Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers Nikolaos M*****, vertreten durch Mag. Lothar Korn, Rechtsanwalt in Linz, gegen die Antragsgegnerin Sandra M*****, vertreten durch Sattlegger, Dorninger, Steiner & Partner Anwaltssocietät in Linz, wegen Rückführung des mj Evangelos M*****, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz vom 24. März 2009, GZ 15 R 119/09i-S-42, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Linz vom 6. Februar 2009, GZ 6 P 136/08h-S-36, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung lautet:
„Die sofortige Rückgabe des minderjährigen Kindes Evangelos M*****, geboren am 22. Juni 2006, in das Staatsgebiet von Griechenland wird angeordnet.
Das Mehrbegehren, das Kind an seinen üblichen Aufenthaltsort in K*****, Santorin zurückzubringen, wird abgewiesen.
Ein Kostenersatz findet nicht statt."
Ein Kostenersatz über die Kosten des Revisionsrekursverfahrens findet nicht statt.
Text
Begründung:
Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind Eltern des am 22. 6. 2006 geborenen Evangelos (im Folgenden auch „Minderjähriger" oder „Kind"). Die Streitteile heirateten am 19. 8. 2005 kirchlich in Thira, was am 22. 8. 2005 vom dortigen Standesamt beurkundet wurde und als zivile Eheschließung gilt. Der Antragsteller ist griechischer Staatsbürger, die Antragsgegnerin ist österreichische Staatsbürgerin. Evangelos ist Doppelstaatsbürger Griechenlands und Österreichs. Die Antragsgegnerin lebte mit ihrem Sohn aus erster Ehe namens Simon, geboren 1997, und mit Evangelos bis Weihnachten 2007 in der Ehewohnung in K*****, Santorin, Griechenland. Nach einem Aufenthalt der Familie in Österreich um Weihnachten 2007 kehrte die Antragsgegnerin nicht, wie gemeinsam geplant gewesen war, am 4. 1. 2008 mit den beiden Kindern nach Santorin zurück, sondern lebt seither mit ihnen in Österreich. Unstrittig ist, dass beiden Eltern das Sorgerecht zukommt.
Am 17. 7. 2008 unterfertigte der Vater den Antrag nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. 10. 1980, BGBl 1988/512; im Folgenden „HKÜ" bezeichnet), das Kind an seinen üblichen Aufenthaltsort in K*****, Santorin zurückzubringen. Er brachte vor, er übe seit der Geburt des Kindes das Sorgerecht gemeinsam mit der Mutter tatsächlich aus, durch die Weigerung der Mutter, mit ihm nach Griechenland zurückzukehren, werde er seines gesetzlichen Rechts auf Erziehung des Kindes beraubt. Dieser (vom griechischen Justizministerium übermittelte) Antrag langte beim österreichischen Bundesministerium für Justiz am 28. 8. 2008 und beim Erstgericht am 2. 9. 2008 ein.
Die Mutter brachte vor, es sei von einem gewöhnlichen (Zweit-)Aufenthalt des Kindes in Österreich auszugehen. Der Vater habe erklärt, die Mutter solle mit den Kindern in Österreich bleiben, er habe auch die Rückflugtickets mitgenommen. Der Vater habe das Obsorgerecht nie tatsächlich ausgeübt, er habe sich um das Kind überhaupt nicht gekümmert. Die Rückführung des Kindes nach Griechenland würde eine schwerwiegende Gefahr für das Kindeswohl bedeuten, der Vater sei mehrmals in Anwesenheit der beiden Kinder der Mutter gegen diese tätlich geworden. Gegenüber dem Kind habe der Vater zwar noch keine Körperstrafen angewendet, er habe aber immer wieder mit körperlicher Überlegenheit das Kind festgehalten, wenn dieses ihm nicht habe folgen wollen. Auch eine Geschwistertrennung würde das Kindeswohl von Evangelos schwer beeinträchtigen. Evangelos sei zwischenzeitig in Österreich gut integriert. Seine Verhaltensauffälligkeiten, die aufgrund der gewalttätigen, vom Vater verbreiteten Atmosphäre bestanden hätten, hätten sich gelegt. Im Hinblick auf die Strafanzeige gegen die Mutter könne diese auch gar nicht nach Griechenland reisen. Es sei ihr jedenfalls nicht zumutbar, nach Griechenland zurückzukehren. Der Vater könne auch nicht für die Betreuung des Minderjährigen selbst sorgen, dieser müsste bei der väterlichen Verwandtschaft aufwachsen.
Das Erstgericht ordnete die sofortige Rückgabe des Minderjährigen in den Bereich der Obsorge des Vaters, K*****, Santorin, Griechenland, an und forderte die Mutter auf, den Minderjährigen bei der Rückkehr nach Griechenland zu begleiten. Das Erstgericht traf folgende weitere Sachverhaltsfeststellungen:
Wenige Wochen nach der Geburt von Evangelos in Österreich kehrte die Mutter mit diesem und Simon in die Ehewohnung in K*****, Santorin, zurück. Simon besuchte dort die Schule. Danach war die Mutter zu Ostern 2007 zwischen zwei und vier Wochen in Österreich, im Sommer 2007 zwischen zwei und drei Monaten, womit der Vater jeweils einverstanden war.
Die Ehe war 2007 wegen der Eifersucht des Vaters, seines kontrollierenden Verhaltens und religiöser Auffassungsunterschiede in Bezug auf Taufriten und den orthodoxen Glauben des Vaters schon schwer angeschlagen. Der Vater war dreimal gegen die Mutter gewalttätig, und zwar im November 2006, am 19. 8. 2007 und im September oder Oktober 2007. Zweimal verständigte die Mutter deshalb die Polizei, die nicht kam, sondern ihr einmal riet, später anzurufen. Bei den Misshandlungen der Mutter durch den Vater am 19. 8. 2007 waren die beiden Schwägerinnen dabei, halfen aber der Mutter nicht. Am 23. 8. 2007 war die Mutter beim Arzt in Santorin, der blaue Flecken an beiden Händen, mehrmalige Abschürfungswunden an den Händen, sehr starke blaue Flecken im Kinnbereich sowie auf der Lippe durch Schläge ins Gesicht und Schmerzen im Halsbereich links durch das mehrmalige Schütteln und Würgen attestierte. Die Mutter sagte dem Arzt, dass sie schon einige Male vorher vom Ehemann geschlagen worden war. Der Arzt riet ihr zu einer Anzeige. Eine solche erstattete sie nicht, da sie große Angst vor dem Vater hatte.
Durch die gesamte Ehesituation war sie seit November 2006 psychisch so schwer belastet, dass sie Herz- und Angststörungen hatte. Sie suchte in Santorin eine Psychologin auf, der griechische Hausarzt verschrieb ein leichtes Antidepressivum, bei ihren Österreich-Aufenthalten war sie in Psychotherapie bei PRO MENTE.
Gegenüber Evangelos übte der Vater keine körperliche Gewalt aus, er hielt ihn aber immer wieder mit körperlicher Überlegenheit fest, wenn dieser ihm nicht folgte.
Für Weihnachten 2007 war ein Urlaubsaufenthalt der gesamten Familie in Österreich ab dem 16. 12. 2007 und eine gemeinsame Rückreise nach Santorin am 4. 1. 2008 vorgesehen. Die Mutter hatte aber bereits heimlich geplant, mit beiden Kindern endgültig nach Österreich zurückzukehren, weil sie die Ehesituation nicht mehr aushielt.
Während dieses Weihnachtsurlaubs im Haus der mütterlichen Großmutter in L***** in Oberösterreich spitzten sich die Konflikte zu, weil der Vater die Mutter kontrollierte, sie nicht mehr an das Handy ließ, ihr Kleidungsvorschriften machte, beleidigt zu Weihnachten und zu Silvester im Bett lag und in Streitigkeiten laut wurde. Immer wieder sagte der Vater zur Mutter in diesen Auseinandersetzungen, sie solle mit den Kindern in Österreich bleiben, dann habe er wenigstens seine Ruhe und brauche sich weder mit der Mutter noch mit den Kindern zu ärgern. Diese Äußerung des Vaters im Streit war jedoch keine Einverständniserklärung, dass die Mutter mit Evangelos auf Dauer in Österreich bleibe.
Am 3. 1. 2008, dem Tag vor der geplanten Heimreise nach Griechenland, kam es im Haus der mütterlichen Großmutter in L***** erneut zu verbalen Streitigkeiten zwischen den Eltern, aber zu keinem körperlichen Angriff des Vaters auf die Mutter. Die Mutter verständigte die Polizei. Nach einem längerem Gespräch mit den Polizisten erklärte sich der Vater bereit, alleine nach Santorin zu fliegen, was er auch tat. Er war aber nicht mit einem dauerhaften Aufenthalt von Evangelos in Österreich einverstanden und genehmigte dies auch nachträglich nicht.
Danach setzte ein Telefonterror des Vaters bei der Mutter ein. Er schrie am Telefon, sie solle in Österreich bleiben, nie mehr nach Santorin zurückkehren, er würde sie umbringen. Im April 2008 meinte er am Telefon, dass sie zu ihm zurückkommen solle und er ihr alles verzeihen würde. Am 11. 9. 2008 drohte er in einem Anruf bei der mütterlichen Großmutter telefonisch, er werde kommen, sehen und töten. Am 3. 10. 2008 drohte er der Mutter telefonisch Schläge sowie das Umbringen an. Am 6. 12. 2008, am Tag vor einer mündlichen Verhandlung mit dem Vater beim Bezirksgericht Linz, rief er die Mutter 30 Mal an, wobei die Mutter nur ein Telefonat annahm. Sie ist durch die Telefonanrufe des Vaters psychisch schwer belastet. Seit dem 4. 1. 2008 sah der Vater Evangelos nicht mehr. Es kam auch zu keinem Besuchskontakt, als der Vater für eine mündliche Verhandlung im November 2008 in Linz war.
Der Vater leistet keinen Unterhalt für Evangelos seit dieser in Österreich ist und sieht dafür weder einen rechtlichen noch einen tatsächlichen Grund. Mit Schreiben vom 4. 3. 2008 informierte der Rechtsanwalt der Mutter den Vater über deren Wunsch einer einvernehmlichen Scheidung und teilte ihm darin auch die Eckpunkte einer Scheidungsvereinbarung mit. Wesentlicher Bestandteil der von der Mutter vorgeschlagenen Scheidungsvereinbarung war das alleinige Sorgerecht der Mutter für Evangelos. Die Mutter brachte am 18. 6. 2008 die Scheidungsklage beim Bezirksgericht Traun ein. Die erste Verhandlung fand am 4. 12. 2008 statt.
Nach dem von der Mutter vorgelegten familien-, kinder- und jugendpsychologischen Privatgutachten ist eine Gefährdung des Kindeswohls hoch wahrscheinlich, wenn Evangelos bei einer Rückführung nach Santorin von der Mutter getrennt wird. Ebenso würde eine Trennung von Evangelos von seinem Halbbruder Simon das Kindeswohl beeinträchtigen. Das von der Mutter vorgelegte Privatgutachten enthält keine Antwort auf die Frage, ob Evangelos' Wohl gefährdet ist, wenn er mit der Mutter und Simon zurückkehrt. Zu rechnen ist mit hohen psychischen Belastungen der Mutter, wenn sie in der vorliegenden Lebensphase nach Santorin zurückkehren muss, und mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Intensivierung und Chronifizierung der traumatischen und angstneurotischen Symptome, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheitswert erreichen würden. Hiezu käme eine emotionale und soziale Entwurzelung von Mutter und Kind in Österreich, ein Kontrollverlust- und Hilflosigkeitserleben ohne Arbeit und ohne geklärte Unterhaltsansprüche sowie Todesängste durch den Vater. Psychische Befindlichkeiten, insbesondere chronifizierte seelische Belastungen einer Bezugsperson, wirken sich nachteilig auf die Wohlentwicklung von Kindern und das Kindeswohl aus. Dem Vater fehlt jedes Verständnis für die psychische Situation der Mutter, ihn kümmern auch die Bedürfnisse von Evangelos nicht. Im Falle einer rechtskräftigen Entscheidung eines österreichischen Gerichts, das die Rückführung von Evangelos anordnet, würde die Mutter das Kind begleiten. Ein Zusammenleben mit dem Vater kann sie sich nicht mehr vorstellen. Der Vater hält für den Fall einer solchen Gerichtsentscheidung ein normales Familienleben für möglich.
In Griechenland gibt es verschiedene Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung häuslicher Gewalt. Körperverletzungen und Drohungen im Familienkreis sind strafbare Handlungen. Ist Opferschutz erforderlich, so kann das Strafgericht so lange wie erforderlich die Wegweisung des Täters aus der Ehewohnung und Wohnsitzwechsel anordnen bzw den Aufenthalt an bestimmten Orten untersagen. Opfer häuslicher Gewalt haben Anspruch auf moralischen Beistand und notwendige materielle Unterstützung bei gesetzlichen Einrichtungen öffentlichen und privaten Rechts. Polizeibehörden haben bei häuslicher Gewalt diesen Einrichtungen auf Antrag des Opfers unverzüglich Meldung zu erstatten, damit diese unverzüglich Unterstützung bereitstellen können. Opfer haben Anrecht auf Verfahrenshilfe.
Auf der Insel Santorin mit 10.000 Einwohnern gibt es eine Polizeistation, kein Frauenhaus, das nächste Gericht mit Staatsanwalt ist auf Naxos, das zwei Stunden mit dem Schiff von Santorin entfernt liegt. Es gab bisher jedoch noch keine gerichtliche Ausweisung aus der Ehewohnung oder ein Rückkehrverbot nach familiärer Gewalt auf Santorin.
Der Vater hat mit seinen zwei Brüdern ein Taxiunternehmen. Die Mutter arbeitete während ihres Aufenthalts in Griechenland nicht. Seit 1. 6. 2008 ist sie als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester im Ausmaß von 20 Wochenstunden in Linz beschäftigt und muss die finanziellen Mittel für sich und die zwei Kinder im Alter von 2 ½ und 12 Jahren erwirtschaften. Der Vater war Alleinverdiener, die Mutter führte den Haushalt, der Vater übte die Obsorge in dem Ausmaß aus, wie es einem voll berufstätigen Vater möglich ist.
In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht von der gemeinsamen Obsorge beider Eltern aus. Der Lebensmittelpunkt der Familie liege in Santorin, der Vater habe tatsächlich die Obsorge ausgeübt, sodass von einem widerrechtlichen Zurückhalten nach Art 3 HKÜ auszugehen sei. Ein Rückführungshindernis im Sinn des Art 13 Abs 1 lit a HKÜ liege nicht vor. Die vom Vater im Affekt im Rahmen einer Auseinandersetzung getätigte Aussage, die Mutter solle mit den Kindern in Österreich bleiben, stelle keine vorbehaltlose Zustimmung zum Aufenthalt des Minderjährigen in Österreich dar. Auch eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls im Sinne des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ sei nicht gegeben.
Gegen die Entscheidung des Erstgerichts richtete die Mutter den Rekurs mit dem Antrag, den Antrag auf Rückführung des Kindes abzuweisen.
Der Vater erstattete eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Rekurs nicht Folge zu geben. Darin verwies er unter anderem auf eine Entscheidung des griechischen Landgerichts Naxos vom 23. 12. 2008, die (nur) in Fotokopie in deutscher Übersetzung dem Rechtsmittelschriftsatz angeheftet ist. Daraus ergibt sich, dass das Landgericht Naxos über Antrag des Vaters die Mutter dazu verurteilte, das Kind an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in K*****, Griechenland, zurückzubringen. Den Antrag des Vaters auf Übertragung des vorläufigen (alleinigen) Sorgerechts für das Kind wies es unter Hinweis auf das Alter des Kindes und die Eignung der Mutter zur Ausübung des Sorgerechts ab. Weiters regelte es das Umgangsrecht (Besuchsrecht) des Vaters mit dem Kind.
Nach dem weiteren Vorbringen in der Rekursbeantwortung des Vaters ist diese Entscheidung der Mutter „womöglich" noch nicht zugestellt worden.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter Folge und wies den Antrag des Vaters auf Rückführung des Minderjährigen ab. Die Mutter habe den Minderjährigen widerrechtlich in Österreich zurückgehalten, wodurch Art 3 HKÜ erfüllt sei. Der Vater habe die ihm gemeinsam mit der Mutter zustehende Obsorge im Zeitpunkt des Zurückhaltens gemeinsam mit der Mutter tatsächlich ausgeübt oder hätte sie ausgeübt, falls das Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Der Lebensmittelpunkt sei bis zum Zeitpunkt der Zurückhaltung im Jänner 2008 in Santorin gelegen, da sich dort die Ehewohnung befunden habe, wo sich die Mutter und der Minderjährige - abgesehen von Urlaubsaufenthalten in Österreich - hauptsächlich aufgehalten hätten. Da die Gründe, um die Rückgabe eines entführten Kindes ablehnen zu können, äußerst restriktiv anzuwenden seien, werde gefordert, dass eine Zustimmungserklärung im Sinne des Art 13 Abs 1 lit a HKÜ jedenfalls klar und eindeutig sein müsse. Eine derart klare Zustimmung des Vaters zu einer dauerhaften Aufenthaltsänderung liege nicht vor. Zum Rückführungshindernis des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ sei eine restriktive und enge Auslegung geboten. Das HKÜ gehe davon aus, dass die Rückgabe dem Kindeswohl am ehesten entspreche. Überdies sehe Art 11 Abs 4 der EuEheVO vor, dass eine Rückgabe aufgrund von Art 13 Abs 1 lit b HKÜ 1980 dann nicht mehr verweigert werden könne, wenn (durch konkrete Maßnahmen, nicht bloß allgemein) nachgewiesen sei, dass angemessene Vorkehrungen getroffen worden seien, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten. Derartige Vorkehrungen seien nicht nachgewiesen. Vielmehr sei von einer Gefährdung des Kindeswohls im Sinne des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ im Falle der Rückkehr des Minderjährigen nach Griechenland auszugehen. Eine Gefährdung des Kindeswohls sei hoch wahrscheinlich, wenn das Kind bei einer Rückführung nach Santorin von der Mutter getrennt werde, ebenso würde eine Trennung von seinem Halbbruder das Kindeswohl beeinträchtigen. Wenn die Mutter den Minderjährigen nach Santorin zurückbegleitete, wäre mit hohen psychischen Belastungen der Mutter zu rechnen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheitswert erreichen würden, was sich nachteilig auf das Kindeswohl auswirkte. Den Vater kümmerten die Bedürfnisse des Minderjährigen nicht. Unter diesen Umständen sei es der Mutter grundsätzlich nicht zumutbar, mit dem Kind gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückzukehren, wenn man darüber hinaus noch die festgestellten Drohungen des Vaters gegenüber der Mutter mit Schlägen und dem Umbringen bei einer Rückkehr berücksichtige. Auch wenn sich die Mutter bereit erklärt habe, in den väterlichen Lebensbereich nach Santorin zurückzukehren, um eine Trennung vom Minderjährigen zu verhindern, wäre der Minderjährige schutzlos der gewalt- und konfliktträchtigen Situation zwischen den Eltern und der sich auf ihn nachteilig auswirkenden psychischen Belastung seiner Mutter ausgesetzt. Der auch in Griechenland allgemein gegebene rechtliche Schutz gegen häusliche Gewalt reiche mangels konkreter Maßnahmen nicht aus, zumal bei den Gewalttätigkeiten des Vaters die von der Mutter verständigte Polizei nicht gekommen sei und auch die bei Misshandlungen der Mutter durch den Vater anwesenden Schwägerinnen nicht eingeschritten seien. Somit würde eine Rückführung des Minderjährigen auch unter Begleitung der Mutter zu einer schwerwiegenden psychischen Gefährdung des Kindes führen.
Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu, da keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zu Art 11 Abs 4 EuEheVO und somit zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ nicht mehr verweigert werden könne, vorliege.
Gegen den Beschluss des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters wegen Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise wird beantragt, das gegenständliche Verfahren wegen entschiedener Rechtssache durch das zuständige griechische Gericht für nichtig zu erklären und sämtliche vorinstanzlichen Beschlüsse aufzuheben. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Mutter beantragt in der Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und teilweise berechtigt.
Der Revisionsrekurswerber releviert unter Hinweis auf die dargestellte griechische Entscheidung, die die Rückführung des Kindes anordnet, die angefochtene Entscheidung sei wegen entschiedener Rechtssache gemäß § 56 AußStrG nichtig. Im Übrigen gehe aus Art 11 Abs 4 EuEheVO nicht hervor, wer den Nachweis zu erbringen habe, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten. Weder die EuEheVO noch das HKÜ sähen vor, was zu geschehen habe, wenn ein Gericht des ursprünglichen Aufenthaltsorts des Kindes bereits eine vollstreckbare Entscheidung dahingehend getroffen habe, dass eine Rückführung des Kindes nach den Bestimmungen des HKÜ stattzufinden habe, gleichzeitig aber ein Verfahren in dem Staat anhängig sei, in dem sich das entführte Kind tatsächlich aufhalte. Nach beiden Regelwerken fehle eine klare Regelung, inwieweit es überhaupt zulässig sei, dass eine Rückführungsentscheidung des Gerichts des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in dem Staat nicht berücksichtigt werden müsse, in dem sich das entführte Kind tatsächlich aufhalte.
Hiezu wurde erwogen:
1. Nichtigkeit wegen entschiedener Rechtssache:
Nach § 56 Abs 1 AußStrG ist der erstinstanzliche Beschluss vom Rekursgericht aufzuheben und das vorangegangene Verfahren für nichtig zu erklären, wenn der angefochtene Beschluss über eine Sache gefällt wurde, die bereits rechtskräftig entschieden ist. Gemäß § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG kann ein Fall des § 56 AußStrG in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden.
Selbst nach dem Vorbringen des Vaters in der Rekursbeantwortung und im Revisionsrekurs ist ungewiss, ob die griechische Entscheidung der Mutter schon zugestellt wurde. Auch die Revisionsrekursbeantwortung der Mutter enthält diesbezüglich kein Zugeständnis. Die Rechtskraft der griechischen Entscheidung steht somit nicht fest.
Aufwendige amtswegige Erhebungen zur Prüfung dieses Umstands kommen nicht in Betracht, weil das HKÜ die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse nach einem (unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten) Schnellverfahren anstrebt (RIS-Justiz RS0074532).
Im Übrigen wird zur griechischen Entscheidung noch Folgendes bemerkt: Art 12 HKÜ ordnet an, dass, wenn ein Kind im Sinn des Art 3 HKÜ widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen ist, das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes anordnet. Da sich der Minderjährige in Österreich befindet, ist das zuständige österreichische Gericht international zur Entscheidung über den Rückführungsantrag zuständig, das griechische Landgericht Naxos (das Art 12 HKÜ unvollständig zitiert hat) war hingegen demnach unzuständig (vgl Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht, Rz 09.17; Rauscher in Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht2 Art 10 Brüssel IIa-VO Rz 8).
2. Als Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens macht der Vater die Nichtberücksichtigung der griechischen Entscheidung neuerlich geltend. Er wird auf die vorstehenden Ausführungen zur geltend gemachten Nichtigkeit verwiesen.
3. Die Rechtsrüge des Vaters geht großteils nicht vom festgestellten Sachverhalt aus und negiert vor allem die Feststellung, dass eine Gefährdung des Kindeswohls wahrscheinlich ist, wenn das Kind bei einer Rückführung nach Santorin von der Mutter getrennt wird. Der Revisionsrekurswerber bezieht sich auf die im Rahmen der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts gemachten Ausführungen, beim Alter des Kindes von zweieinhalb Jahren sei zu erwarten, dass das Kind nach einer gewissen Eingewöhnungszeit seine seelische Ausgeglichenheit wieder finden werde. Erfahrungsgemäß würden sich Kinder in diesem Alter bei entsprechender Unterstützung relativ schnell an geänderte Situationen anpassen (vgl RIS-Justiz RS0112662 [T2]).
Diese Ausführungen stehen der zitierten Feststellung nicht entgegen, setzen sie doch gerade voraus, dass der Minderjährige nicht von seiner Mutter getrennt wird. Davon ausgehend ist aber dem Rekursgericht zuzustimmen, dass auch im Fall, dass die Mutter das Kind in den väterlichen Lebensbereich begleitet und in weiterer Folge dort bleibt, aufgrund der dadurch zu erwartenden psychischen Belastung der Mutter und des äußerst gespannten Verhältnisses der Eltern ebenfalls von schwerwiegender Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind bzw einer für das Kind unzumutbaren Lage im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ auszugehen wäre. Nach der Entscheidung 7 Ob 72/98h = RIS-Justiz RS0109774 bringt die Gefahr, dass die Kinder nicht nur Zeugen einer massiven Auseinandersetzung der Eltern werden könnten, sondern sich zudem als Anlass und Gegenstand der elterlichen Kontroversen erleben müssten, die Kinder in eine nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ unzumutbare Lage.
Die Zielsetzung des HKÜ ist es jedoch, dass Elternteile von einem widerrechtlichen Verbringen abzuhalten sind und die Sorgerechtsentscheidung am früheren gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes sicherzustellen ist (Nademleinsky/Neumayr aaO Rz 09.01). Deshalb ist eine restriktive und enge Auslegung des Art 13 HKÜ geboten. Das HKÜ geht davon aus, dass die Rückgabe dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Eine zu weite Auslegung des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ würde den Zielen des Übereinkommens entgegenstehen, zu einer Entscheidung über das Sorgerecht führen und dem entführenden Elternteil unberechtigte Vorteile aus dessen Rechtsbruch verschaffen (1 Ob 182/08h mwN). Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (vgl 2 Ob 291/00h). Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst das Ziel des HKÜ nicht greifen würde (vgl 9 Ob 102/03w; 5 Ob 47/09m mwN; Nademleinsky/Neumayr aaO Rz 09.10). Der Richter ist nicht auf das einfache Entweder-Oder einer Anordnung oder umgekehrt einer Ablehnung der Rückgabe beschränkt, sondern kann auf den Entfall von Rückgabehindernissen im Sinn des Art 13 HKÜ hinwirken (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO29 Art 11 EuEheVO Rz 4).
Soweit nicht ein Ausnahmetatbestand des HKÜ erfüllt ist, besteht dessen erklärtes Ziel nach seiner Präambel darin, die sofortige Rückgabe der widerrechtlich verbrachten Kinder in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen.
Das bedeutet nicht etwa eine „Rückgabe" der Kinder an den anderen Elternteil, welche Entscheidung allein dem (hier: griechischen) Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren zukommt (vgl Nademleinsky/Neumayr aaO Rz 09.10). Mit einer solchen Rückführungsanordnung muss auch nicht notwendigerweise die Trennung des Kindes vom „Entführer" oder von Geschwistern verbunden sein (5 Ob 47/09m; vgl 1 Ob 51/02k).
In diesem Sinn ist aber nach Ansicht des erkennenden Senats nach den vorinstanzlichen Feststellungen der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 2 lit b HKÜ dann nicht erfüllt, wenn lediglich die Rückgabe des Kindes nach Griechenland angeordnet wird, nicht aber auch an seinen vorigen Aufenthaltsort auf der (kleinen) Insel Santorin.
Es war daher die Rückgabe des Kindes nach Griechenland anzuordnen, jedoch das Mehrbegehren auf Anordnung der Rückführung an seinen üblichen Aufenthaltsort in K*****, Santorin abzuweisen.
Für die spruchmäßige Aufforderung der Mutter, das Kind bei der Rückkehr zu begleiten, gibt es keine Rechtsgrundlage (3 Ob 89/05t; 3 Ob 210/05m; RIS-Justiz RS0119950), weshalb dieser Ausspruch, der überdies nicht begehrt wurde, nicht zu treffen war.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf Art 26 Abs 4 des HKÜ. Danach ist Kostenersatz nur für den obsiegenden Antragsteller vorgesehen, „soweit angezeigt". Trotz seines (teilweisen) Obsiegens hält der Senat im gegebenen Fall aufgrund des Beitrags, den der Antragsteller durch sein Verhalten zur Entscheidung der Mutter, das Kind in Österreich zurückzuhalten, geleistet hat, eine Kostenersatzpflicht der Mutter für nicht angezeigt.
Textnummer
E91571European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0020OB00103.09Z.0716.000Im RIS seit
15.08.2009Zuletzt aktualisiert am
08.03.2011