Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Susanne K*****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Christian Kleinszig/Dr. Christian Puswald Partnerschaft in St. Veit an der Glan, gegen die beklagte Partei Dr. Peter L*****, vertreten durch Dr. Lanker & Partner Rechtsanwälte KG in Klagenfurt, wegen 12.000 EUR sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz vom 27. November 2008, GZ 3 R 149/08v-75, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 2. Juli 2008, GZ 29 Cg 3/06v-64, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, dass sie wie folgt zu lauten haben:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 1.000 EUR samt 4 % Zinsen ab 26. 10. 2005 binnen 14 Tagen zu zahlen.
Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 11.000 EUR samt 4 % Zinsen ab 26. 10. 2005 zu bezahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 8.723,12 EUR (darin enthalten 1.092,06 EUR USt und 2.170,75 EUR Barauslagen) bestimmten anteiligen Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen."
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin unterzog sich einer operativen Entfernung ihrer vier Weisheitszähne durch den beklagten Zahnarzt. Der Beklagte klärte die Klägerin über den Operationsverlauf und die Risiken der Operation nicht auf, insbesondere nicht darüber, dass die Injektionsnadel, mit der die Lokalanästhesie verabreicht wird, einen Nerv treffen oder ein Taubheitsgefühl verursachen könnte. Bei „genauer Aufklärung über die Folgen" hätte die Klägerin die Operation ebenfalls - allerdings während eines stationären Aufenthalts - durchführen lassen. Im Zuge der - lege artis durchgeführten - Entfernung der Weisheitszähne links kam es durch eine Injektionsnadel zu einer Nervenläsion; der linke nervus lingualis der Klägerin wurde völlig anästhesiert.
Die Klägerin begehrt vom Beklagten wegen des Aufklärungsmangels 12.000 EUR Schmerzengeld. Der Beklagte habe sie weder über die Möglichkeit einer stationären Operation noch über die typischerweise auftretenden Nervenverletzungen mit vielmonatigem Taubheitsgefühl aufgeklärt, und ihr auch nicht mitgeteilt, dass Schmerzmittel angezeigt seien. Aufgrund der nicht erfolgten Aufklärung habe sie der Behandlung nicht wirksam zustimmen können. Wäre sie über die möglichen Behandlungsfolgen, insbesondere über das Risiko einer über das Wochenende hinausreichenden Schmerzfolge und Behandlungsnotwendigkeit aufgeklärt worden, hätte sie diese Behandlung nicht beim Beklagten oder einem niedergelassenen Zahnarzt, sondern stationär in einem Krankenhaus durchführen lassen. Wegen der zeitweiligen Nervenlähmung habe die Klägerin den Mund nicht ordentlich verschließen können. Die damit verbundenen Schmerzen seien so stark gewesen, dass sie zwei Wochen lang in der Nacht „praktisch nicht" und in den nächsten zwei Wochen nur mit Unterbrechungen habe schlafen können. Außerdem habe sie monatelang kaum etwas essen können und unter Verdauungsproblemen gelitten.
Der Beklagte wendete im Wesentlichen ein, er habe die Klägerin vollständig über die „später eingetretenen" typischen Risiken der Behandlung aufgeklärt. Im Übrigen hätte sich die Klägerin die Weisheitszähne auf jeden Fall entfernen lassen, auch wenn sie über alle Folgen aufgeklärt worden wäre. Sie habe jedenfalls keine vom Beklagten rechtswidrig und schuldhaft verursachten Schmerzen erlitten.
Das Erstgericht gab der Klage mit 3.000 EUR statt und wies das Mehrbegehren von 9.000 EUR ab. Es läge ein ärztlicher Aufklärungsfehler vor, weshalb die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schmerzengeld von 3.000 EUR habe. Sie habe über einen Zeitraum von 14 Tagen an operationskausalen mittleren Wundschmerzen und an Gefühlsempfindungsstörungen komprimiert auf 16 Stunden leichte Schmerzen gelitten.
Das Berufungsgericht wies die Klage zur Gänze ab; es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Dem Beklagten sei der Beweis gelungen, dass die Klägerin auch bei vollständiger Aufklärung die Zustimmung zur operativen Entfernung der Weisheitszähne erteilt hätte. Sie hätte sich nach dieser Aufklärung aber nicht für den Beklagten als behandelnden Arzt, sondern für eine im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts durchzuführende Operation entschieden. Damit hätte sie sich auch bei vollständiger Aufklärung demselben Risiko (einer trotz Behandlung lege artis eingetretenen Beeinträchtigung der Gesundheit) ausgesetzt. Die Klägerin habe nicht darlegen können, dass sie bei ausreichender Aufklärung vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden wäre, aus dem heraus die von ihr behauptete Ablehnung einer Behandlung durch den Beklagten verständlich geworden wäre. Dem Beklagten sei der Nachweis gelungen, dass die Klägerin auch bei vollständiger Aufklärung derselben Behandlungsmethode zugestimmt hätte, sodass der aus einem ärztlichen Aufklärungsfehler abgeleitete Schmerzengeldanspruch der Klägerin schon dem Grunde nach nicht zu Recht bestehe. Die Revision sei zuzulassen, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein Arzt auch dann für unvermeidliche nachteilige Folgen einer lege artis durchgeführten ärztlichen Behandlung hafte, wenn er den Patienten über das später schicksalhaft verwirklichte Risiko nicht aufgeklärt habe und wenn der Patient sich bei vollständiger Aufklärung zwar für dieselbe Behandlungsmethode, aber für einen anderen ärztlichen Behandler entschieden hätte.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Klägerin ist zulässig und teilweise berechtigt.
Die Klägerin macht unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zu 3 Ob 131/03s und 4 Ob 121/05f geltend, eine wirksame Einwilligung liege zufolge mangelhafter Aufklärung über den Operateur nicht vor. Im Übrigen seien ambulante und stationäre Behandlungen keineswegs gleichartig. Bei operativen Eingriffen sei einem stationären Aufenthalt gegenüber einem ambulanten Eingriff bereits aufgrund allenfalls auftretender Komplikationen der Vorzug zu geben. Gerade diese Entscheidungsfreiheit sei der Klägerin aufgrund der mangelhaften bzw gänzlich unterlassenen Aufklärung genommen worden. Zur Höhe des Klagsanspruchs hätte das Berufungsgericht die wochenlange Lähmung der Gesichtshälfte der Klägerin unberücksichtigt gelassen.
Der Senat hat erwogen:
1. Grundlage für die Haftung eines Arztes oder Krankenhausträgers wegen Verletzung der Aufklärungspflicht ist in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in dessen körperliche Integrität durch die Behandlung eingegriffen wird. Der Patient muss in die konkrete Behandlungsmaßnahme einwilligen; Voraussetzung für seine sachgerechte Entscheidung ist eine entsprechende Aufklärung durch den Arzt. Die Aufklärung soll den Patienten instand setzen, die Tragweite seiner Erklärung zu überschauen. Ist der Eingriff nicht dringlich, muss der Arzt den Patienten auch auf allenfalls bestehende Behandlungsalternativen hinweisen. Dabei sind Vorteile und Nachteile, verschiedene Risiken, verschieden starke Intensitäten der Eingriffe, differierende Folgen, Schmerzbelastungen und unterschiedliche Erfolgsaussichten gegeneinander abzuwägen (4 Ob 155/08k mwN, RIS-Justiz RS0026313).
2. Die Beweislast dafür, dass der Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung zum Eingriff erteilt hätte, trifft für den Fall der Verletzung der Aufklärungspflicht den Arzt (3 Ob 131/03s; 4 Ob 137/07m; 4 Ob 155/08k).
Angesichts der Feststellung der Vorinstanzen, die Klägerin hätte „bei genauer Aufklärung über die Folgen" die Operation „während eines stationären Aufenthalts" durchführen lassen, ist dem Beklagten der ihm obliegende Beweis, dass die Klägerin dem tatsächlich vorgenommenen Eingriff zugestimmt hätte, nicht gelungen.
3. Die Operation in einer Krankenanstalt hätte - wie die Revision zutreffend aufzeigt - auch eine andere Behandlungsmethode mit sich gebracht. In einem solchen Fall wäre die Komplikation durch Beschädigung des Nervs - selbst wenn sie auch dort aufgetreten wäre - besser beherrschbar gewesen. Die sofortige Behandlung der Schmerzzustände hätte wohl auch zu kürzeren Schmerzperioden (oder geringeren Schmerzen) geführt. Es liegt daher auf der Hand, dass die Klägerin aus diesen Gründen einer Operation stationär in einer Krankenanstalt den Vorzug gegeben hätte.
Dem Rechtsstandpunkt des Beklagten wäre somit auch dann nicht zum Durchbruch verholfen, wenn man in Anlehnung an deutsche Rechtsprechung eine Pflicht des Patienten annehmen wollte, die Gründe für die (mögliche) Ablehnung des Eingriffs zu substantiieren, zumal das Vorbringen der Klägerin, sie hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung den Eingriff stationär (in einer Krankenanstalt) durchführen lassen, nicht nur nicht unplausibel (vgl 4 Ob 132/06z), sondern äußerst naheliegend ist. Ihre Entscheidung gegen eine ambulante Behandlung wäre schon aus der Überlegung heraus verständlich, dass das aufgezeigte Risiko in einer Krankenanstalt besser beherrschbar sein werde als bei Vornahme des Eingriffs durch einen niedergelassenen Arzt (der bei Auftreten von Komplikationen am Wochenende nach dem Eingriff wohl kaum erreichbar sein würde).
4. Eine mangelhafte und unzureichende Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren nicht angefochten werden. Nur wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisfrage überhaupt nicht befasst, ist sein Verfahren mangelhaft (RIS-Justiz RS0043371).
Das Berufungsgericht hat sich im vorliegenden Fall ausführlich mit der Beweisrüge befasst. Auf die Ausführungen der Revisionswerberin - im Zusammenhang mit der Höhe des Klagsanspruchs - zur Gewichtung von Beweisen ist daher nicht näher einzugehen.
5. Das Schmerzengeld ist nach freier Überzeugung (§ 273 ZPO) unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für alles Ungemach, das der Verletzte bereits erduldet hat und voraussichtlich noch zu erdulden haben wird, grundsätzlich global festzusetzen (EFSlg 100.764 mwN).
Im vorliegenden Fall ging das Erstgericht - im Rahmen einer in der rechtlichen Beurteilung nachgetragenen Feststellung - von einem Zeitraum von vierzehn Tagen an operationskausalen „mittleren" Wundschmerzen und (komprimierten) Gefühlsempfindungsstörungen von einem Tag aus, und zwar basierend auf seiner Beweiswürdigung, wonach laut Sachverständigengutachten die behandlungskausalen Wundschmerzen spätestens nach vierzehn Tagen abklingen würden und die Klägerin ihre Beschwerden subjektiv überbewertet habe.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände erachtet der Senat ein Schmerzengeld von insgesamt 1.000 EUR als angemessen.
Der Revision der Klägerin ist daher teilweise Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen sind dahingehend abzuändern, dass der Klägerin ein Betrag von (bloß) 1.000 EUR zuzusprechen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 43 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Die Klägerin hat mit lediglich 8 % des eingeklagten Betrags obsiegt und ist mit 92 % unterlegen.
Textnummer
E91589European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0040OB00039.09B.0714.000Im RIS seit
13.08.2009Zuletzt aktualisiert am
09.12.2010