TE OGH 2009/5/28 7Rs69/09g

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Veröffentlicht am 28.05.2009
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Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Richterin des Oberlandesgerichtes Dr. Stürzenbecher-Vouk alsVorsitzende, die Richter des Oberlandesgerichtes Mag. Nigl und Mag. Brandl sowie die fachkundigenLaienrichter Dr. Wolfgang Binder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Martin Mayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Vinka P***** vertreten durch ihren Sachwalter Pawle P*****, ebenda, dieser vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 18.2.2009, 24 Cgs 274/08x-9, gemäß §§ 2 Abs 1 ASGG, 492 Abs 2 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahingehend abgeändert, dass es insgesamt wie folgt zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei von 1.4.2008 bis 31.12.2008 Pflegegeld der Stufe 4 in Höhe von EUR 632,70 monatlich sowie ab 1.1.2009 Pflegegeld der Stufe 5 in Höhe von EUR 902,30 monatlich zu gewähren, wobei die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen und die in Hinkunft fällig werdenden Beträge jeweils am Monatsersten im Nachhinein zu leisten sind."

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Berufungsbeantwortung selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist zulässig.

Entscheidungsgründe:

Text

Mit Bescheid vom 1. Juli 2008 anerkannte die beklagte Partei den Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld in der Höhe der Stufe 3 ab 1. April 2008 und führte dazu aus, dass der Pflegebedarf der Klägerin durchschnittlich 150 Stunden im Monat betrage.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die am 30.9.2008 beim Erstgericht eingelangte Klage, in welcher vorgebracht wird, dass der Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich betrage. Die beklagte Partei bestritt und brachte vor, dass kein höherer Pflegeaufwand vorliege, als dem bekämpften Bescheid zugrunde gelegt worden sei.

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren Folge und sprach der Klägerin ab 1.4.2008 Pflegegeld der Stufe 5 in einer monatlichen Höhe von EUR 859,30 bis 31.12.2008 sowie EUR 902,30 ab 1.1.2009 zu.

Es legte dabei seiner Entscheidung – soweit im Berufungsverfahren von Relevanz (§ 500a ZPO) - die nachstehend wiedergegebenen Feststellungen zugrunde:

Die am ***** geborene Klägerin lebt mit ihrem Mann und ihrem Bruder in dessen Wohnung. Die Wohnung besteht aus einer Küche mit Duschkabine, Gasherd, Mikrowelle, Kühlschrank und Waschmaschine. Die Toilette befindet sich außerhalb der Wohnung. An Hilfsmitteln sind ein Rollstuhl, eine Beinschiene, ein Leibstuhl, Inkontinenzeinlagen, Stützstrümpfe und Zahnprothesen in Verwendung. Die nächste Einkaufsmöglichkeit ist ca. 150 m und die Apotheke ca. 300 m entfernt; ihre behandelnde Ärztin ordiniert im 15. Wiener Gemeindebezirk. Bei den täglichen Verrichtungen wird die Klägerin von ihrem Mann unterstützt.

Die Klägerin benötigt Hilfe bei der Erledigung von Einkäufen, bei der gründlichen Reinigung der Wohnung, bei der Wäschepflege und bei der Mobilität im weiteren Sinn.

Weiters besteht ein Betreuungsbedarf bei der Zubereitung und Vorbereitung der Mahlzeiten sowie teilweise bei der Einnahme der Mahlzeiten, weil die Klägerin nur feste Nahrung selbständig zu sich nehmen kann; bei Suppen und Saucen benötigt sie Hilfestellung. Weiters benötigt die Klägerin Hilfe bei der Einnahme der Medikamente, bei der Insulingabe, bei der täglichen Körperpflege, beim An- und Auskleiden, bei der Verrichtung der Notdurft, bei der Harninkontinenzreinigung und teilweise bei der Mobilität im engeren Sinn. Die Klägerin kann nämlich das gelähmte Bein nicht in das Bett legen und benötigt bei jedem Lagewechsel Hilfe; so muss man ihr in der Früh beim Aufstehen aus dem Bett und auch beim Hinlegen am Abend helfen; sie kann sich aber mit Mühe selbst vom Küchentisch aufrichten.

Die Pflege- und Betreuungsmaßnahmen sind koordinierbar; die Klägerin muss zumindest einmal in der Nacht die Toilette aufsuchen und benötigt Hilfe, um aus dem Bett aufzustehen, das Zimmerklosett zu verwenden und sich wieder hinzulegen.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass bei der Klägerin ein – im Berufungsverfahren nicht mehr strittiger - monatlicher Pflegebedarf von mehr als 180 (185,5) Stunden vorliege. Zur Frage des außergewöhnlichen Pflegeaufwandes führte es aus, dass der Gesetzgeber (gemeint der Verordnungsgeber) mit der Novelle zur Einstufungsverordnung BGBl II Nr. 469/2008 noch einmal verdeutlicht habe, was jedenfalls einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand darstelle. Da im vorliegenden Fall mehr als fünf Pflegeeinheiten, davon eine in den Nachtstunden erforderlich seien, bereits zum Stichtag 1.4.2008 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich gewesen sei und der Gesetzgeber (gemeint der Verordnungsgeber) mit der genannten Novelle lediglich „diesen Ausdruck präzisiert" habe, könne es keinem Zweifel unterliegen, dass der Klägerin bereits ab 1.4.2008 Pflegegeld der Stufe 5 zuzuerkennen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich, soweit der Klägerin auch im Zeitraum 1.4.2008 bis 31.12.2008 Pflegegeld der Stufe 5 anstelle der Stufe 4 zuerkannt wurde, die rechtzeitige Berufung der beklagten Partei (ON 10) aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es dahingehend abzuändern, dass der Klägerin von 1.4.2008 bis 31.12.2008 Pflegegeld der Stufe 4 sowie ab 1.1.2009 Pflegegeld der Stufe 5 zu gewähren sei.

Die klagende Partei beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben

(ON 11).

Die Berufung ist berechtigt.

Die Berufungswerberin führt aus, dass dem Umstand, dass die Pflegeverrichtung während der Nachtstunden (gemeint bei einem Erfordernis von mehr als fünf Pflegeeinheiten) anspruchsbegründend sei, erst durch die ausdrückliche Aufnahme der entsprechenden Passage Relevanz im Sinne des Vorliegens eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes zukomme. Für die davor liegenden Zeiträume sei im Sinne der Judikatur davon auszugehen, dass lediglich eine relativ engmaschige, wenn auch koordinierbare Betreuung in den Nachtstunden ein Kriterium für das Vorliegen eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes darstelle. Für den Zeitraum 1.4.2008 bis 31.12.2008 lägen die Voraussetzungen für den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 5 daher (noch) nicht vor.

Diesen Ausführungen ist beizupflichten.

Nach der zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Verordnung des Bundesministers für Soziales und Konsumentenschutz, mit der die Verordnung über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem Bundespflegegeldgesetz (Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz – EinstV), in der Fassung des Bundesgesetzblattes BGBl. II Nr. 37/1999, geändert wurde (BGBl II Nr. 469/2008), ergangenen Judikatur lag der für das Erreichen der Pflegegeldstufe 5 geforderte außergewöhnliche Pflegeaufwand dann vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich war. Dauernde Bereitschaft wurde dahingehend verstanden, dass der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten konnte oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnahm (RIS-Justiz RS0106361). Gefordert war aber immer ein besonders qualifizierter Pflegebedarf. So wurde das Vorliegen von Harninkontinenz mit Einlagenversorgung für sich allein noch nicht als einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand begründend angesehen, wobei auch der Umstand, dass die pflegebedürftige Person auf die Benützung eines Rollstuhles angewiesen und der Transfer in und aus dem Rollstuhl - wie gelegentlich auch bei schwergewichtigen Pflegebedürftigen - durch die Notwendigkeit der Mithilfe von zwei Pflegepersonen erschwert war, für sich allein noch nicht die Annahme der Voraussetzungen für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 rechtfertigte (vgl 10 ObS 165/06x und die dortige Darstellung der Judikatur; vgl auch 10 ObS 298/01y = SSV-NF 15/117).

In der von der Klägerin in ihrer Berufungsbeantwortung ins Treffen geführten Entscheidung 10 ObS 26/06f (= SSV-NF 20/18) sprach der OGH (zur damaligen Rechtslage) aus, dass ein Umlagern alle zwei Stunden auch in der Nacht mit einer intensiven Belastung der betreuenden Person einhergeht, die ein Pflegegeld der Stufe 5 rechtfertigte. Auch

den Entscheidungen 10 ObS 39/06t (= ARD 5748/6/2007) und 10 ObS

13/08x (= ARD 5882/4/2008 = infas 2008,34) lagen mehrmalige

regelmäßige Betreuungsleistungen in der Nacht für die Begründung eines Anspruches auf Pflegegld der Stufe 5 zugrunde. Pflegegeld der Stufe 5 soll nach den Intentionen des Gesetzgebers all jenen Pflegebedürftigen zugänglich sein, bei denen zum funktionsbezogen ermittelten, rein zeitaufwandsmäßig bestimmten Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden darüber hinausgehende, besondere die Pflege zusätzlich erschwerende qualifizierende Elemente hinzutreten. Dabei muss das Erfordernis einer besonders qualifizierten Pflege ein gewisses Mindestmaß erreichen, um von einem außergewöhnlichen Pflegebedarf sprechen zu können (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld (2008) Rz 551f).

Im vorliegenden Fall muss die Klägerin - nach den unbekämpften Feststellungen des Erstgerichtes, von denen bei der Beurteilung der Rechtsfrage, ob ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand vorliegt, auszugehen ist - zumindest einmal in der Nacht die Toilette aufsuchen, wobei sie Hilfe benötigt, um aus dem Bett aufzustehen, das Zimmerklosett zu verwenden und sich wieder hinzulegen. Auch wenn die diesbezüglich nicht näher konkretisierten erstgerichtlichen Feststellungen die Möglichkeit offen lassen, dass in einem nicht näher spezifizierten Ausmaß auch darüber hinausgehende (mehrmalige) Betreuungshandlungen während der Nacht erforderlich sein könnten, ist im Hinblick auf die auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Kläger treffende objektive Beweislast (vgl RIS-Justiz RS0103347; SSV-NF 1/48, 5/140, 6/119; 10 ObS 21/01p ua) sowie darauf, dass Unklarheiten über die rechtsbegründenden Tatsachen dem Kläger zum Nachteil gereichen (SSV-NF 10/133; 10 ObS 370/01m) davon auszugehen, dass lediglich eine einmalige Pflegeeinheit während der Nachtstunden erforderlich ist.

Aufgrund des Umstandes, dass lediglich § 6 Z 1 und 2 EinstV idF BGBl II Nr. 469/2008 Fälle eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes beispielhaft nennen, die schon bisher ausdrücklich geregelt bzw von der Judikatur herausgearbeitet waren, § 6 Z 3 dieser Verordnung aber eine neue Pflegefallkonstellation ausdrücklich regelt (vgl Greifeneder/Liebhart, aaO, Rz 562) kann allein dadurch, dass nunmehr der Verordnungsgeber das Vorliegen von mehr als fünf Pflegeeinheiten pro Tag, davon mindestens eine während der Nachtstunden, als eine der möglichen Tatbestandsvoraussetzungen für das Erreichen der Pflegegeldstufe 5 normiert, noch nichts darüber ausgesagt werden, ob auch nach der davor geltenden Rechtslage unter diesen Voraussetzungen vom Vorliegen eines außergewöhnlichen Pflegebedarfs auszugehen war.

Dies ist im Hinblick auf die oben dargelegte Rechtslage und Judikatur vor Inkrafttreten der genannten Novelle zur Einstufungsverordnung mit 1.1.2009 (vgl § 9 Abs 3 der EinstV idF BGBl II Nr. 469/2008) vielmehr zu verneinen. Das bloße Erfordernis einer einmaligen Hilfe pro Nacht, die erforderlich ist um der Pflegebedürftigen den Weg vom Bett zur Zimmertoilette und zurück zu ermöglichen erreicht für sich allein genommen, ohne Hinzutreten weiterer, im vorliegenden Fall nicht gegebener Umstände, kein solches Ausmaß, dass allein dadurch zum rein funktionsbezogenen zeitmäßig bestimmten Pflegebedarf hinzu von einem weiteren außergewöhnlichen Pflegeaufwand gesprochen werden könnte.

Soweit sich die Klägerin in ihrer Berufungsbeantwortung darauf stützt, dass „der Gesetzgeber" mit der gegenständlichen Novelle „der Judikatur verdeutlichen wollte, wie er einen Gesetzesbegriff immer schon verstanden haben wollte", ist auszuführen, dass rückwirkende Kraft nur Gesetzen (im formellen Sinn) zukommt, die diese aussprechen. Eine Rückwirkung von Verordnungen ist hingegen nur dann zulässig, wenn das Gesetz sie der Verordnung ausdrücklich einräumt (VfGH 12. 12. 1991, V 53/91 ua; RIS-Justiz RS0053354). Im Übrigen entspricht es zwar der stRsp des Obersten Gerichtshofs, dass das Gericht in jeder Lage des Verfahrens auf eine Änderung der Rechtslage Bedacht zu nehmen hat, sofern die neuen (allenfalls authentisch interpretierten) Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind (vgl RIS-Justiz RS0031419), dabei ist aber grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen, ob und inwieweit die Gesetzesänderung in einem zum Zeitpunkt des Eintritts der Gesetzesänderung bereits laufenden Verfahren zu beachten ist (RIS-Justiz RS0031419). In Punkt 5. der Verordnung BGBl II Nr. 469/2008 wird aber lediglich § 9 Abs 3 der EinstV angefügt, wonach die neugefassten Regelungen mit 1. Jänner 2009 in Kraft treten. Die von der Klägerin angestrebte Rückwirkung der genannten Verordnung scheitert damit auch daran, dass eine solche nicht vorgesehen ist.

Es war daher der Berufung Folge zu geben und das Ersturteil im Sinne des Berufungsantrages abzuändern.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 77 Abs. 1 Z. 2 lit. b ASGG. Die Voraussetzungen für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit - insbesondere berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin - wurden weder geltend gemacht, noch sind solche aus dem Akt ersichtlich. Auch lagen keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens vor.

Die ordentliche Revision ist zulässig, weil - soweit überblickbar - bisher eine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehlt, ob das bloße Erfordernis einer einmaligen, kurzfristigen Pflegeleistung pro Nacht bereits einen außergewöhnlichen Pflegebedarf im Sinne des § 4 Abs 2 BPGG bedingt.

Anmerkung

EW006907Rs69.09g-1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2009:0070RS00069.09G.0528.000

Zuletzt aktualisiert am

01.10.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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