Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Dorian I*****, geboren am 27. Jänner 1999, *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 12, 13, 23, Rößlergasse 15, 1230 Wien), über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 13. Jänner 2009, GZ 44 R 609/09x-U20, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 13. Oktober 2008, GZ 26 P 81/08a-U7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Der am 27. 1. 1999 geborene Dorian I***** ist der Sohn von Joanna J***** und Marcin I*****. Er ist - ebenso wie seine Eltern - polnischer Staatsangehöriger und lebte (jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz) bei seiner Mutter in Österreich. Der Vater ist unbekannten Aufenthalts (vermutlich in Polen). Am 3. 9. 2008 beantragte das Kind die Gewährung von Titelvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 69 EUR monatlich. Die Führung einer Exekution scheine aussichtslos, weil der Vater in Polen lebe. Ausgehend vom aktuellen Umrechnungskurs bewilligte das Erstgericht die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Höhe von 64 EUR monatlich für den Zeitraum von 1. 9. 2008 bis 31. 8. 2011.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge und änderte den erstinstanzlichen Beschluss im Sinne einer Antragsabweisung ab. Da der geldunterhaltspflichtige Vater nicht in Österreich lebe und arbeite, bestehe in Österreich kein Anspruch des Kindes auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen.
Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil die Verweisung des Kindes auf polnische Unterhaltsvorschüsse nicht minder problematisch erscheine als eine (dem Kind nicht zumutbare) Exekutionsführung in Polen; zu dieser Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liege seit dem Beitritt Polens zur EU keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag, den Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen. Der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, die Mutter und der Vater haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist; er ist im Sinn der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt. Im Revisionsrekurs macht das Kind geltend, es werde aufgrund der Staatsangehörigkeit diskriminiert, wenn ihm keine Unterhaltsvorschüsse gewährt würden: Bei einem Kind mit österreichischer Staatsangehörigkeit würde nämlich ein Vorschussanspruch bejaht werden, weil § 2 Abs 1 UVG den Anspruch nicht an die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft des geldunterhaltspflichtigen Elternteils binde.
Dazu wurde erwogen:
1. Der 10. Senat des Obersten Gerichtshofs hat in der letzten Zeit in mehreren Entscheidungen ausgesprochen, dass bei einer - abgesehen von der Staatsangehörigkeit des Kindes und der Eltern - „rein inländischen Situation" ein Vorschussanspruch eines in Österreich lebenden Kindes, das Staatsbürger eines EU-Mitgliedstaats ist, zu bejahen ist, weil das Kind sonst unmittelbar aufgrund der Staatsangehörigkeit diskriminiert würde (10 Ob 76/08m; 10 Ob 54/08a; 10 Ob 43/08h; RIS-Justiz RS0124262). In diesem Sinn hat der Bundesminister für Justiz schon in einem Erlass vom 20. Juni 2001, JMZ 4.589/358-I 1/2001 (ÖA 2001, 227), darauf hingewiesen, dass § 2 Abs 1 UVG so zu lesen sei, als ob anstelle des Begriffs „österreichische Staatsbürger" der Begriff „EWR-Bürger" stehen würde. Dies bedeute, dass alle in Österreich wohnenden EWR-Bürger unter den selben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätten.
2. Demgegenüber hat der Oberste Gerichtshof, der Argumentation des EuGH in den Fällen Offermanns (Rs C-85/99), Humer (Rs C-255/99) und Effing (Rs C-302/02) folgend, in Fällen, in denen außer Österreich noch ein weiterer Mitgliedstaat als zuständiger Staat für die Erbringung von Familienleistungen in Betracht kam, nach den Koordinierungsregeln der Verordnung (EWG) 1408/71 (Wanderarbeitnehmerverordnung) bestimmt, ob (auch) in Österreich ein Leistungsanspruch besteht, etwa weil Österreich der Beschäftigungsstaat eines Elternteils des (in Österreich wohnhaften) Kindes ist (10 Ob 87/08d uva; RIS-Justiz RS0116832, RS0124515). Für den Fall, dass kein Elternteil als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder als Selbständiger im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung in Österreich in das System der sozialen Sicherheit eingebunden ist, wird nach den Koordinierungsregeln ein Anspruch des Kindes auf Familienleistungen in Österreich verneint (vgl 10 Ob 84/08p).
3. Die Argumentation des Antragstellers in seinem Revisionsrekurs geht dahin, dass bei einem Kind mit österreichischer Staatsangehörigkeit ein Vorschussanspruch schon aufgrund der nationalen Vorschrift des § 2 Abs 1 UVG zu bejahen wäre; ein in Österreich lebendes Kind mit der Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats dürfe dann aufgrund des Diskriminierungsverbots nicht schlechter behandelt werden.
4. Der vorliegende Fall ist allerdings nicht unmittelbar auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots nach Art 12 EG lösbar, weil keine (abgesehen von der Staatsangehörigkeit) „rein inländische Situation" vorliegt. Im Hinblick auf den (möglichen) Aufenthalts- und Beschäftigungsstaat des Vaters kommt nämlich auch eine Leistungszuständigkeit Polens nach der Wanderarbeitnehmerverordnung in Betracht.
5. Der 10. Senat des Obersten Gerichtshofs ist jüngst in mehreren Fällen (siehe RIS-Justiz RS0124515) von der in den Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g (RIS-Justiz RS0122131) vertretenen Ansicht abgegangen, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen iSd Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 daran anknüpft, in welches System der sozialen Sicherheit der Geldunterhaltsschuldner eingebunden ist.
Die Rückkehr zur früheren Rechtsprechung (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77;
9 Ob 157/02g = RIS-Justiz RS0115509 [T3] ua) wurde in den
Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 83/08s, 10 Ob 78/08f und 10 Ob 87/08d, je vom 27. 1. 2009, ausführlich begründet und kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
5.1. Für die Anspruchsberechtigung nach der Wanderarbeitnehmer-VO 1408/71 (im Folgenden: „VO") ist neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige) fällt.
5.2. Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden. Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustande kommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält.
Im vorliegenden Fall besteht der grenzüberschreitende Gesichtspunkt darin, dass die Mutter, bei der sich der Antragsteller aufhält, eine polnische Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich ist.
5.3. Schließlich ist zu prüfen, ob für die vom Antragsteller begehrte Familienleistung nach den Koordinierungsregeln der VO 1408/71 die österreichische Leistungszuständigkeit besteht.
5.3.1. Abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen unterliegen Personen, für die die VO gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 13 Abs 1 der VO); dieser ist nach Titel II der VO zu bestimmen. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staats (Beschäftigungslandprinzip, Art 13 Abs 2 lit a der VO).
5.3.2. Grundsätzlich ist das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO begründet. Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners ist den Koordinierungsregelungen der VO nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem derjenige Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.
5.3.3. Daraus ist zu folgern, dass auch dann, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Recht seines Bechäftigungsstaats vermittelt, nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Anspruch auf Vorschüsse in einem anderen Mitgliedstaat durch den betreuenden Elternteil vermittelt wird. Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen bestehen kann, ist in Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats von einer Berufstätigkeit abhängen, eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen normiert (Wohnortstaatprinzip; Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 73 Rz 2). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind.
6. Für den vorliegenden Fall ist daraus Folgendes abzuleiten:
Da im Falle eines Zusammentreffens von Ansprüchen aus mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes vorgehen würde, ist zu klären, ob die Mutter des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (10 Ob 87/08d) in Österreich als tätige oder arbeitslose Arbeitnehmerin oder als Selbständige in das System der sozialen Sicherheit eingebunden war. Dem Akteninhalt ist zwar zu entnehmen, dass die Mutter seit 1. 2. 2008 als geringfügig beschäftigte Arbeitnehmerin in das System der sozialen Sicherheit in Österreich integriert ist (siehe dazu 4 Ob 117/02p = SZ 2002/77); Feststellungen dazu fehlen jedoch.
Dem Revisionsrekurs des Antragstellers ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.
Anmerkung
E9192110Ob26.09k-2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00026.09K.0908.000Zuletzt aktualisiert am
10.11.2009