TE OGH 2009/5/28 12Os32/09m

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Veröffentlicht am 28.05.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Mai 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Michael Schmid als Schriftführer, in der Strafsache gegen Remus T***** wegen des Verbrechens des schweren und gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1, 130 vierter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 9 Hv 57/07a des Landesgerichts St. Pölten, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. Oktober 2008, AZ 21 Bs 427/08k, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, und des Vertreters des Verurteilten Mag. Thomas Hofmann zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. Oktober 2008, AZ 21 Bs 427/08k (ON 173), verletzt das Gesetz in § 4 StVG iVm § 26 Abs 3 Z 4 EU-JZG.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und dem Oberlandesgericht die neuerliche Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft St. Pölten vom 7. Oktober 2008, Zl 6 St 136/07v (ON 171), aufgetragen.

Text

Gründe:

Der rumänische Staatsangehörige Remus T***** wurde mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 24. Mai 2007, GZ 9 Hv 57/07a-125, des Verbrechens des schweren und gewerbsmäßig durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1, 130 vierter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und zu einer (zur Gänze unbedingten) Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt, die er ab 16. Juli 2007 in der Justizanstalt Stein verbüßte. Das errechnete Strafende fällt auf den 10. Jänner 2010 (ON 143 im Strafakt AZ 9 Hv 57/07a des Landesgerichts St. Pölten, S 19 in 19 BE 684/08x des Landesgerichts Krems an der Donau).

Aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft München I am 7. Februar 2008 wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung ausgestellten Europäischen Haftbefehls, AZ 264 Js 225324/06 (ON 2, S 11 ff im Auslieferungsakt AZ 14 HR 4/08v des Landesgerichts Krems an der Donau), wurde mit Beschluss des (für das Auslieferungsverfahren gemäß § 13 EU-JZG iVm § 26 Abs 1 ARHG sachlich und örtlich zuständigen) Landesgerichts Krems an der Donau vom 19. Juni 2008, GZ 14 Ur 6/07m (richtig: 14 HR 4/08v)-11, die Übergabe des Remus T***** zur Strafverfolgung bewilligt und - unter einem - die Übergabe gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG aufgeschoben, bis dem österreichischen Strafanspruch im Verfahren AZ 9 Hv 57/07a des Landesgerichts St. Pölten Genüge getan sein wird. Der dagegen erhobenen Beschwerde des Remus T***** gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 26. August 2008, AZ 22 Bs 252/08g (ON 16 im Auslieferungsakt) nicht Folge.

Im Hinblick auf das Ersuchen des Leitenden Oberstaatsanwalts München I vom 11. April 2008 (ON 3 im Auslieferungsakt) schlug das Landesgericht Krems an der Donau mit Schreiben vom 8. August 2008 (ON 17 im Auslieferungsakt) eine dem § 26 Abs 3 EU-JZG entsprechende schriftliche Vereinbarung betreffend die bedingte Übergabe des Remus T***** zur Durchführung des deutschen Ermittlungs- und Erkenntnisverfahrens vor, welche seitens des Leitenden Oberstaatsanwalts München I mit Note vom 16. September 2008 (ON 20 im Auslieferungsakt) bestätigt und angenommen wurde. Danach hat sich die Bundesrepublik Deutschland als (bezogen auf den Europäischen Haftbefehl) Ausstellungsstaat (vgl § 2 Z 3 EU-JZG) verpflichtet, die betroffene Person - die ehestmöglich, jedenfalls bis zum 20. Dezember 2008 zurückzustellen sei, sofern nicht vor Ablauf dieser Frist eine Verlängerung der bedingten Übergabe vereinbart wurde - weiterhin in Haft zu halten und nur auf Anordnung des zuständigen Gerichts des Vollstreckungsstaats (§ 2 Z 7 lit a EU-JZG) freizulassen. Weiters wurde (ua) vereinbart, dass der Vollzug der im Vollstreckungsstaat verhängten Freiheitsstrafe durch die bedingte Übergabe nicht unterbrochen werde und die im Ausstellungsstaat in Haft zugebrachten Zeiten ausschließlich im Verfahren des Vollstreckungsstaats anzurechnen seien (s dazu § 26 Abs 3 Z 2 bis 5 EU-JZG).

Die vorläufige Übergabe wurde am 24. September 2008 vollzogen (ON 23, S 5 im Auslieferungsakt; s auch ON 169 im Strafakt) und die Frist für die Rückstellung des Strafgefangenen in der Folge - über Ersuchen der Staatsanwaltschaft München I - mit (nicht journalisiertem) Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 19. Dezember 2008 bis zum 31. März 2009 verlängert.

Zwischenzeitig sah das (gemäß § 7 Abs 1 StVG zuständige) Landesgericht St. Pölten mit Beschluss vom 6. Oktober 2008, GZ 9 Hv 57/07a-170, mit Wirkung vom 24. September 2008, 9:30 Uhr, vom (weiteren) Vollzug der über Remus T***** verhängten Freiheitsstrafe gemäß § 4 StVG vorläufig ab. Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft St. Pölten gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 22. Oktober 2008, AZ 21 Bs 427/08k (ON 173 im Strafakt), Folge und hob den angefochtenen Beschluss ersatzlos auf. Das Beschwerdegericht führte dazu begründend aus, eine Entscheidung nach § 4 StVG habe vor einer Auslieferung bzw Übergabe zu erfolgen, was sich schon aus dem Wortlaut des § 37 Z 2 letzter Satz ARHG bzw des § 25 Abs 2 EU-JZG ergebe, wonach im Fall des Absehens von der Vollstreckung wegen Auslieferung bzw Übergabe nach § 4 StVG (und nach Wegfall der Aufschubsgründe des § 25 Abs 1 EU-JZG) die Staatsanwaltschaft die Übergabe unverzüglich durchzuführen (§ 37 ARHG) bzw die Person nach Maßgabe des § 24 EU-JZG unverzüglich zu übergeben (§ 25 Abs 2 EU-JZG) habe. § 4 StVG stelle zudem auf Fälle ab, in welchen der Betroffene unbefristet ausgeliefert und somit seine Rückführung in das Bundesgebiet nicht angestrebt werde. Ein Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung käme bei bedingter Übergabe nach § 26 EU-JZG nicht in Betracht, weil diese eine Vereinbarung ua über die Verpflichtung zur ehestmöglichen Rückstellung der betroffenen Person voraussetze. Auch aus § 26 Abs 2 EU-JZG, wonach die vorläufige Übergabe den Vollzug der inländischen Freiheitsstrafe nicht unterbreche, ergebe sich, dass § 4 StVG bei der gegebenen Sachlage keine Anwendung finden könne.

Mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 20. Jänner 2009, GZ 19 BE 684/08x-19, wurde die bedingte Entlassung des Remus T***** gemäß § 46 Abs 1 StGB abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. Oktober 2008, AZ 21 Bs 427/08k (GZ 9 Hv 57/07a-173 des Landesgerichts St. Pölten) mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Voraussetzung für ein (vorläufiges) Absehen vom Strafvollzug nach § 4 StVG ist zunächst die Auslieferung des Verurteilten an eine ausländische Behörde, wobei ein Vorgehen nach dieser Bestimmung - ungeachtet ihrer systematischen Eingliederung im zweiten (die Anordnung des Vollzugs von Freiheitsstrafen betreffenden) Teil des StVG - auch noch nach Beginn des Vollzugs möglich ist (Kunst, StVG § 4 Anm 1; ebenso Drexler, StVG Rz 1, Holzbauer/Brugger, StVG Anm 1, jeweils zu § 4).

Zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde die Auslieferung durch ein im „Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten", ABl. L 190 vom 18. Juli 2002, S 1 - 20, geregeltes System der Übergabe zwischen den zuständigen Justizbehörden ersetzt, das in Österreich durch das EU-JZG, BGBl I 2004/36 (idF BGBl I 2007/112), umgesetzt wurde (EBRV zum EU-JZG 370 BlgNR 22. GP, 3 f). Voraussetzung für ein Absehen vom weiteren Strafvollzug nach § 4 StVG wegen Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ist somit eine Übergabe der auszuliefernden Person im Sinn des § 1 Abs 1 lit a EU-JZG.

Eine solche Übergabe des betroffenen Strafgefangenen an die Bundesrepublik Deutschland wurde im Anlassfall mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 19. Juni 2008, GZ (richtig) 14 HR 4/08v-11, bereits rechtskräftig (s ON 16 im Auslieferungsakt) bewilligt, ihre Durchführung aber zum Vollzug der im Verfahren AZ 9 Hv 57/07a des Landesgerichts St. Pölten verhängten Freiheitsstrafe gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG aufgeschoben.

§ 25 Abs 2 EU-JZG sieht auch während eines Aufschubs der Übergabe die Möglichkeit des Absehens von der Verfolgung oder von der Vollstreckung wegen Übergabe - ua auch nach § 4 StVG - vor und bestimmt, dass in diesem Fall, wenn der Übergabe keine der sonstigen in § 25 Abs 1 EU-JZG genannten (im Anlassfall laut Aktenlage nicht vorliegenden) Gründe entgegenstehen, die betroffene Person unverzüglich (nach Maßgabe des § 24 EU-JZG) zu übergeben ist.

Soweit nun das Beschwerdegericht die Ansicht vertritt, ein Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung komme bei einer bedingten Übergabe nicht in Betracht, weil § 4 StVG auf Fälle abstelle, „in welchen der Betroffene unbefristet ausgeliefert und somit seine Rückführung in das Bundesgebiet nicht angestrebt" werde, § 26 EU-JZG hingegen „eine Vereinbarung unter anderem über die Verpflichtung zur ehestmöglichen Rückstellung der betroffenen Person" voraussetze (BS 4), verkennt es, dass eine Maßnahme nach § 26 EU-JZG nur aufgrund eines Aufschubs nach § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG erfolgen kann, der seinerseits eine bereits bewilligte und grundsätzlich nicht auf eine Rückstellung abzielende Übergabe zur Voraussetzung hat (zur hier nicht relevanten Ausnahme bei der Übergabe österreichischer Staatsbürger zur Strafverfolgung siehe § 5 Abs 5 EU-JZG).

Die gesetzliche Befugnis des Landesgerichts St. Pölten als Vollzugsgericht, auch während einer bedingten Übergabe nach § 26 EU-JZG Maßnahmen mit (vorläufig) strafvollzugsbeendender Wirkung - somit auch ein Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung gemäß § 4 StVG - ergreifen zu können, zeigt insbesondere auch die im vorliegenden Fall mit der Bundesrepublik Deutschland getroffene Vereinbarung, die kraft Gesetzes (§ 26 Abs 3 Z 4 EU-JZG) auch die Verpflichtung des Ausstellungsstaats beinhaltet, „die übergebene Person [...] nur auf Anordnung des zuständigen Gerichts des Vollstreckungsstaats freizulassen".

Auch der im angefochtenen Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vertretene Standpunkt, vom Vollzug einer im Inland verhängten Freiheitsstrafe könne gemäß § 4 StVG nur vor der Übergabe (oder Auslieferung) abgesehen werden (vgl Mayerhofer, Nebenstrafrecht5 § 4 StVG E 7; ebenso Zagler, Strafvollzugsrecht S 36), steht einer Anwendung dieser Bestimmung nicht entgegen, weil eine Maßnahme nach § 26 EU-JZG - den klar ersichtlichen Intentionen des Gesetzes zufolge (Abs 2 und Abs 3 Z 5 leg cit) - im Wesentlichen (mit Ausnahme der Kostenfolgen; s § 26 Abs 3 Z 6 EU-JZG) die gleichen Rechtswirkungen wie ein inländischer Strafvollzug (vor oder nach einer Übergabe) entfalten soll, zumal eine während einer bedingten Übergabe im Ausland verbüßte Freiheitsstrafe als ausschließlich im Inland vollzogen gilt und dem österreichischen Vollzugsgericht (aufgrund des zwingenden Inhalts der Vereinbarung mit dem Ausstellungsstaat; s § 26 Abs 3 Z 4 EU-JZG) weiterhin die alleinige Dispositionsbefugnis über die Vollzugsmaßnahme zukommt.

Indem das Oberlandesgericht Wien ein Vorgehen nach § 4 StVG im Fall einer bedingten Übergabe (§ 26 EU-JZG) mit verfehlter Begründung als generell unzulässig erachtete und den angefochtenen Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 6. Oktober 2008, GZ 9 Hv 57/07a-170, ersatzlos aufhob, ohne im Anlassfall das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung zu prüfen, wurde das Gesetz in den Bestimmungen des § 4 StVG iVm § 26 Abs 3 Z 4 EU-JZG verletzt.

Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen sind geeignet, sich zum Nachteil des Strafgefangenen auszuwirken, sodass sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, die im Spruch bezeichnete Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien aufzuheben und diesem die neuerliche Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft St. Pölten aufzutragen.

Im zweiten Rechtsgang werden die allgemeinen Voraussetzungen des § 4 StVG zu prüfen und wird im Falle eines Absehens vom Strafvollzug wegen Auslieferung zu beachten sein, dass während einer noch vollzogenen bedingten Übergabe nach § 26 EU-JZG eine einseitige - der mit dem Ausstellungsstaat getroffenen Vereinbarung im Sinn des § 26 Abs 3 EU-JZG widersprechende - rückwirkende Aufhebung des inländischen Strafvollzugs (vgl ON 170 im Strafakt) nicht in Betracht kommt. Ein gemäß § 4 StVG gefasster Beschluss vermag erst mit Eintritt der Rechtskraft den Aufschubsgrund des § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG zu beseitigen und Rechtswirkungen (ua gemäß Abs 2 leg cit) zu entfalten. Der rechtskräftige Beschluss wäre sodann als „Anordnung" im Sinn des § 26 Abs 3 Z 4 EU-JZG unverzüglich dem Ausstellungsstaat zu übermitteln, um diesem damit die Befugnis zur Entscheidung über die Aufhebung oder Fortsetzung der Haft zu übertragen.

Textnummer

E91107

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0120OS00032.09M.0528.000

Im RIS seit

27.06.2009

Zuletzt aktualisiert am

12.08.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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