TE OGH 2009/9/8 11Os65/09g (11Os66/09d, 11Os67/09a, 11Os68/09y)

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Veröffentlicht am 08.09.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 8. September 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Rechtspraktikantin Dr. Walcher als Schriftführerin, in der Rechtshilfesache des Pavel B*****, AZ 5 HSt 41/08g der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Landesgerichts Innsbruck vom 11. Juni 2008, AZ 30 HR 275/08s, des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 27. Juni 2008, AZ 7 Bs 366/08v, des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 19. August 2008, AZ 11 HR 186/08m, und des Oberlandesgerichts Linz vom 8. September 2008, AZ 7 Bs 319/08y, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Rechtshilfesache AZ 5 HSt 41/08g der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis betreffend Pavel B***** verletzen die Beschlüsse

1./ des Landesgerichts Innsbruck vom 11. Juni 2008, GZ 30 HR 275/08s-3,

2./ des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 27. Juni 2008, GZ 7 Bs 366/08v-8,

3./ des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 19. August 2008, GZ 11 HR 186/08m-10 sowie

4./ des Oberlandesgerichts Linz vom 8. September 2008, GZ 7 Bs 319/08y-13,

das Gesetz in § 55 Abs 1a ARHG.

Text

Gründe:

Beim Landesgericht Innsbruck war ab 20. November 2007 ein Strafverfahren gegen Pavel B***** anhängig. Am 13. Februar 2008 brachte die Staatsanwaltschaft Innsbruck Anklageschrift gegen ihn wegen mehrerer, ausschließlich in Österreich begangener strafbarer Handlungen beim Landesgericht Innsbruck ein (AZ 29 Hv 14/08x) und gab unter einem die Erklärung ab, dass „zu einer weiteren Verfolgung des Genannten über die Anklageschrift hinaus (Einbruchsdiebstähle in Deutschland und Frankreich, Bankomatbehebungen in Italien) aufgrund des Umstands, dass es sich hiebei um Auslandstaten eines Ausländers handelt, kein Grund gefunden wird (diesbezüglich § 190 Z 1 StPO)".

Mit sogleich in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 31. März 2008, GZ 29 Hv 14/08x-44, wurde Pavel B***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1 und 2, 130 vierter Fall, 15 StGB und weiterer strafbarer Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

Die Staatsanwaltschaft Bozen ersuchte am 5. Mai 2008 im Rechtshilfeweg (ON 2 im Akt AZ 5 HSt 41/08g der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis) den „Untersuchungsrichter zuständig für Rechtshilfe am Landesgericht Innsbruck" um Einvernahme des Pavel B***** im Beisein seines Verteidigers sowie des zuständigen Staatsanwalts der Staatsanwaltschaft Bozen wegen des Verdachts der Begehung von zwei Einbruchsdiebstählen, begangen am 13. Oktober 2007 in Schlanders zum Nachteil des Boguslaw Z***** und am 22. Dezember 2007 in Bruneck zum Nachteil der Barbara H*****. Denn nach den vorliegenden Ermittlungsergebnissen sei Pavel B***** am 27. Dezember 2007 von der Polizeiinspektion Kematen wegen verschiedener Einbruchsdiebstähle in Österreich festgenommen worden; im Zuge der Beschuldigtenvernehmungen (ON 20 S 15 in AZ 5 HSt 41/08g bzw ON 6 S 139 im Verfahren AZ 29 Hv 14/08x des Landesgerichts Innsbruck) habe dieser auch den Einbruchsdiebstahl in Bruneck zugegeben, während er jenen in Schlanders bestritten hätte. Weil „diese Anhörungen von Seiten der Tiroler Polizei ohne Rechtsbeistand des inhaftierten" Pavel B***** durchgeführt worden und daher „in Italien prozessrechtlich nicht benutzbar" seien, sei es - so die Staatsanwaltschaft Bozen - notwendig, den Genannten im Beisein eines Verteidigers zu vernehmen; gleichzeitig werde um die Erlaubnis der Anwesenheit eines Vertreters der Staatsanwaltschaft Bozen bei der Vernehmung angesucht.

Die Staatsanwaltschaft Innsbruck beantragte daraufhin (im Verfahren AZ 1 HSt 32/08b) die Vornahme „der begehrten kontradiktorischen Vernehmung" des Beschuldigten gemäß § 165 Abs 2 StPO (ON 1 S 1).

Das Landesgericht Innsbruck wies mit Beschluss vom 11. Juni 2008, GZ 30 HR 275/08s-3, diesen Antrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die in § 165 Abs 1 StPO normierte Voraussetzung, dass eine Unmöglichkeit der Vernehmung in der Hauptverhandlung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen zu besorgen sei, läge nicht vor, zumal sich „aus dem Rechtshilfeersuchen dafür keine Anhaltspunkte" ergäben. Die Staatsanwaltschaft Bozen wünsche „eine normale" Vernehmung, bei der den zuständigen ausländischen Stellen die Anwesenheit und Mitwirkung gestattet werden könne, wenn dies zur sachgemäßen Erledigung erforderlich erscheint.

Der gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Innsbruck (ON 4) gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 27. Juni 2008, AZ 7 Bs 366/08v, keine Folge. Nach seiner Auffassung seien die Fälle, die zu einer kontradiktorischen Vernehmung berechtigten, in § 165 Abs 1 StPO abschließend geregelt. Dem Rechtshilfeersuchen seien diesbezüglich keine Anhaltspunkte zu entnehmen gewesen. Die Möglichkeit der Beiziehung eines Verteidigers oder jene der Anwesenheit eines Vertreters der Staatsanwaltschaft Bozen mache aus einer Vernehmung nicht schon eine kontradiktorische Vernehmung im Sinn des § 165 StPO. Für „gewöhnliche Beschuldigtenvernehmungen" sei nach § 55 Abs 1 ARHG die Staatsanwaltschaft zuständig, in deren Sprengel die Rechtshilfehandlung vorzunehmen ist. Ein vom österreichischen Strafverfahrensrecht abweichendes Vorgehen im Sinn des § 58 ARHG sei nicht beantragt worden.

Die Staatsanwaltschaft Innsbruck übermittelte daraufhin das Rechtshilfeersuchen am 8. Juli 2008 der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis, weil Pavel B***** am 29. April 2008 in die Justizanstalt Suben überstellt worden war (ON 1 S 3).

Am 18. August 2008 trat die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis das Rechtshilfeersuchen der Staatsanwaltschaft Bozen „zuständigkeitshalber gemäß § 55 Abs 1a zweiter Satz ARHG iVm § 57 Abs 1 EU-JZG zur Durchführung der Beschuldigtenvernehmung" an den Ermittlungsrichter des Landesgerichts Ried im Innkreis mit der Begründung ab, dass „das Thema der Rechtshilfe einen Zusammenhang mit dem inländischen Verfahren AZ 29 Hv 14/08x des Landesgerichts Innsbruck aufweist" (ON 1 S 3 verso).

Auch der Einzelrichter dieses Landesgerichts erklärte sich mit Beschluss vom 18. August 2008, GZ 11 HR 186/08m-10, zur Erledigung des Rechtshilfeersuchens für nicht zuständig, weil sich aus den Materialien zu § 55 Abs 1a ARHG ergebe, dass eine gerichtliche Zuständigkeit nur bestünde, soweit (gerade) ein Hauptverfahren geführt wird. Es genüge nicht, dass zu einem früheren Zeitpunkt ein Verfahren geführt wurde. Da das Strafverfahren AZ 29 Hv 14/08x des Landesgerichts Innsbruck bereits am 31. März 2008 beendet worden war, komme diese Zuständigkeitsvorschrift nicht mehr zum Tragen, sodass gemäß § 55 Abs 1 ARHG die Staatsanwaltschaft zur Erledigung des Rechtshilfeersuchens zuständig sei.

Der gegen diese Entscheidung von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis erhobenen Beschwerde (ON 11) gab das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 8. September 2008, AZ 7 Bs 319/08y, im Wesentlichen mit inhaltlich gleichlautender Begründung nicht Folge.

Das Rechtshilfeersuchen der Staatsanwaltschaft Bozen wurde demzufolge von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis einer Erledigung zugeführt (ON 18 [Beschuldigtenvernehmung des Pavel B***** vom 11. November 2008] und ON 19 [Erledigungsschreiben]).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen die Beschlüsse des Landesgerichts Innsbruck vom 11. Juni 2008 (ON 3), des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 27. Juni 2008 (ON 6), des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 19. August 2008 (ON 10) und des Oberlandesgerichts Linz vom 8. September 2008 (ON 13) mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Gemäß § 57 Abs 1 EU-JZG richtet sich die Zuständigkeit zur Erledigung eines Rechtshilfeersuchens eines Mitgliedstaats der Europäischen Union nach § 55 ARHG. Die von österreichischen Justizstellen zu erbringende Rechtshilfe ist grundsätzlich nach österreichischem Verfahrensrecht zu leisten; ein davon abweichendes Vorgehen ist nur nach Maßgabe des § 58 ARHG zulässig (RV 299 BlgNR 23. GP 10 [zu Z 22]; vgl auch § 58 erster Satz ARHG idF vor BGBl I 2007/112).

Nach § 55 Abs 1 erster Satz ARHG ist zur Erledigung eines Rechtshilfeersuchens unbeschadet der Abs 2 und 3 leg cit die Staatsanwaltschaft zuständig. Diese Bestimmung knüpft an die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen des neuen Ermittlungsverfahrens (Strafprozessreformgesetz BGBl I 2004/19) an, die eine Konzentration bei den Staatsanwaltschaften vorsehen (§ 20 Abs 3 StPO). Die Staatsanwaltschaft ist somit auch im Verfahren zur Leistung von Rechtshilfe zentraler Ansprechpartner für die ersuchenden ausländischen Justizbehörden und hat dabei grundsätzlich nach den Bestimmungen des zweiten Teils der Strafprozessordnung über das Ermittlungsverfahren vorzugehen. Sie kann daher etwa auch die Kriminalpolizei mit der Durchführung der begehrten Ermittlungen und Beweisaufnahmen beauftragen, soweit sie nicht von ihrer Befugnis zu eigener Ermittlungstätigkeit gemäß § 103 Abs 2 StPO Gebrauch macht. Vernehmungen über Ersuchen einer ausländischen Justizbehörde haben somit anstelle der Bezirksgerichte die Staatsanwaltschaften selbst vorzunehmen oder durch die Kriminalpolizei vornehmen zu lassen. Wird hingegen um Durchführung eines Lokalaugenscheins oder einer kontradiktorischen Vernehmung ersucht, so muss die Staatsanwaltschaft gemäß § 101 Abs 2 iVm § 104 Abs 1 StPO das Gericht befassen, weil insoweit per se gerichtliche Zuständigkeit besteht.

Gemäß § 55 Abs 1a ARHG hat das erkennende Gericht Auskünfte über ein Hauptverfahren sowie über die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder vorbeugenden Maßnahme zu erteilen; gleiches gilt für die Vernehmung von Personen und für die Überlassung von Akten, soweit im inländischen Verfahren bereits Anklage eingebracht worden ist und das Thema der Rechtshilfe mit dem inländischen Verfahren im Zusammenhang steht. Die Durchführung der Vernehmung obliegt in diesem Fall dem Einzelrichter (§ 31 Abs 1 Z 1 StPO, vgl auch die Materialien RV BlgNR 23. GP, 10).

Weder dem Gesetzeswortlaut noch den Gesetzesmaterialien ist ein Hinweis darauf zu entnehmen, dass die in § 55 Abs 1a ARHG angeordnete Gerichtszuständigkeit lediglich für den Zeitraum von der Einbringung der Anklage bis zur Rechtskraft des Urteils gelten soll. Vielmehr ist nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Bestimmung ab dem Zeitpunkt der Anklageeinbringung - unter der weiteren Voraussetzung eines thematischen Zusammenhangs mit dem inländischen Verfahren - das erkennende Gericht für die Vernehmung von Personen und die Überlassung von Akten, aber auch für Auskünfte über die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder vorbeugenden Maßnahme (welche erst nach eingetretener Rechtskraft des Urteils überhaupt möglich sind) zuständig; die allein relevante Prämisse, dass „die Anklage eingebracht worden ist", erfährt durch die rechtskräftige Beendigung des Hauptverfahrens mittels Urteils keine Änderung.

Da das Thema der Rechtshilfevernehmung mit dem inländischen Verfahren jedenfalls in Zusammenhang stand, verletzen die Beschlüsse des Landesgerichts Innsbruck vom 11. Juni 2008, des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 27. Juni 2008, des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 19. August 2008 sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 8. September 2008, das Gesetz in § 55 Abs 1a ARHG.

Im Hinblick darauf, dass somit jedenfalls die Zuständigkeit der Gerichte bestand, stellt sich die weitere Frage, ob eine kontradiktorische Vernehmung beantragt war, in diesem Fall nicht.

Der vom Landesgericht Ried im Innkreis und vom Oberlandesgericht Linz eingenommene Standpunkt hätte zudem zur Konsequenz, dass nach rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens die Staatsanwaltschaft als Beteiligte desselben für eine im Rechtshilfeweg begehrte Überlassung von (Gerichts-)Akten zuständig wäre.

Textnummer

E91819

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0110OS00065.09G.0908.000

Im RIS seit

08.10.2009

Zuletzt aktualisiert am

12.08.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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