Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Ingeborg Bauer-Manhart und Peter Schönhofer als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Fadila H*****, vertreten durch Mag. Roland Schlegel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Elisabeth H*****, vertreten durch Dr. Hans Böck, Rechtsanwalt in Wien, wegen 16.000 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Juni 2008, GZ 10 Ra 25/08g-39, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4. Juli 2007, GZ 22 Cga 28/06g-35, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts in der Hauptsache und in der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.745,28 EUR (darin 290,88 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 1.046,88 EUR (darin 174,48 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin und die Beklagte sind in der Filiale R*****, der M***** GmbH, und zwar beide auf der untersten Hierarchieebene tätig und dabei unter anderem mit dem Einsortieren der Waren in die Regale beschäftigt. Den Streitteilen sind ein Bereichsleiter, der Marktleiter und der Regionalmanager übergeordnet. Die Beklagte ist in dieser Filiale Vertreterin der Vertreterin der Sicherheitsvertrauensperson. Am Unfallstag war die Klägerin damit beschäftigt, unter Benützung einer 8-sprossigen Alu-Haushaltsleiter mit Haltebügel einen Karton mit 4 Reinigungsmittelflaschen auf das Oberregal zu stellen. Sie stand mit dem linken Fuß auf der Plattform der Leiter, der rechte Fuß stand auf der zweiten Stufe von oben. Die Klägerin wollte dabei von dem zwischen zwei Regalen befindlichen Gang aus den Karton auf das von ihr rechts befindliche Regal stellen. Als die Beklagte dies bemerkte, sagte sie zur Klägerin, sie solle den Karton nicht auf das rechte Regal, sondern auf das linke stellen. Ohne Vorwarnung zog die Beklagte für die Klägerin unvermittelt mit beiden Händen an der Leiter, um diese in die Nähe des linken Regals zu verschieben und so der Klägerin das Hinunter- und wieder Hinaufsteigen zu ersparen. Die Klägerin verlor dadurch den Halt, stürzte von der Leiter und verletzte sich dabei. Mit der vorliegenden Klage begehrt sie, die Beklagte zur Leistung eines Schadenersatzbetrags von - zuletzt - 16.000 EUR sA zu verurteilen.
Die Beklagte begehrte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete unter anderem ein, dass sie nicht vorsätzlich gehandelt habe und ihr daher als Aufseherin im Betrieb das Dienstgeberhaftungsprivileg nach § 333 Abs 4 ASVG zugute käme.
Das Erstgericht verneinte die Anwendbarkeit des § 333 Abs 4 ASVG und verurteilte die Beklagte zum Schadenersatz an die Klägerin.
Das Berufungsgericht hob das Urteil des Erstgerichts auf und trug dem Erstgericht ergänzende Feststellungen dazu auf, ob die Beklagte im Unfallszeitpunkt (sei es auch in Ausübung einer Vertretung) Sicherheitsvertrauensperson gewesen sei. Es sprach aus, dass der Rekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung dazu fehle, ob schon die Stellung als Sicherheitsvertrauensperson im Betrieb an sich für die Anwendung des Dienstgeberhaftpflichtprivilegs ausreiche oder aber erforderlich sei, dass die Verletzung des Arbeitskollegen in Ausübung der Funktion der Sicherheitsvertrauensperson erfolgt sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist wegen Spruchreife der Arbeitsrechtssache berechtigt.
Gemäß § 10 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) hat der Arbeitgeber unter den dort genannten Voraussetzungen unter Berücksichtigung bestimmter Zustimmungserfordernisse der Belegschaftsvertretung bzw der Belegschaft Sicherheitsvertrauenspersonen zu bestellen. Gemäß § 11 Abs 1 ASchG haben die Sicherheitsvertrauenspersonen in allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes 1) die Arbeitnehmer zu informieren, zu beraten und zu unterstützen, 2) die Belegschaftsorgane zu informieren, zu beraten und zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten 3) in Abstimmung mit den Belegschaftsorganen die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern, den zuständigen Behörden und sonstigen Stellen zu vertreten, 4) die Arbeitgeber bei der Durchführung des Arbeitnehmerschutzes zu beraten, 5) auf das Vorhandensein der entsprechenden Einrichtungen und Vorkehrungen zu achten und die Arbeitgeber über bestehende Mängel zu informieren, 6) auf die Anwendung der gebotenen Schutzmaßnahmen zu achten und 7) mit den Sicherheitsfachkräften und den Arbeitsmedizinern zusammenzuarbeiten. Gemäß § 11 Abs 2 ASchG sind die Sicherheitsvertrauenspersonen bei Ausübung ihrer in diesem Bundesgesetz geregelten Aufgaben an keinerlei Weisungen gebunden, nach Abs 3 sind sie berechtigt, in allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei den Arbeitgebern sowie bei den dafür zuständigen Stellen die notwendigen Maßnahmen zu verlangen, Vorschläge für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu erstatten und die Beseitigung von Mängeln zu verlangen. Gemäß § 11 Abs 4 ASchG sind die Arbeitgeber verpflichtet, die Sicherheitsvertrauenspersonen in allen Angelegenheiten der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes anzuhören. Weitergehende Verpflichtungen zur Einbindung der Sicherheitsvertrauenspersonen durch den Arbeitgeber sieht § 11 Abs 6 ASchG vor, wenn keine Belegschaftsorgane errichtet sind.
In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsvertrauenspersonen nicht als Gehilfen des Arbeitgebers, sondern als weisungsfreie Arbeitnehmervertreter zu beurteilen sind, zusätzlich aber auch in Ergänzung der Fürsorgepflichten des Arbeitgebers tätig werden (Glawischnig, Die Sicherheitsvertrauenspersonen im „neuen ASchG" (Teil II), unter besonderer Berücksichtigung der straf- und zivilrechtlichen Verantwortung, ZAS 1997, 33 f; H. Langer, Das Ende des Haftungsprivilegs der Beauftragten für Arbeitssicherheit?, DRdA 2005, 244, Egglmeier-Schmolke, Haftung für Unfälle auf Baustellen, bbl 2007, 37, 44; Lukas/Resch, Haftung für Arbeitsunfälle am Bau, 22 f; Resch, Haftung des Baustellenkoordinators für Arbeitsunfälle am Bau, ZAK 2009, 43). Diese Autoren leiten daraus ab, dass diesen Sicherheitsvertrauenspersonen, wie auch anderen neugeschaffenen Funktionen mit gehobenem Niveau im Arbeitssicherheitsbereich die Stellung eines Aufsehers im Betrieb im Sinne des § 333 Abs 4 ASVG auch dann zukommen müsse, wenn diese Personen kein direktes Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern haben. In der Entscheidung 2 Ob 272/03v hat der Oberste Gerichtshof einem nach dem BauKG bestellten Baustellenkoordinator diese Aufseherstellung unter anderem mit der Begründung abgesprochen, dass dieser grundsätzlich kein Weisungsrecht gegenüber Arbeitnehmern habe. In einer Folgeentscheidung (2 Ob 162/08z) blieb diese Frage ausdrücklich offen. Auch hier bedarf diese Frage keiner abschließenden Beantwortung. Wenngleich von den vorgenannten Autoren bei Sicherheitsvertrauenspersonen das Kriterium des Weisungsrechts nicht als notwendig angesehen wird, um diesen die Stellung eines Aufsehers im Betrieb zukommen zu lassen, so ist diesen Literaturstimmen im Ergebnis jedenfalls zu entnehmen, dass der Arbeitsunfall bzw das Entstehen einer Berufskrankheit im ursächlichen Zusammenhang mit einer Verletzung von Pflichten der Sicherheitsvertrauensperson bei Ausübung dieser ihrer Pflichten stehen muss. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass Pflichtverstöße der Sicherheitsvertrauenspersonen nur im Zusammenhang mit den sich aus § 11 ASchG ergebenden Pflichten gesehen werden, wobei diese Bestimmung als Schutznorm iSd § 1311 ABGB bewertet wird (Glawischnig, Die Sicherheitsvertrauenspersonen im „neuen ASchG" (Teil II), unter besonderer Berücksichtigung der straf- und zivilrechtlichen Verantwortung, ZAS 1997, 37; Egglmeier-Schmolke, Haftung für Unfälle auf Baustellen, bbl 2007, 44). Selbst wenn man daher Sicherheitsvertrauenspersonen nach dem ASchG die Stellung eines Aufsehers im Betrieb im Sinn des § 333 Abs 4 ASVG zumessen wollte (dazu eher kritisch: Neumayr in Schwimann ABGB3 § 333 ASVG Rz 78), kommt es - wie allgemein beim Aufseher im Betrieb (Neumayr in Schwimann ABGB3 § 333 ASVG Rz 74) - darauf an, dass der Schädiger im Zeitpunkt der Schadenszufügung nicht nur formell die Funktion bekleidete, sondern in Ausübung seiner Funktion tätig war.
Dies ist aber nach den bindenden und ausreichenden Feststellungen hier, wo zwei sonst gleichgeordnete Arbeitnehmerinnen gemeinsam eine Arbeit verrichteten, gerade nicht der Fall gewesen, sodass es auf die Frage, ob die Beklagte formell auch die Funktion einer Sicherheitsvertrauensperson innehatte oder nicht, gar nicht ankommt.
Der Oberste Gerichtshof kann gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist, wobei diese Entscheidung auch zum Nachteil des Rekurswerbers ausfallen kann. Eine derartige Sachentscheidung des Obersten Gerichtshofs verstößt nicht gegen das Verschlechterungsverbot (RIS-Justiz RS0043853; RS0043939).
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.
Textnummer
E91220European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:009OBA00141.08P.0629.000Im RIS seit
29.07.2009Zuletzt aktualisiert am
14.09.2011