Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler und AR Angelika Neuhauser als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Verena G*****, Angestellte, *****, vertreten durch Mairhofer & Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Thomas P*****, Physiotherapeut, *****, vertreten durch Saxinger Chalupsky & Partner Rechtsanwälte GmbH in Linz, wegen 8.952 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. April 2008, GZ 12 Ra 4/08g-19, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. Oktober 2007, GZ 8 Cga 91/07f-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 742,27 EUR (darin 123,71 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin war in der Praxis des Beklagten, eines freiberuflich tätigen Physiotherapeuten, in der Zeit vom 1. 1. 2004 bis 30. 11. 2006 als Sprechstundenhilfe beschäftigt.
Das Bundeseinigungsamt beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit gab dem Erstgericht auf dessen Anfrage mit Schreiben vom 10. 10. 2007 bekannt, dass mit dem „Mindestlohntarif für Arbeitnehmer/innen in Betrieben sozialer Dienste" der Sozialsektor erfasst werden sollte. Dies zeige sich schon bei der Kurzbezeichnung des Mindestlohntarifs. Das Bundeseinigungsamt sei bei der Erlassung des Mindestlohntarifs nicht von dem Verständnis ausgegangen, dass damit auch die „klassischen" Gesundheitsdienstleistungen wie etwa die Physiotherapie erfasst werden. Die festgelegten Ausnahmen im Geltungsbereich des Mindestlohntarifs in Bezug auf Gesundheitsdienstleistungen, die nicht als soziale Dienstleistungen zu qualifizieren seien (wie zB Krankenanstalten), hätten nur deklarativen Charakter (ON 10).
Die Klägerin begehrt mit der vorliegenden Klage den Betrag von 8.952 EUR brutto sA als Differenz zwischen den ihr laut vorgenanntem Mindestlohntarif an Gehalt, Sonderzahlungen und Mehrarbeitsvergütung zustehenden und den vom Beklagten im Zeitraum Jänner 2005 bis November 2006 tatsächlich erbrachten Leistungen. Der Beklagte unterliege dem Geltungsbereich des Mindestlohntarifs. Die Tätigkeit der Klägerin als Sprechstundenhilfe sei in die Verwendungsgruppe 1 des Mindestlohntarifs einzustufen. Aufgrund einschlägiger Vordienstzeiten gebühre der Klägerin die Stufe 9.
Der Beklagte bestritt das Klagebegehren, beantragte dessen Abweisung und wendete ein, dass er als freiberuflich tätiger Physiotherapeut nicht dem Geltungsbereich dieses Mindestlohntarifs unterliege. Im Übrigen werde bestritten, dass die Klägerin eine Angestelltentätigkeit verrichtet und für die von ihr gewünschte Einstufung einschlägige Vordienstzeiten aufgewiesen habe.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Beklagte unterliege nicht dem Anwendungsbereich des Mindestlohntarifs.
Das Berufungsgericht gab der gegen das Ersturteil erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge und schloss sich der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts an. Der Beklagte übe als freiberuflicher Physiotherapeut keinen sozialen Dienst aus. Die ordentliche Revision werde zugelassen, weil zum Geltungsbereich des gegenständlichen Mindestlohntarifs noch keine Rechtsprechung vorliege.
Gegen die Berufungsentscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.
Das Bundeseinigungsamt hat gemäß § 22 Abs 1 ArbVG auf Antrag einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft der Arbeitnehmer Mindestentgelte und Mindestbeträge für den Ersatz von Auslagen festzusetzen. Die in der Erklärung festgesetzten Mindestentgelte und Mindestbeträge für den Ersatz von Auslagen werden als Mindestlohntarif bezeichnet. Ein Mindestlohntarif darf gemäß § 22 Abs 3 ArbVG nur für Gruppen von Arbeitnehmern festgesetzt werden, für die ein Kollektivvertrag nicht abgeschlossen werden kann, weil kollektivvertragsfähige Körperschaften auf Arbeitgeberseite nicht bestehen (Z 1) und sofern eine Regelung von Mindestentgelten und Mindestbeträgen für den Ersatz von Auslagen durch die Erklärung eines Kollektivvertrags zur Satzung nicht erfolgt ist (Z 2).
Der vorliegende „Mindestlohntarif für Arbeitnehmer/innen in Betrieben sozialer Dienste" wurde vom Bundeseinigungsamt, das damals beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingerichtet war, über Antrag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Gewerkschaft der Privatangestellten, erstmals mit 1. 1. 1997 erlassen (vgl 9 ObA 202/00x; 9 ObA 236/02z ua). Dieser Mindestlohntarif gilt gemäß seinem § 1 räumlich für die Republik Österreich (Punkt 1.1.), persönlich für Angestellte (Punkt 1.2.) und fachlich für Anbieter sozialer oder gesundheitlicher Dienste präventiver, betreuender oder rehabilitativer Art für Personen, die entsprechender Hilfe oder Betreuung bedürfen (Punkt 1.3.). Ausgenommen sind im hier relevanten Zeitraum (ab 1. 1. 2005) Arbeitnehmer/innen (Punkt 2.), die unter den Geltungsbereich des Mindestlohntarifs für im Haushalt Beschäftigte fallen (lit a); der Rettungs- und Krankentransportdienste (lit b); der Blutspendedienste (lit c). Die Einstufung der Angestellten erfolgt gemäß § 2 des Mindestlohntarifs in sechs „Berufsgruppen der sozialen Dienste" (VwGr 1 - VwGr 5, Ärzt/inn/e/n). Beispielsweise gehören der VwGr 1 unter anderem Pflegehelfer/innen, Altenbetreuer/innen mit einjähriger Ausbildung inklusive Pflegehelfer/innenprüfung und Sekretariatskräfte an. Zur VwGr 4 gehören unter anderem medizinische technische Dienste (MTD), zB Ergotherapeut/inn/en, Physiotherapeut/inn/en etc, aber auch diplomierte Sozialarbeiter/innen und Bilanzbuchhalter/innen.
„Soziale Dienste" sind Teil der Daseinsvorsorge. Im Unterschied zu anderen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wenden sich soziale Dienste an Menschen mit im Regelfall komplexen sozialen Bedürfnissen. Soziale Dienste dienen primär der Vermittlung bzw Verbesserung soziokultureller Teilhabe. Soziale Dienstleistungen bestehen aus stationären, mobilen und ambulanten Beratungs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen. Diese Leistungen unterstützen Einzelne dabei, selbständig soziale Lebenslagen zu bewältigen, wirken sohin kompensierend im Sinn eines sozialen Risikoausgleichs, aber auch präventiv. Soziale Dienstleistungen werden in Österreich überwiegend von gemeinnützigen Anbietern in Form von sozialwirtschaftlichen Vereinen, Gesellschaften und Genossenschaften, daneben aber auch von Kommunen erbracht. Dies mag auch damit zu tun haben, dass gemeinnützige sozialwirtschaftliche Unternehmen im Außenverhältnis besser als kommerzielle und öffentliche Anbieter in der Lage sind, Spenden, ehrenamtliche Mitarbeit und Kooperationsbereitschaft zu akquirieren (Dimmel, Soziale Dienste und Europäische Integration, in Wagner/Wedl, Bilanz und Perspektiven zum europäischen Recht 455 [458 ff] ua).
Der Begriff „soziale Dienste" umfasst eine ganze Reihe von Diensten und Leistungen, die sich aufgrund ihrer Vielfalt einer taxativen Aufzählung entziehen. In der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art 15a B-VG über gemeinsame Maßnahmen des Bundes und der Länder für pflegebedürftige Personen, BGBl 1993/866, werden unter sozialen Diensten ambulante, teilstationäre und stationäre Dienste für pflegebedürftige Personen verstanden (Art 3 Abs 1). Die Länder verpflichten sich in der Vereinbarung, dafür Sorge zu tragen, dass die sozialen Dienste, aufbauend auf den bestehenden Strukturen, dezentral und flächendeckend angeboten werden (Art 4 Abs 1). Der in der Anlage A der Vereinbarung enthaltene Leistungskatalog für die sozialen Dienste (Punkt 1.) umfasst Betreuungsdienste, therapeutische Dienste und Rehabilitationsmöglichkeiten, Dienste und Einrichtungen zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, Hilfsmittelverleih für die häusliche Versorgung, Beratungsdienste, Kurzzeitpflegeeinrichtungen und Sonderwohnformen. Auch In Sozialhilfegesetzen der Länder, siehe zB das NÖ Sozialhilfegesetz 2000 [NÖ SHG], 9200-0, werden bei den sozialen Diensten ambulante, teilstationäre und stationäre Dienste unterschieden (§ 44 NÖ SHG). Ambulante Dienste umfassen insbesondere therapeutische Dienste (vgl § 45 Abs 2 Z 6 NÖ SHG). Das Oö. Sozialhilfegesetz 1998 [Oö. SHG 1998], LGBl 1998/82, normiert beispielsweise, dass persönliche Hilfe durch soziale Dienste zu leisten ist. Als soziale Dienste kommen unter anderem aktivierende Betreuung und Hilfe (zB Physiotherapie und andere therapeutische Dienste), spezifische Wohnformen, Familienhilfe, Arbeitsassistenz und Beratung in Betracht (§ 12 Oö. SHG 1998). Das Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG), LGBl 1973/11, versteht unter sozialen Diensten Leistungen zur Befriedigung gleichartiger, regelmäßig auftretender, persönlicher, familiärer oder sozialer Bedürfnisse von Hilfesuchenden (§ 22 Abs 1 WSHG). Als soziale Dienste kommen Hauskrankenpflege, Familienhilfe, Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, allgemeine und spezielle Beratungsdienste, Dienste zur Förderung geselliger Kontakte, Erholung für alte und behinderte Menschen und Wohnheime in Betracht (§ 22 Abs 2 WSHG). Der Begriff soziale Dienste findet sich aber nicht nur in Sozialhilfegesetzen der Länder, sondern auch in der Jugendwohlfahrt (vgl §§ 11, 12 Jugendwohlfahrtsgesetz 1989 [JWG], BGBl 1989/161; §§ 15 ff NÖ Jugendwohlfahrtsgesetz 1991 [NÖ JWG 1991], 9270-0; §§ 12 ff Oö. Jugendwohlfahrtsgesetz 1991 [Oö. JWG 1991], LGBl 1991/11 ua). Dort liegt der Schwerpunkt auf Hilfen zur Deckung gleichartig auftretender Bedürfnisse werdender Eltern, Minderjähriger und deren Erziehungsberechtigten (vgl Wienerroither in Loderbauer, Kinder- und Jugendrecht³ 178 ff ua). Als soziale Dienste werden hier insbesondere Bildung für werdende Eltern, Eltern und Erziehungsberechtigte, allgemeine und besondere Beratungsdienste, vorbeugende und therapeutische Hilfen für Minderjährige und deren Familien sowie Pflegeplätze angeboten.
Die Revisionswerberin behauptet nun gar nicht, dass der Beklagte als freiberuflich tätiger Physiotherapeut einen Betrieb sozialer Dienste im vorgenannten Sinn führe. Sie meint jedoch aufgrund des von ihr herausgegriffenen Teilaspekts des fachlichen Geltungsbereichs („Anbieter ? gesundheitlicher Dienste ?"), dass auch der Beklagte vom „Mindestlohntarif für Arbeitnehmer/innen in Betrieben sozialer Dienste" erfasst werde. Dabei lässt sie jedoch außer Acht, dass Mindestlohntarife als Verordnungen nach den §§ 6 und 7 ABGB auszulegen sind (RIS-Justiz RS0008777 ua). Einem Mindestlohntarif darf daher in der Anwendung kein anderer Verstand beigelegt werden, als welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und aus der klaren Absicht des Normgebers hervorleuchtet (§ 6 ABGB). Die Normadressaten, denen nur der Text der Norm zur Verfügung steht, müssen (und können) sich darauf verlassen, dass die Absicht des Normgebers im kundgemachten Text ihren Niederschlag gefunden hat (vgl 9 ObA 122/95 ua). Richtig ist, dass die mit einem Mindestlohntarif verfolgte Absicht des Bundeseinigungsamts nicht berücksichtigt werden kann, wenn sie keinen Niederschlag im Text des Mindestlohntarifs gefunden hat (vgl RIS-Justiz RS0010089 ua). Dies ist jedoch in der hier strittigen Frage des Anwendungsbereichs nicht der Fall.
Die Frage, welche Arbeitgeber dem Mindestlohntarif unterliegen, kann nicht nur aufgrund eines dem jeweiligen Standpunkt genehmen Regelungsteils gelöst werden. Wenn auch die Regelungen des Geltungsbereichs zweifellos die erste Anlaufstelle bei der Klärung der Frage sind, für wen der Mindestlohntarif gelten soll, müssen auch sie „in ihrem Zusammenhang" mit den übrigen Regelungen des Mindestlohntarifs gelesen und verstanden werden (§ 6 ABGB). Dabei zeigt sich aber im vorliegenden Fall, dass das Bundeseinigungsamt nicht etwa bei der Bezeichnung des Mindestlohntarifs („für Arbeitnehmer/innen in Betrieben sozialer Dienste") auf die „Betriebe gesundheitlicher Dienste" vergessen hat, sondern die Formulierung des fachlichen Geltungsbereichs - wenn man die Lesart und das Verständnis der Revisionswerberin zugrundelegt - nur etwas missverständlich ausgefallen ist. Vom vorliegenden Mindestlohntarif sollte der „Sozialsektor" in Österreich erfasst werden. Darauf deuten nicht nur die Bezeichnung des Mindestlohntarifs, sondern auch die im Mindestlohntarif ausschließlich geregelten „Berufsgruppen der sozialen Dienste" hin. Auch die Bezeichnung der Berufsgruppen unterstreicht, dass es dem Mindestlohntarif nicht darum ging, die „klassischen" Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen zu erfassen. Entgegen der Auffassung der Revisionswerberin ergibt sich auch aus den vorgenannten, in § 1 Punkt 2. lit a bis c des Mindestlohntarifs genannten Ausnahmen vom Geltungsbereich (zB Rettungs- und Krankentransportdienstleistungen) keine abweichende Beurteilung. Diese Ausnahmen dienen nur zusätzlicher Klarstellung.
Der Revisionswerberin ist einzuräumen, dass Gesundheitsdienstleistungen nach der Ausrichtung des vorliegenden Mindestlohntarifs eine durchaus maßgebliche Rolle spielen, allerdings eben nur im Rahmen der „Betriebe sozialer Dienste", für deren Arbeitnehmer/innen der Mindestlohntarif gelten soll. Ein Betrieb sozialer Dienste wird - was auch die Klägerin nicht in Frage stellt - vom Beklagten nicht geführt. Der gegenständliche Mindestlohntarif enthält keine „Berufsgruppen gesundheitlicher Dienste", sondern „Berufsgruppen sozialer Dienste". Dabei handelt es sich um kein Versehen. „Berufsgruppen gesundheitlicher Dienste" werden im Mindestlohntarif nicht benötigt, weil er eben nur für Arbeitnehmer/innen in Betrieben sozialer Dienste gelten soll. Weiterer Argumente gegen die Anwendung des Mindestlohntarifs auf den Beklagten bedarf es hier nicht, weshalb die zusätzlichen Überlegungen des Berufungsgerichts zur Satzungserklärung des BAGS-Kollektivvertrags und die diesbezüglichen Einwände der Revisionswerberin dahingestellt bleiben können.
Zusammenfassend wurde das Klagebegehren von den Vorinstanzen zu Recht abgewiesen. Die Revision der Klägerin zeigt keine unrichtige rechtliche Beurteilung auf, weshalb ihr ein Erfolg versagt bleiben muss.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.
Textnummer
E91721European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:009OBA00092.08G.0826.000Im RIS seit
25.09.2009Zuletzt aktualisiert am
29.01.2013