Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Helmut Hutterer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Sonja B*****, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, Wienerbergstraße 15-19, 1101 Wien, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kostenübernahme, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Februar 2009, GZ 10 Rs 195/08g-13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 3. September 2008, GZ 33 Cgs 82/08b-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Text
Begründung:
Die am 1. 3. 1991 geborene Tochter der Klägerin, Jasmin B*****, konsumierte am 4. 8. 2007 alkoholische Getränke und wurde, nachdem sie mehrmals erbrochen hatte, bei getrübter Bewusstseinslage am 4. 8. 2007 mit der Rettung (ohne Anwesenheit eines Arztes) gegen 18.35 Uhr in die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde des AKH Wien eingeliefert. Eine rasche ärztliche Untersuchung war zu diesem Zeitpunkt unerlässlich, weil vor allem über die zukünftige Entwicklung ohne technische Hilfsmittel keine sichere Prognose abgegeben werden konnte. Ein vorher erfolgtes Trauma (wie zB durch Sturz) war ohne Verlaufsbeobachtung nicht auszuschließen; das gleiche galt für eine allfällige Aspiration. Eine rein laienmäßige Beurteilung hätte eine potenzielle Gefährdung dargestellt. Das getrübte Bewusstsein einer jungen Erwachsenen stellt jedenfalls nicht den Regelfall dar; ein junger Mensch ohne Vorerkrankungen ist bei getrübter Bewusstseinslage jedenfalls als potenziell behandlungsbedürftig anzusehen. Insbesondere kann eine allfällige Verschlechterung nur dann festgestellt werden und zu entsprechenden Maßnahmen führen, wenn dies fachkundig beurteilt wird. Dies gilt sowohl für den Zeitraum des Transports als auch nach Übergabe. Eine prognostische Beurteilung ex ante ohne Hilfsuntersuchungen und allfällige Maßnahmen, die eine Verschlimmerung mit Sicherheit abwenden hätten können, wäre nicht lege artis gewesen. Es war daher ein fachkundiger Status zu erheben, wofür eine Untersuchung im Park sicherlich nicht ausreichend war. Ebenso war eine Sicherung des Herzkreislaufs bzw insbesondere bei der Angabe eines mehrfachen Erbrechens die Freihaltung der Atemwege unbedingt erforderlich.
Als Vorsichtsmaßnahme wurde im Spital eine Blutabnahme zwecks diagnostischer Einschätzung durchgeführt, außerdem wurde ein klinischer Status erhoben. Bei Jasmin B***** lag ein alkoholisierter Zustand - 2,66 Promille Blutalkohol - vor. Der Blutdruck war normal. Verletzungen lagen nicht vor. Es wurde in weiterer Folge eine Infusion (Ringerlösung) verabreicht; dabei handelt es sich um eine Flüssigkeitssubstitution. Dies geschah unter ärztlicher Beobachtung, um allfällige weitere zusätzliche Maßnahmen vorzunehmen. Insbesondere war ein Ionogramm nur nach durchgeführtem Labor zu beurteilen. Keinesfalls konnte automatisch angenommen werden, dass die hier als unauffällig erhobenen Laborbefunde auch ohne entsprechende Blutabnahme sicher „so" gewesen wären. Es wurde auch eine Kontrolle pathologischer Werte empfohlen. Die Entscheidung, es bei reiner Glucosezufuhr im Sinne einer Infusionstherapie zu belassen, ergab sich einerseits aus der qualifizierten ärztlichen Diagnostik, andererseits aus dem Verlauf, der unter stationären Bedingungen zu erfolgen hatte. Jasmin B***** verblieb zur Ausnüchterung bis zum nächsten Tag im Spital. Die letztlich stattgehabte Ausnüchterung ist ein spontaner Prozess, der durch Ringerlösung per se kaum beeinflusst wird. Ob bei Jasmin B***** tatsächlich nur ein Ausnüchterungszustand vorlag, kann nicht festgestellt werden. Ex post betrachtet könnten auch andere Zustände vorgelegen sein. Es gibt Krankheiten, die nur in großen Zeitintervallen auftreten und daher bei der Erstdiagnostik nicht gefunden werden. Grundsätzlich ist vorstellbar, dass eine Summation von Krankheitsbildern vorliegt. Im vorliegenden Fall war eines der Alkoholkonsum. Auch ex post ist daraus nicht ableitbar, dass dies die einzige Ursache für den Zustand von Jasmin B***** war.
Mit Bescheid vom 25. 2. 2008 lehnte die beklagte Wiener Gebietskrankenkasse den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Anstaltspflege für ihre Tochter Jasmin B***** vom 4. 8. 2007 bis 5. 8. 2007 mit der Begründung ab, dass der Krankenhausaufenthalt ausschließlich der Ausnüchterung nach Alkoholmissbrauch gedient habe; diese stelle jedoch - ebenso wie die Verabreichung einer Infusion - keine im Wege der Gewährung von Anstaltspflege zu erbringende Krankenbehandlung dar. Somit könne weder die Gewährung von Anstaltspflege noch eine Kostenübernahme für die Intervention des Rettungsdienstes seitens des Versicherungsträgers erfolgen.
Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Anstaltspflege für die Tochter der Klägerin vom 4. 8. 2007 bis 5. 8. 2007 gerichtete Klagebegehren ab. Grundsätzliche Voraussetzung für die Tragung der Kosten der Anstaltspflege durch den Versicherungsträger sei die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung. Das bloße Erfordernis der Ausnüchterung bewirke aber schon deshalb keine Behandlungsbedürftigkeit, weil der Rauschzustand nach Alkoholgenuss keinen regelwidrigen Körperzustand darstelle, der eine Krankenbehandlung notwendig mache. Auch die zur Linderung des Rauschzustands verabreichten Infusionen seien konsequenterweise nicht als Krankenbehandlung zu qualifizieren. Demnach falle die Anstaltspflege der Tochter der Klägerin unter den Begriff der Asylierung (§ 144 Abs 3 ASVG). Daher bestehe keine Verpflichtung des Krankenversicherungsträgers, die mit dem Anstaltsaufenthalt verbundenen Kosten zu tragen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Bei der bloßen Observierung und Ausnüchterung einer betrunkenen Patientin handle es sich nicht um die ärztliche Behandlung einer Krankheit. Anstaltspflege setze Behandlungsbedürftigkeit des Leidens voraus. Sei die Unterbringung in einer Krankenanstalt nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt, bestehe kein Anspruch auf Kostenübernahme durch den Krankenversicherungsträger. In manchen Fällen könne die Behandlungsbedürftigkeit erst ex post (nach Vornahme der notwendigen medizinischen Untersuchungen) beurteilt werden.
Die Revision sei mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene, dem Urteil des Berufungsgerichts widersprechende Entscheidung 10 ObS 99/08v zulässig; sie ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.
In der Revision wendet sich die Klägerin einerseits (unter Hinweis auf die Entscheidung 10 ObS 99/08v) gegen die von den Vorinstanzen vorgenommene ex-Post-Betrachtung in Bezug auf die Behandlungsbedürftigkeit und andererseits (unter Hinweis auf die Entscheidung 10 ObS 311/91) gegen die Qualifikation der Anstaltspflege ihrer Tochter als Asylierungsfall. Für die Tochter habe es keine Hinweise darauf gegeben, dass keine ärztliche Behandlung stattfinde, weshalb sie auf ihre Behandlungsbedürftigkeit vertrauen habe können und die Kosten des Spitalsaufenthalts von der beklagten Partei zu tragen seien.
Demgegenüber meint die beklagte Partei in der Revisionsbeantwortung, dass eine bloße Alkoholisierung - wie sie im Fall der Tochter der Klägerin schon im Hinblick auf das Fehlen weiterer Verdachtsdiagnosen gegeben gewesen sei - einen Zustand darstelle, der auch ohne Zutun irgendeines Behandlers von selbst wieder abklinge, weshalb es auch bei ex ante-Betrachtung an der Behandlungsbedürftigkeit fehle. Insbesondere sei (ex ante betrachtet) eine stationäre Anstaltspflege nicht erforderlich gewesen.
Dazu wurde erwogen:
1. Gegenstand eines Verfahrens über eine Bescheidklage kann nur derjenige Anspruch sein, der den Gegenstand des Bescheidverfahrens bildete (Neumayr in ZellKomm § 67 ASGG Rz 6). Im angefochtenen Bescheid wurde über den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Anstaltspflege für ihre Tochter abgesprochen, und auch das Klagebegehren ist auf Gewährung der Anstaltspflege gerichtet. Nur über diesen geltend gemachten Anspruch kann im sozialgerichtlichen Verfahren entschieden werden (und nicht beispielsweise über die Kosten einer ambulanten Untersuchung gemäß § 26 KAKuG in einer Anstaltsambulanz). Allerdings bedarf es möglicherweise noch einer Erörterung des Klagebegehrens (siehe 4.).
2. Der Oberste Gerichtshof hat jüngst in einem vergleichbaren Fall (10 ObS 99/08v = EF-Z 2009/85, 110 [R. Leitner]) über die Leistungspflicht der Krankenversicherung bei Anstaltspflege im Zusammenhang mit der Ausnüchterung eines alkoholisierten Patienten entschieden (in diesem Zusammenhang ist zu verdeutlichen, dass nicht über die endgültige Kostentragung, auch nicht im Verhältnis zwischen Vater und Tochter entschieden wurde, wie die Überschrift in EF-Z 2009, 110 ["Vater bezahlt für die Ausnüchterung seiner Tochter"] suggeriert).
In dieser Entscheidung hat der Oberste Gerichtshof in Bezug auf die Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers differenziert: Zunächst bestand ein Anspruch der Patientin auf Krankenbehandlung bzw Anstaltspflege im Sinn einer Klärung des Krankheitsverdachts. Der Anspruch auf Behandlung ist jedoch erloschen, als sich herausstellte, dass lediglich ein alkoholisierter Zustand vorlag, aufgrund dessen die Patientin allein der Ausnüchterung und keiner Krankenbehandlung bedurfte.
3. Ausgehend von den eingangs angeführten Feststellungen war - entgegen der Ansicht der beklagten Partei - auch im vorliegenden Fall eine Klärung des Krankheitsverdachts erforderlich. Nach Feststellung der „bloßen" Alkoholisierung ist der Anspruch auf Krankenbehandlung erloschen.
3.1. Richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof zu 10 ObS 311/91 (dazu Flemmich, OGH: Pflegegebühren bei Asylierung, DRdA 1992, 392; siehe bereits 10 ObS 43/91 = SSV-NF 5/134 = RIS-Justiz RS0083982) im Fall eines langdauernden stationären Krankenhausaufenthalts, während dessen ein schleichender Übergang in einen Pflegefall erfolgte, im Hinblick auf das Erfordernis der Erkennbarkeit der fehlenden Notwendigkeit ärztlicher Behandlung entschieden hat, dass in sinngemäßer Anwendung des § 107 Abs 1 ASVG ein „formaler Akt" des Krankenversicherungsträgers erforderlich ist, um die krankenversicherungsrechtliche Leistung zu beenden. Dieser Hinweis, dass keine (weitere) Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers besteht, kann auch durch einen Dritten erfolgen, etwa durch die Krankenanstalt (siehe 10 ObS 95/03y = RIS-Justiz RS0083968 [T1]).
3.2. Ausgehend von ihrer Rechtsansicht, dass von vornherein kein Leistungsanspruch der Klägerin gegenüber der beklagten Partei besteht, wurde von den Vorinstanzen nicht erörtert, ob ein entsprechender Hinweis gegenüber der Klägerin oder - bei Einsichtsfähigkeit - ihrer Tochter (§ 8 Abs 3 KAKuG) abgegeben wurde. Solange dies nicht der Fall war, sind die Pflegegebühren für die stationäre Aufnahme der Tochter der Klägerin vom Krankenversicherungsträger zu tragen.
4. Wurde dagegen ein entsprechender Hinweis abgegeben, ist entsprechend den Ausführungen unter 2. in Bezug auf die Leistungspflicht der beklagten Partei zu differenzieren. In diesem Sinn muss mit den Parteien erörtert werden, dass ein Anspruch gegen die beklagte Partei nur hinsichtlich eines Teils der erbrachten Sachleistungen bestehen könnte und das Klagebegehren entsprechend zu fassen ist, gegebenenfalls in Form eines Haupt- und eines Eventualbegehrens. Dabei wird zu klären sein, ob bzw welche konkreten Leistungen die Klägerin begehrt.
5. Da es somit einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung aufzuheben.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Textnummer
E91237European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00075.09S.0616.000Im RIS seit
16.07.2009Zuletzt aktualisiert am
20.02.2012