M***** wegen der Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB und der Entwendung nach §§ 15, 141 Abs 1 StGB, AZ 10 U 74/08i des Bezirksgerichts Innsbruck, verletzen das Gesetz
1./ die Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten, ohne diesen zuvor zu den Anklagevorwürfen förmlich im Sinn des § 164 StPO oder kontradiktorisch im Sinn des § 165 StPO vernommen zu haben, in § 427 Abs 1 erster Satz StPO;
2./ die Verlesung der Aussage des Zeugen Mirko B***** in der in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung in § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 Abs 5 StPO;
3./ das Fehlen des Ausspruchs, welcher Taten der Angeklagte schuldig erkannt worden ist, bei Wiedergabe des Urteilsspruchs im Hauptverhandlungsprotokoll in § 271 Abs 1 Z 7 StPO iVm §§ 260 Abs 1 Z 1 und 458 Abs 5 StPO;
4./ die Unterlassung der Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls spätestens zugleich mit der Urteilsausfertigung an die Beteiligten in § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 458 Abs 5 StPO;
5./ das Abwesenheitsurteil vom 24. Juli 2008 infolge eines Rechtsfehlers bei der Subsumtion der dem Schuldspruch I./ zu Grunde liegenden Tat vom 28. März 2008 in § 141 Abs 1 StGB. Das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 24. Juli 2008 und der Beschluss auf Widerruf der bedingten Entlassung vom selben Tag werden aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck verwiesen.
Text
Gründe:
In der Strafsache gegen Dimitrij M*****, AZ 10 U 74/08i des Bezirksgerichts Innsbruck, führte dieses am 24. Juli 2008 die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch, der trotz gehöriger, durch Hinterlegung erfolgter Ladung (ON 4 S 1) nicht erschienen war (ON 7).
Das Beweisverfahren erschöpfte sich in der Verlesung der Anzeigen ON 2 und ON 2 in ON 5, der „Strafkarte" ON 3 und des „wesentlichen Inhalts von 20 BE 495/07a LG Linz". Sodann wurde Dimitrij M***** mit Abwesenheitsurteil vom 24. Juli 2008 der Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB (I./) und der Entwendung nach §§ 15, 141 Abs 1 StGB (II./) schuldig erkannt und zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Die im Verfahren AZ 20 BE 495/07a des Landesgerichts Linz verfügte bedingte Entlassung des Dimitrij M***** aus mehreren Freiheitsstrafen (Strafrest drei Monate 19 Tage) wurde widerrufen (ON 7 S 2, ON 8).
Dem Schuldspruch zufolge versuchte Dimitrij M***** in Innsbruck - zusammengefasst - am 28. März 2008, Verfügungsberechtigten einer S*****-Filiale zwei Flaschen Whiskey im Wert von 45,98 Euro mit Bereicherungsvorsatz wegzunehmen (I./), und am 20. Mai 2008, Verfügungsberechtigten des Geschäfts M***** Sachen geringen Werts, nämlich eine Zahnpasta und Socken, aus Not zu entziehen (II./). Die Feststellungen stützte der Erstrichter auf die „Erhebungen der Polizei", den Schuldspruch II./ überdies auf das Geständnis des Angeklagten. Zum Schuldspruch I./ verwies der Bezirksrichter auf die „Beobachtungen" des in der Hauptverhandlung nicht vernommenen Detektivs und führte aus, dass in diesem Fall Entwendung nicht anzunehmen sei, weil „dieses Delikt nur an Waren geringen Wertes begangen werden kann, was aber hinsichtlich des Wertes der beiden Whiskey-Flaschen ... nicht mehr zutrifft" (US 4 f). Am oder vor dem 5. August 2008 verfügte der Bezirksrichter die Zustellung einer Ausfertigung des Abwesenheitsurteils samt Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten, nicht aber einer Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung (S 2 des Anordnungs- und Bewilligungsbogens), dem im Übrigen nicht zu entnehmen ist, welcher Taten der Angeklagte schuldig befunden wurde (ON 7 S 2).
Das Abwesenheitsurteil und der in der Ausfertigung des Urteils wiedergegebene Widerrufsbeschluss wurden dem Verurteilten am 11. August 2008 durch Hinterlegung zugestellt und erwuchsen mangels Anfechtung in Rechtskraft (ON 11).
Mit Beschluss vom 20. Oktober 2008 schob das Bezirksgericht Innsbruck über Antrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck, die darauf hinwies, dass der gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO erfolgte Widerruf gesetzwidrig ohne Anhörung des Angeklagten erfolgt sei, den Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe und der Reststrafe von drei Monaten und 19 Tagen aus der widerrufenen bedingten Entlassung auf.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Innsbruck sowie die im Folgenden genannten Vorgänge in den dazu führenden Verfahren mit dem Gesetz nicht im Einklang.
1./ Nach der - seit 1. Jänner 2008 infolge Entfalls des § 459 StPO durch BGBl I 2007/93 auch für das Verfahren vor den Bezirksgerichten geltenden - Regelung des § 427 Abs 1 StPO darf bei sonstiger Nichtigkeit die Hauptverhandlung in Abwesenheit eines Angeklagten nur dann durchgeführt und ein Urteil gefällt werden, wenn es sich bei der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat um ein Vergehen (§ 17 Abs 2 StGB) handelt, der Angeklagte zuvor schon „gemäß §§ 164 oder 165" StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt worden ist.
Ohne vorangegangene förmliche (von der bloßen Erkundigung im Sinn des § 152 StPO zu unterscheidender) Vernehmung als Beschuldigter, die entweder kontradiktorisch durch das Gericht (§ 165 StPO) oder unter Beachtung der Förmlichkeiten des § 164 StPO durch das Gericht, die Staatsanwaltschaft oder die Kriminalpolizei erfolgen kann, ist somit die Durchführung einer Hauptverhandlung und die Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten unzulässig.
Dimitrij M*****, der nicht kontradiktorisch vernommen wurde, ist nach der Aktenlage auch nicht entsprechend § 164 StPO befragt worden. Denn nach dieser Bestimmung ist vor Beginn der Vernehmung dem Beschuldigten nicht nur mitzuteilen, welcher Tat er verdächtig ist, sondern er ist auch über sein Recht auf Beiziehung eines Verteidigers zu der Vernehmung sowie über die ihm offenstehende Möglichkeit, nach vorangegangener Beratung mit einem Verteidiger eine Aussage zur Sache abzulegen oder eine solche zu verweigern, zu informieren. Weiters ist er zu belehren, dass seine Aussage seiner Verteidigung dienen, aber auch als Beweis gegen ihn Verwendung finden könne (§ 164 Abs 1 und Abs 2 StPO).
Unmittelbar nach Betretung des Dimitrij M***** wurde er unter Verwendung von offenbar amtsinternen Formblättern niederschriftlich, im Wesentlichen durch Ankreuzen vorgegebener, auf Vernehmungen nach Ladendiebstählen zugeschnittener Fragestellungen als Verdächtiger bzw als Beschuldigter vernommen (ON 2 S 13 und ON 2 in ON 5 S 11). Dabei wurde er weder über sein Recht, eine Aussage abzulegen oder eine solche zu verweigern oder sich zuvor mit einem Verteidiger zu beraten, aufgeklärt noch darauf aufmerksam gemacht, dass seine Aussage der Verteidigung dienen oder als Beweis gegen ihn verwendet werden könne. Weil aus dem Akteninhalt (dem im Übrigen auch nicht zu entnehmen ist, inwieweit Dimitrij M***** der deutschen Sprache mächtig ist; vgl § 56 Abs 1 StPO) auch sonst die Erteilung einer vollständigen Belehrung im Sinn des § 164 StPO nicht hervorgeht, war die Durchführung eines Verfahrens in seiner Abwesenheit und die Fällung des Urteils unzulässig.
2./ Nach der - gemäß § 458 Abs 5 StPO auch im bezirksgerichtlichen Verfahren geltenden - Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen unter anderem gerichtliche und sonstige amtliche Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten sind, bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz genannten Fällen verlesen werden (§ 252 Abs 1 Z 1 bis Z 4 StPO). Da im vorliegenden Fall keiner dieser Ausnahmetatbestände vorlag und aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung dessen Einverständnis im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden kann (Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103; 14 Os 39/06a, 14 Os 158/07b ua), war die Verlesung der in der Anzeige ON 2 enthaltenen Aussage des zur Hauptverhandlung nicht geladenen Zeugen Mirko Bl***** - dessen „Beobachtungen" im Abschlussbericht zusammenfassend wiedergegeben wurden und teilweise auf einer der Anzeige beigehefteten polizeilichen Niederschrift ersichtlich sind (ON 2 S 3 und S 17) - unzulässig.
Anzumerken ist, dass demgegenüber die Verlesung der Angaben des Zeugen Güneri Ba***** gesetzeskonform ist, weil eine von einem Zeugen aus eigenem Antrieb angefertigte handschriftliche Aufzeichnung des Tatgeschehens ein für die Sache bedeutsames Schriftstück anderer Art darstellt, das gemäß § 252 Abs 2 StPO sogar verlesen werden muss. 3./ und 4./ Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO, der gemäß § 458 Abs 5 StPO gleichfalls für das bezirksgerichtliche Verfahren gilt, ist sämtlichen Beteiligten des Verfahrens, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Indem das Bezirksgericht Innsbruck nur dem Angeklagten und diesem bloß das Urteil mit Rechtsbelehrung zustellen ließ, ist es dieser Verpflichtung nicht nachgekommen. Überdies hätte das Protokoll über die Hauptverhandlung unter anderem auch den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis Z 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten (§ 271 Abs 1 Z 7 StPO). 5./ Ein Rechtsfehler haftet schließlich auch dem Abwesenheitsurteil in seiner Begründung zum Schuldspruch I./ an, wonach eine Subsumtion der Tat vom 28. März 2008 als Entwendung wegen des nicht mehr als gering zu beurteilenden Gesamtwerts der beiden Whiskey-Flaschen (von 45,98 Euro) auszuschließen sei (US 4 f). Nach ständiger Rechtssprechung stellt nämlich ein Betrag von 100 Euro die Obergrenze für die Annahme einer Sache geringen Werts dar. Opferbezogene Faktoren können zwar eine Unterschreitung dieser Grenze bewirken (RIS-Justiz RS0120079), doch werden solche (den Akten auch nicht zu entnehmende) Umstände im Urteil nicht genannt. Ob beim Angeklagten die für eine Privilegierung der Tat nach § 141 StGB zudem gebotene Motivlage gegeben war, hat das Bezirksgericht aufgrund seiner irrigen Rechtsansicht nicht geprüft.
Diese Gesetzesverletzungen gereichen dem Angeklagten zum Nachteil (§ 292 letzter Satz StPO).
Daher sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, das Abwesenheitsurteil aufzuheben, wovon auch der Beschluss auf Widerruf der bedingten Entlassung umfasst ist. Es kann somit dahingestellt bleiben, ob die Rechtsmittelbelehrung anlässlich der Zustellung des Urteils und des Beschlusses dem Gesetz entsprechend gewesen ist. In Betreff des Widerrufsbeschlusses ist der Vollständigkeit halber zu bemerken, dass bei Fällung eines Abwesenheitsurteils vor Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht oder bedingten Entlassung von einer Anhörung des Angeklagten (§ 494 Abs 3 StPO) abgesehen werden kann, wenn entweder nach § 494a Abs 1 Z 1 bzw Z 2 StPO kein Widerruf erfolgt oder dem Angeklagten durch einen entsprechenden Hinweis in der Ladung zur Hauptverhandlung oder sonst früher Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem allfälligen Widerruf eingeräumt worden ist (RIS-Justiz RS0101961). Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall gegeben, weil dem Angeklagten gemeinsam mit der Ladung zur Hauptverhandlung auch die Strafanträge (vom 16. April 2008 und 5. Juni 2008), aus denen der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der bedingten Entlassung zum AZ 20 BE 495/07a des Landesgerichts Linz ersichtlich war (ON 4 und ON 3 in ON 5), zugestellt worden waren.
Anmerkung
E9098111Os53.09tEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0110OS00053.09T.0526.000Zuletzt aktualisiert am
08.07.2009