TE OGH 2009/7/21 10ObS81/09y

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Veröffentlicht am 21.07.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ilse P*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Golla, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Witwenpension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Februar 2009, GZ 9 Rs 149/08k-12, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 14. Juli 2008, GZ 13 Cgs 66/08b-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Oberste Gerichtshof stellt gemäß Art 89 Abs 2 B-VG (Art 140 Abs 1 B-VG) an den Verfassungsgerichtshof den

Antrag,

§ 264 Abs 3 und Abs 4 ASVG in der Fassung BGBl I 2006/130 als verfassungswidrig aufzuheben.

Mit der Fortführung des Revisionsverfahrens wird gemäß § 62 Abs 3 VfGG bis zur Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs innegehalten.

Text

Begründung:

Dr. Emmerich P*****, der Ehegatte der Klägerin, verstarb am 24. 7. 2007. Sein letztes Dienstverhältnis hatte im November 2002 durch Austritt geendet. Aufgrund eines am 5. 11. 2003 mit seinem Arbeitgeber abgeschlossenen Vergleichs erhielt Dr. P***** im November 2003 einen Betrag von 121.829,29 EUR netto (129.600 EUR brutto) an Abfertigung. Im Jahr 2003 betrug sein Anspruch auf Arbeitslosengeld insgesamt 13.447 EUR. In den Jahren 2004 bis 2006 erhielt er an Krankengeld und Notstandshilfe einen Betrag von 33.661,16 EUR. Die Klägerin bezog in den letzten zwei Jahren vor dem Tod ihres Mannes im Monat ein durchschnittliches Einkommen von 2.335,62 EUR.

Der Pensionsanspruch von Dr. Emmerich P***** wurde bescheidmäßig ab 1. 3. 2007 mit 2.025,95 EUR festgesetzt.

Mit Bescheid vom 9. 1. 2008 hat die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch der Klägerin auf Witwenpension nach ihrem verstorbenen Ehemann ab 25. 7. 2007 anerkannt und die Pension mit monatlich 0 EUR zuzüglich einer Höherversicherung von 4,19 EUR, insgesamt daher 4,19 EUR festgesetzt. Da die Berechnungsgrundlage der Witwe 56.054,88 EUR und die Berechnungsgrundlage ihres verstorbenen Ehegatten 22.440,77 EUR betrage, ergebe sich ein Hundertsatz der Witwenpension von Null. Der so bemessenen Witwenpension seien bei Vorliegen einer Höherversicherung 60 vH des besonderen Steigerungsbetrags zuzuschlagen.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage insoweit statt, als es die beklagte Partei verpflichtete, der Klägerin ab 25. 7. 2007 eine monatliche Witwenpension von 1.032,42 EUR zuzüglich 4,19 EUR Höherversicherung, insgesamt 1.036,61 EUR zu erbringen. Seiner rechtlichen Beurteilung legte das Erstgericht zugrunde, dass § 264 Abs 4 ASVG für die Berechnungsgrundlage des Verstorbenen auf das Einkommen in den letzten zwei Kalenderjahren vor dem Tod, geteilt durch 24, abstelle; wenn dies für den Überlebenden günstiger sei, sei das Einkommen in den letzten vier Kalenderjahren vor dem Tod, geteilt durch 48, heranzuziehen, falls die Verminderung des Einkommens in den letzten beiden Kalenderjahren vor dem Tod des Versicherten auf Krankheit oder Arbeitslosigkeit zurückzuführen sei. Der Wortlaut des Gesetzes lasse offen, zu welchem Zeitpunkt der Grund für die Verminderung des Einkommens (Krankheit oder Arbeitslosigkeit) eingetreten sei. Ausschlaggebend sei nur, dass die Verminderung des Einkommens selbst innerhalb der letzten zwei Jahre vor Tod des Versicherten eintrete. Nicht notwendig sei daher, dass Krankheit oder Arbeitslosigkeit ausschließlich in den letzten zwei Jahren vor Tod des Versicherten auftrete. Auch im Fall des Ehegatten der Klägerin sei es nach Beendigung seines Dienstverhältnisses (Oktober 2002) zu einer auf Krankheit bzw Arbeitslosigkeit zurückzuführenden Verminderung des Einkommens in den letzten beiden Kalenderjahren (2005 und 2006) vor seinem Tod gekommen, weshalb der Beobachtungszeitraum für die Berechnungsgrundlage auf vier Jahre zu verlängern sei. Zwar sei der Abfertigungsanspruch bereits mit Beendigung des Dienstverhältnisses im Jahr 2002 entstanden, jedoch erst am 11. 11. 2003 liquidiert worden. Erst zu diesem Zeitpunkt sei es zu einer realen Vermögensveränderung für den Verstorbenen und die Klägerin gekommen, sodass der Betrag der Abfertigung in den vierjährigen Beobachtungszeitraum (2003 bis 2006) falle. In diesem Zeitraum ergebe sich ein Gesamteinkommen von 176.708,11 EUR (Arbeitslosengeld von insgesamt 13.447 EUR im Jahr 2003; Krankengeld und Notstandshilfe von 33.661,14 EUR und Abfertigung von 129.600 EUR). Der Gesamtbetrag von 176.708,11 EUR geteilt durch 48 ergebe 3.681,42 EUR als Berechnungsgrundlage. Diesem Betrag stehe ein monatliches Durchschnittseinkommen der Klägerin in den Jahren 2005 und 2006 von 2.335,62 EUR gegenüber. Der Anteil der Berechnungsgrundlage der Klägerin an der Berechnungsgrundlage ihres verstorbenen Mannes betrage 63,55 % (§ 264 Abs 4 ASVG). Die Klägerin habe demnach einen Anspruch auf 50,96 % des Pensionsanspruchs ihres verstorbenen Mannes. Die monatliche Witwenpension betrage daher 1.032,42 EUR.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das angefochtene Ersturteil im Sinne eines Zuspruchs nur der bescheidmäßig zuerkannten Witwenpensionsleistung ab.

Nach § 49 Abs 3 Z 7 ASVG gelte eine Abfertigung nicht als Entgelt im Sinne des § 91 Abs 1 Z 1 ASVG, weshalb eine Einbeziehung der im November 2003 ausgezahlten Abfertigung in die Berechnungsgrundlage des Verstorbenen nicht in Betracht komme. Werde die Abfertigung aus der Berechnung des Einkommens ausgeklammert, so mache es keinen Unterschied mehr, ob der Berechnung die letzten vier (Erstgericht) oder die letzten zwei Kalenderjahre (wie es die Berufung anstrebt) der Pensionsberechnung zugrunde gelegt würden. Die Berechnungsgrundlage der Klägerin als Witwe betrage gemäß § 264 Abs 3 ASVG 2.335,62 EUR (ausgehend von 56.054,88 EUR dividiert durch 24). Bei einem Berechnungszeitraum von vier Jahren (2003 bis 2006) ergebe sich aus den Feststellungen ein zu berücksichtigendes Einkommen des Verstorbenen von 47.108,16 EUR. Geteilt durch 48 (§ 264 Abs 4 ASVG) betrage die Berechnungsgrundlage 981,42 EUR. Ausgehend von einem Berechnungszeitraum von zwei Jahren (2005 und 2006) errechne sich unter Zugrundelegung des Einkommens des Verstorbenen für diese Zeit von 22.440,77 EUR bei Division durch 24 eine Berechnungsgrundlage von 935,03 EUR. Setze man diese beiden Berechnungsgrundlagen gemäß § 264 Abs 2 ASVG in Beziehung zu jener der Klägerin, errechne sich in beiden Fällen ein Hundertsatz von Null.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in § 264 ASVG festgelegte Berechnungsweise bestünden im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des klagsstattgebenden Ersturteils.

Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die im Folgenden dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die maßgebende Gesetzeslage die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens angezeigt erscheinen lassen.

In ihrer ausführlichen Revision vertritt die Klägerin kurz zusammengefasst folgende Rechtsansichten (die auch als Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung ausgeführt werden):

a) Vor allem ein Vergleich mit dem dem Hinterbliebenenpensionsrecht in mancher Hinsicht verwandten Unterhaltsrecht zeige, dass die dem Verstorbenen im Jahr 2003 zugeflossene Abfertigung in die Berechnungsgrundlage einzubeziehen sei.

b) Gegen die gesetzliche Regelung über den auf Seite des Verstorbenen maßgeblichen Beobachtungszeitraum von vier bzw zwei Kalenderjahren vor dem Tod bestünden insoweit verfassungsrechtliche Bedenken, als ein Abstellen auf diesen Zeitraum untauglich sei, der Witwe eine dem zuletzt erworbenen Lebensstandard nahe kommende Versorgung zu sichern.

c) Darüber hinaus sei der Vertrauensschutz der Klägerin, für den Fall des Todes ihres Mannes mit einer den langjährigen hohen Beitragsleistungen und dem langjährigen Lebensstandard entsprechenden Witwenpension rechnen zu können, durch die Novellierung des § 264 ASVG verletzt worden.

Dazu wurde erwogen (im Folgenden wird im Hinblick auf das Geschlecht der Klägerin zur Vereinfachung lediglich der Ausdruck „Witwenpension" und nicht auch „Witwerpension" verwendet):

1. Zur Entwicklung der Rechtslage in Bezug auf die Berechnung der Höhe der Witwenpension:

1.1. Ausgangspunkt der Berechnung der Höhe der Witwenpension war ab 1. 1. 1995 das zu Lebzeiten des Versicherten erzielte Haushaltseinkommen und dessen Verteilung auf die beiden Ehepartner. Verglichen wurden die Pensionsbemessungsgrundlagen des Verstorbenen und des überlebenden Ehepartners. Die Witwenpension betrug (auf der Grundlage eines komplizierten Berechnungsvorgangs) mindestens 40 %, höchstens 60 % der Pension des Verstorbenen. Mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2000 (SRÄG 2000 - BGBl I 2000/92) wurde die Formel zur Ermittlung der Höhe der Witwenpension neu geregelt: Um sowohl Aktiv- als auch Pensionseinkommen berücksichtigen zu können, war für jeden der beiden Ehepartner eine „Berechnungsgrundlage" zu ermitteln. Bei gleicher Höhe der Berechnungsgrundlagen hatte die Witwenpension ein Ausmaß von 40 % der Pension des Verstorbenen. Die maximale Witwenpension betrug 60 % (wenn die Berechnungsgrundlage des Verstorbenen mindestens dreimal so hoch war wie die des überlebenden Ehegatten). War hingegen die Berechnungsgrundlage der hinterbliebenen Ehegatten größer, dann verminderte sich die Pensionshöhe pro 1 % Unterschied um 0,3 % bis auf 0 %. Durch das SRÄG 2000 wurde daher mit Wirkung ab 1. 10. 2000 eine Spreizung zwischen 0 % und 60 % der Pension des verstorbenen Ehegatten bei gleichzeitiger Änderung der Berechnungsformel eingeführt.

Der Oberste Gerichtshof hegte gegen diese Neuregelung keine verfassungsmäßigen Bedenken (10 ObS 382/02b = RIS-Justiz RS0117422: Höhe der Witwenpension 0 EUR).

1.2. Aufgrund eines Drittelantrags von Nationalratsabgeordneten auf Aufhebung der Pensionsreform 2000 hat der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 27. 6. 2003, G 300/02 ua (VfSlg 16.923), § 264 Abs 2 bis 5 ASVG idF BGBl I 2001/67 als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des 30. Juni 2004 in Kraft tritt. Diese Entscheidung wurde mit Unsachlichkeit der antragsgegenständlichen Bestimmungen begründet, weil dem für die Spreizung maßgeblichen Vergleich die in § 264 Abs 3 und 4 ASVG geregelten Berechnungsgrundlagen zugrunde gelegt würden, die nicht die tatsächliche „Pensionshöhen" widerspiegelten.

1.3. Als Reaktion auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs hat der Nationalrat am 16. 6. 2004 mit dem 2. SVÄG 2004 eine Novellierung der Abs 2 - 6 des § 264 ASVG beschlossen. Nach den Absätzen 3 und 4 werden die Berechnungsgrundlagen der Witwe und des Verstorbenen von ihrem jeweiligen Einkommen in den letzten zwei Kalenderjahren vor dem Zeitpunkt des Todes des Versicherten gebildet. Angesichts des Inhalts des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vom 27. 6. 2003, G 300/02 ua, hielt der Oberste Gerichtshof die Neuregelung für verfassungskonform (RIS-Justiz RS0121071). Mit dem SVÄG 2006, BGBl I 2006/130, wurde § 264 Abs 4 ASVG um eine Regelung ergänzt, wonach beim Verstorbenen als Berechnungsgrundlage das Einkommen der letzten vier Kalenderjahre vor dem Zeitpunkt des Todes, geteilt durch 48, heranzuziehen ist, wenn die Verminderung des Einkommens in den letzten beiden Kalenderjahren vor dem Tod des Versicherten auf Krankheit oder Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist oder in dieser Zeit die selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit wegen Krankheit, Gebrechen oder Schwäche eingeschränkt wurde und dies für die Witwe günstiger ist.

1.4. Dagegen, dass die Witwenpension auf der Grundlage eines Einkommensvergleichs bemessen wird, bestehen aus Sicht des Obersten Gerichtshofs weiterhin keine verfassungsrechtlichen Bedenken; eine solche Regelung liegt auch nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers.

2. Zur Nichteinbeziehung der Abfertigung in die Berechnungsgrundlage:

2.1. Nach § 264 Abs 5 ASVG gelten als Einkommen nach Abs 3 und 4 ua Erwerbseinkommen gemäß § 91 Abs 1 ASVG. Nach dieser Bestimmung, die im Ersten Teil, Abschnitt VI („Leistungsansprüche") des ASVG enthalten ist, gilt als Erwerbseinkommen bei unselbständig Erwerbstätigen grundsätzlich „das aus dieser Tätigkeit gebührende Entgelt". Das ASVG geht von einem vom Arbeitsrecht und Lohnsteuerrecht abweichenden Entgeltbegriff aus (vgl OGH 10 ObS 126/06m = SSV-NF 20/56; W. Geppert in W. Geppert [Hrsg], Sozialversicherung in der Praxis [3. ErgLfg] Kap 4.8.1). Nur dasjenige, das unter diesen Entgeltbegriff fällt, ist - im Rahmen der Höchstbeitragsgrundlage - beitrags- und meldepflichtig sowie leistungswirksam. Die Abfertigung (alt) ist zwar im Arbeitsrecht dem Begriff des Entgelts zu unterstellen; § 49 ASVG regelt aber für den Bereich des Sozialversicherungsrechts gesondert, was unter „Entgelt" eines Dienstnehmers aus unselbständiger Tätigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn zu verstehen ist. Auch wenn sich die Begriffsbestimmung des § 49 ASVG im Unterabschnitt über die Beitragsgrundlagen findet, ist nicht davon auszugehen, dass dem Beitragsrecht und dem Leistungsrecht des ASVG von vornherein unterschiedliche Entgeltbegriffe zugrunde liegen würden.

2.2. Das Unterhaltsrecht wiederum kann für die Hinterbliebenenpensionen grundsätzlich nur dann Bedeutung haben, wenn es im Recht der Hinterbliebenenpensionen auf die - rechtlichen und/oder faktischen - Unterhaltsbeziehungen (etwa zwischen Ehegatten) ankommt. Es kann jedoch für das Recht der Hinterbliebenenpensionen nicht der Entgeltbegriff des Unterhaltsrechts übernommen werden, wenn es dafür im Sozialversicherungsrecht eine eigenständige Regelung (§ 49 ASVG) gibt.

2.3. Für die Ermittlung der Berechnungsgrundlagen für den Anspruch der Klägerin auf Witwenpension gelangt daher die Bestimmung des § 49 ASVG zur Anwendung (10 ObS 126/06m = SSV-NF 20/56; 10 ObS 156/06y = SSV-NF 20/87; vgl auch VwGH 2005/12/0187 mwN).

Gemäß § 49 Abs 1 ASVG sind unter Entgelt die Geld- und Sachbezüge zu verstehen, auf die der pflichtversicherte Dienstnehmer aus dem Dienstverhältnis Anspruch hat oder die er darüber hinaus aufgrund des Dienstverhältnisses vom Dienstgeber oder von einem Dritten erhält. In § 49 Abs 2 ASVG wird die Berücksichtigung von Sonderzahlungen als Entgelt geregelt. § 49 Abs 3 ASVG enthält eine Aufzählung jener Zahlungen des Dienstgebers, die nicht als Entgelt im Sinne der Abs 1 und 2 gelten. Dazu gehören gemäß Z 7 Vergütungen des Dienstgebers, die aus Anlass der Beendigung des Dienstverhältnisses gewährt werden, wie zum Beispiel Abfertigungen, Abgangsentschädigungen, Übergangsgelder. Bei der Abfertigung handelt es sich daher um eine sozialversicherungsbeitragsfreie Leistung, die nicht als Entgelt aus einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Sinne der §§ 49, 91 ASVG und damit auch nicht als Einkommen im Sinne des § 264 Abs 5 ASVG anzusehen ist. Die von der Klägerin angestrebte Einbeziehung der im November 2003 an ihren Ehegatten ausbezahlten Abfertigung in die Berechnungsgrundlage für ihren Anspruch auf Witwenpension kann daher nicht erfolgen.

2.4. Auch gegen dieses Ergebnis bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, weil es dem Gesetzgeber des ASVG durchaus freisteht, innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen einen eigenständigen Entgeltbegriff zu normieren, der sowohl im Beitrags- als auch im Leistungsrecht gilt (vgl 10 ObS 69/04a = SSV-NF 18/72).

3. Zur Frage der Verfassungskonformität der Zwei- bzw Vierjahresfrist der Absätze 3 und 4 des § 264 ASVG:

3.1. Der Oberste Gerichtshof hat bei der Entscheidung über das Rechtsmittel der Klägerin die Bestimmungen der Absätze 3 und 4 des § 264 ASVG (in der Fassung des SVÄG 2006, BGBl I 2006/130) anzuwenden. Die Frage der Verfassungskonformität dieser gesetzlichen Regelungen ist präjudiziell für die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache.

3.2. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner bisherigen Judikatur nach dem genannten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 27. 6. 2003, G 300/02 ua (VfSlg 16.923), die Verfassungskonformität der Zwei- bzw Vierjahresfrist der Abs 3 und 4 des § 264 ASVG bejaht (RIS-Justiz RS0121071). Im Rahmen dieser Rechtsprechung, die sich sowohl mit dem Argument einer zu geringen Dauer des Vergleichszeitraums (zB 10 ObS 132/05t uva) als auch mit dem Argument einer zu langen Dauer (10 ObS 95/08f) auseinanderzusetzen hatte, hat der Oberste Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Wahl eines zweijährigen Zeitraums, in dem die Einkommen des Verstorbenen und des überlebenden Ehegatten gegenübergestellt werden, bei der gebotenen Durchschnittsbetrachtung auch unter Bedachtnahme auf den mit der Witwenpension angestrebten Zweck nicht als unsachlich erscheint, auch wenn sie zu Härtefällen bei der Berechnung der Höhe der Witwenpension führen kann. Härtefälle könnten - wenn auch nicht durchgehend - durch den in § 264 Abs 6 ASVG vorgesehenen Schutzbetrag abgefedert werden.

3.3. Der Umstand, dass der Oberste Gerichtshof mit einer vermehrten Zahl von Härtefällen aufgrund der gesetzlichen Regelung des § 264 Abs 3 und 4 ASVG konfrontiert ist, und die Gestaltung des konkreten Falls lassen eine Überprüfung der Verfassungskonformität der Regelung angezeigt erscheinen.

3.4. Die Klägerin beruft sich im Wesentlichen darauf, dass die Bestimmung des § 264 Abs 3 ASVG aufgrund der Kürze des zweijährigen Beobachtungszeitraums zur Ermittlung der Berechnungsgrundlage der Witwenpension zu unsachlichen Ergebnissen führe. Die Verfassungswidrigkeit ergebe sich zum einen aus dem Umstand, dass der Witwenpension aufgrund des zweijährigen Beobachtungszeitraums häufig - so auch im vorliegenden Fall - auf Seiten des Verstorbenen nur die „mageren" Jahre zugrunde gelegt werden, die vielen „fetten" Jahre der Berufstätigkeit hingegen ausgeblendet werden. Die Klägerin macht geltend, dass es sich bei dieser Konstellation nicht bloß um einzelne Härtefälle handle. Das sei alleine schon aus der Anzahl der bis dato an den OGH herangetragenen Fälle abzuleiten. Darüber hinaus sei weder der zweijährige (§ 264 Abs 3 ASVG) noch der vierjährige Beobachtungszeitraum (§ 264 Abs 4 ASVG) geeignet, den „zuletzt erworbenen Lebensstandard" zu repräsentieren. Es müsse vielmehr insbesondere bei lang dauernden Ehen ein erheblich längerer Zeitraum (zB die letzten zehn Jahre) herangezogen werden, da es der allgemeinen Lebenserfahrung entspreche, dass der letzte Lebensstandard nicht erst in den letzten zwei oder vier Jahren vor dem Tod eines Ehepartners erworben werde. Da der Lebensstandard des Weiteren gerade in der Zeit zwischen der Beendigung der aktiven Erwerbstätigkeit und dem Pensionsantritt typischerweise auf den Ersparnissen aufbaue, dürften diese auch für die Berechnungsgrundlage nicht unberücksichtigt bleiben.

Das zweite Argument, auf das die Klägerin ihre verfassungsrechtlichen Bedenken stützt, ist, dass die derzeitige Regelung der Witwenpension zu einem unsachlichen Eingriff in das Eigentum führe, der insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beachtlich sei. Der kurze Beobachtungszeitraum des § 264 Abs 3 und 4 ASVG führe nämlich dazu, dass Personen, die vor ihrem Tod wenig verdient haben und Personen, die jahrzehntelang Höchstbeiträge - auch im Hinblick auf die Finanzierung einer Hinterbliebenenpension - geleistet haben, gleich behandelt werden. Die Novellen des ASVG, die zur Verkürzung des Beobachtungszeitraums für die Ermittlung der Berechnungsgrundlagen geführt haben, bewirkten somit einen unsachlichen und ungerechtfertigten Eingriff in bereits erworbene Anwartschaften bzw den Vertrauensschutz.

3.5. Sowohl der VfGH als auch der OGH anerkennen den rechtspolitischen Spielraum des einfachen Gesetzgebers bei der Erlassung genereller Normen. Das bedeutet, dass der einfache Gesetzgeber bei der Wahl sowohl der Ziele als auch der Mittel, mit denen diese zu erreichen sind, frei ist (Berka in Rill/Schäffer, B-VG [1. Erg-Lfg 2001] Art 7 Rz 52) - jedoch nur innerhalb jenes Rahmens, der ihm durch die Verfassung gewährt wird. So ist insbesondere der Gleichheitsgrundsatz des Art 7 B-VG zu beachten. Dieser steht der Erlassung generell-abstrakter Normen grundsätzlich nicht entgegen, die aufgrund ihrer Abstrahierung vom konkreten Einzelfall unweigerlich zu gewissen Ungleichbehandlungen führen können (Berka in Rill/Schäffer, B-VG [1. Erg-Lfg 2001] Art 7 Rz 56; Tomandl, Bemerkungen zum Witwerpensions-Erkenntnis des VfGH, ZAS 1980, 203 [207]). Das wird auch vom VfGH in dieser Form bestätigt, in dem er es im Allgemeinen für zulässig hält, dass der einfache Gesetzgeber von einer Durchschnittsbetrachtung, bezogen auf den Regelfall, ausgeht. Aus diesem Grund führen nach der Rechtsprechung des VfGH so genannte Härtefälle, die durch eine derartige Regelung bedingt werden, noch nicht per se zu ihrer Gleichheitswidrigkeit (VfGH B 525/06 = VfSlg 18.010 uva).

Wird demnach ein konkreter Lebenssachverhalt nicht oder nur in nachteiliger Weise von einer generellen Norm erfasst, so ist zu prüfen, ob es sich hierbei um eine Gleichheitswidrigkeit, die einen Verstoß gegen Art 7 B-VG darstellt, oder aber um einen zu duldenden Härtefall handelt, der sich aus der Regelung einer Durchschnittsbetrachtung ergibt. Der VfGH nimmt diese Abgrenzung einerseits anhand quantitativer, andererseits anhand qualitativer Kriterien vor (Korinek in Tomandl [Hrsg], Arbeitsrecht in einer sich wandelnden Rechtsordnung [1993] 46; Tomandl, Bemerkungen zum Witwerpensions-Erkenntnis des VfGH, ZAS 1980, 203 [207 f]).

In quantitativer Hinsicht geht der VfGH dann von einem Härtefall aus, wenn der konkrete Lebenssachverhalt nur ausnahmsweise und als atypischer Fall auftritt bzw ein atypischer Regelungsgegenstand der generellen Norm ist (VfGH G 18/00 = VfSlg 16.038). In G 18/00 hat der VfGH festgehalten, dass der Härtefall zum Durchschnittsfall im „Verhältnis einer Ausnahme zur Regel" stehen muss (in diesem Sinn auch VfGH G 99/05 = VfSlg 17.718).

In ständiger Rechtsprechung hält der VfGH fest, dass sich die Gleichheitswidrigkeit einer Regelung nicht ausschließlich aus der Menge der nachteilig betroffenen Lebenssachverhalte, sondern auch aus der Schwere der Betroffenheit ergeben könne. Selbst wenn nämlich „die (statistisch wohl nicht feststellbaren) Fälle" eines betroffenen Lebenssachverhalts nicht sehr zahlreich sind (VfGH G 77/83, G 71/84), so liegt dennoch eine Gleichheitswidrigkeit und damit kein zu duldender Härtefall vor, wenn „das Gewicht der angeordneten Rechtsfolgen außer Verhältnis" steht (VfGH B 229/05 = VfSlg 17.885). Der VfGH stellt somit neben quantitativen auch auf qualitative Kriterien zur Abgrenzung ab. Aus diesem Grund wird in der Lehre auch der Schluss gezogen, dass „es weniger auf die Größe des betroffenen Personenkreises ankommt, als vielmehr auf die Intentionalität oder das Gewicht des Effektes" einer gesetzlichen Regelung (Tomandl/Aigner, Verfassungsprobleme bei der Sozialversicherung dienstnehmerähnlicher Beschäftigungsverhältnisse, ZAS 1997, 1 [2]). Ferner ist nach der Rechtsprechung des VfGH auch der Grad der Schwierigkeit der Vollziehung einer differenzierten Lösung zu beachten (VfGH G 6, 25, 54/79 = ZAS 1980, 220 [Tomandl 203]).

3.6. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des VfGH können sich verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Bestimmung des § 264 Abs 3 und 4 ASVG wegen Gleichheitswidrigkeit unter dem Aspekt der Unverhältnismäßigkeit des Gewichts der angeordneten Rechtsfolgen (VfGH B 229/05 = VfSlg 17.885 ua) auf den Umstand stützen, dass der zweijährige Beobachtungszeitraum in § 264 Abs 3 ASVG die erhebliche Rechtsfolge nach sich zieht, in bestimmten Konstellationen gar keinen Hinterbliebenenpensionsanspruch zu gewähren, während für einen längeren Zeitraum, der ebenfalls die Sicherung des zuletzt erworbenen Lebensstandards garantiert, ein (bloß geminderter) Anspruch und damit keine derart weitreichende Rechtsfolge bestehen würde. Dass das Bestehen oder Nicht-Bestehen eines Anspruchs auf Witwenpension eine Rechtsfolge mit erheblichem Gewicht ist, hat der VfGH bereits in seinem Erkenntnis G 6, 25, 54/79 bestätigt. Aus diesem Grund hat der Sozialversicherungsgesetzgeber, wie aus den Materialien zum SVÄG 2006 (BGBl I 2006/130) hervorgeht, die Ausdehnungsmöglichkeit des Beobachtungszeitraums in § 264 Abs 4 ASVG geschaffen, da sich in der Praxis der Pensionsversicherungsträger gezeigt habe, „dass ein Zeitraum von zwei Jahren für die Beobachtung der Einkommensverhältnisse zur Berechnung der Witwen/Witwerpension mitunter zu kurz ist, um etwa den Einkommenseinbußen bei dramatisch verlaufenden Krankheitsentwicklungen Rechnung zu tragen" (RV 1314 BlgNR 22. GP 3). Mit der Möglichkeit der Heranziehung eines vierjährigen Zeitraums gemäß § 264 Abs 4 ASVG hat der einfache Gesetzgeber aber gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass der zeitliche Horizont des „zuletzt" erworbenen Standards nicht zu eng verstanden werden darf. Im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Entwürfe zum SVÄG 2005 und 2006 war sogar jeweils ein fünfjähriger Zeitraum vorgeschlagen worden (Weißensteiner, Witwen(er)pension - eine Diskussionsanregung, DRdA 2007, 368). Die Unverhältnismäßigkeit der Rechtsfolgen ergibt sich daher nicht alleine aus dem Umstand, dass eine Hinterbliebenenpension von 0 % gebührt bzw gebühren kann. Die Entstehungsgeschichte des § 264 Abs 3 ASVG und die Ausdehnungsmöglichkeit auf vier Jahre nach Abs 4 legen aber nahe, dass auch ein längerer Zeitraum als ein zweijähriger den zuletzt erworbenen Lebensstandard repräsentieren kann. Im gegenständlichen Verfahren hätte ein längerer Zeitraum, der diesen Anforderungen entspricht, weniger gravierende Rechtsfolgen zur Folge gehabt. Die Erheblichkeit der Rechtsfolgen in Bezug auf den relativ kurzen Vergleichszeitraum der Einkommen lassen aber nunmehr, wie das gegenständliche Verfahren zeigt, in Anbetracht der Rechtsprechung des VfGH Zweifel an der sachlichen Rechtfertigung des lediglich zweijährigen Beobachtungszeitraums aufkommen.

Diese Zweifel vermag im Übrigen auch der garantierte Schutzbetrag gemäß § 264 Abs 6 ASVG nicht aufzuheben, da der VfGH in G 300/02 ausdrücklich festgehalten hat, dass dieser zwar die Unsachlichkeit (bezogen auf die damalige „Durchschnittslebensbetrachtung") mildert, aber nicht beseitigt. Das muss folglich auch im vorliegenden Zusammenhang gelten.

4. Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher veranlasst, im Hinblick auf eine Verletzung des Gleichheitssatzes und einen unzulässigen Eingriff in das Eigentumsrecht einen entsprechenden Gesetzesprüfungsantrag an den Verfassungsgerichtshof zu stellen.

Die Anordnung der Innehaltung des Verfahrens beruht auf der im Spruch zitierten Gesetzesstelle.

Textnummer

E91622

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00081.09Y.0721.000

Im RIS seit

20.08.2009

Zuletzt aktualisiert am

17.01.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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