Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Viktoria D*****, geboren am 7. Dezember 1992, vertreten durch das Land Oberösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Linz-Land, 4020 Linz, Kärntnerstraße 16), über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 9. Jänner 2009, GZ 15 R 465/08w-U45, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, der Beschluss des Bezirksgerichts Traun vom 29. September 2008, GZ 27 P 219/07w-U38, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Text
Begründung:
Die am 7. 12. 1992 geborene Viktoria D***** ist das Kind von Mag. Lyudmila G***** und Stefan D*****. Das Kind und seine Eltern sind bulgarische Staatsbürger. Die Minderjährige lebt bei ihrer Mutter in Österreich. Der Vater lebt und arbeitet in Bulgarien. Die Mutter bezieht Arbeitslosenunterstützung und ist in Österreich als Arbeitslose sozialversichert.
Mit dem am 29. 9. 2008 beim Erstgericht eingelangten Antrag beantragte die Minderjährige die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Höhe von 40 EUR monatlich. Der Vater sei aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichts Traun vom 17. 7. 2008, GZ 27 P 219/07w-U31, zur Unterhaltsleistung in dieser Höhe verpflichtet. Die Aussichtslosigkeit einer Exekutionsführung im Ausland liege nahe, wenn die Vollstreckbarkeit durch die Behördenpraxis im Ausland nicht gesichert sei. Dies treffe in diesem Fall zu, weil es keine konkreten Erfahrungen mit Bulgarien in der Behördenpraxis gebe. Es sei davon auszugehen, dass die Einbringlichmachung von Unterhaltsforderungen in Bulgarien mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und ein Verfahren zur zwangsweisen Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen sehr langwierig sein werde.
Das Erstgericht gewährte Unterhaltsvorschüsse in der beantragten Höhe für den Zeitraum vom 1. 9. 2008 bis 31. 12. 2010.
Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss dahin ab, dass es den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abwies. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g) knüpfe der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der Verordnung (EWG) 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners an, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Nach den Kollisionsregeln dieser Verordnung sei für das Bestehen eines solchen Anspruchs jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei. Danach habe ein im Inland aufhältiges Kind als Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats und Familienangehöriger eines nur in diesem Mitgliedstaat berufstätigen und allein dort in das System sozialer Sicherheit eingebundenen Geldunterhaltsschuldners keinen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse. Da der geldunterhaltspflichtige Vater als erwerbstätiger Arbeitnehmer in Bulgarien ausschließlich in das System sozialer Sicherheit in diesem Mitgliedstaat eingebunden sei, komme die Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse für die Antragstellerin nicht in Betracht. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs gemäß § 62 Abs 1 AußStrG zulässig sei, weil die zitierte jüngere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von der früheren Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen abweiche.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Beschlusses des Erstgerichts. Der Präsident des Oberlandesgerichts Linz als Vertreter des Bundes, der Vater als Unterhaltsschuldner und die Mutter als Zahlungsempfängerin haben keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.
Die Revisionsrekurswerberin macht im Wesentlichen geltend, sie falle in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung 1408/71, weil sie zumindest einen Elternteil habe, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne des Art 2 Abs 1 dieser Verordnung sei. Der Anspruch der Antragstellerin auf Unterhaltsvorschüsse könne daher auch von der obsorgeberechtigten Mutter, bei der die Antragstellerin lebe, abgeleitet werden. Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, hat zu dem von der Antragstellerin (allein) auf die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 in der geltenden Fassung (im Folgenden: VO 1408/71) gestützten Anspruch auf Unterhaltsvorschuss bereits in mehreren Entscheidungen (vgl insb die zu einem vergleichbaren Sachverhalt ergangene Entscheidung 10 Ob 78/08f sowie 10 Ob 84/08p mwN ua) darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH und der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i der VO 1408/71 ist, in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt (EuGH, Urteil vom 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205 Rz 54; RIS-Justiz RS0116311). Dieser Grundsatz wurde auch in der vom Rekursgericht zitierten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y) ausdrücklich aufrechterhalten. Als Arbeitnehmer im Sinn der VO 1408/71 gilt auch eine Person, die - wie die Klägerin - die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erfüllt (10 Ob 36/08d mwN ua).
Im gegenständlichen Fall ist nicht strittig, dass die Mutter der Antragstellerin, mit der sie in häuslicher Gemeinschaft lebt, als arbeitslose Arbeitnehmerin und damit auch die Antragstellerin als ihr Kind in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fällt. Es ist daher für die Frage des persönlichen Geltungsbereichs dieser Verordnung nicht mehr entscheidend, ob auch der unterhaltspflichtige Vater der Antragstellerin, der in Bulgarien unselbständig erwerbstätig ist, seiner Tochter den Status eines Familienangehörigen im Sinn der VO 1408/71 vermittelt (vgl 10 Ob 78/08f). Der für die Anwendung der VO 1408/71 weiters notwendige grenzüberschreitende Bezug besteht im gegenständlichen Fall darin, dass die Mutter, bei der sich die Antragstellerin aufhält, eine bulgarische Staatsangehörige ist, die in Österreich unselbständig erwerbstätig war und nunmehr Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezieht, somit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Wie ebenfalls bereits mehrfach (vgl 10 Ob 78/08f; 10 Ob 84/08p mwN
ua) dargelegt wurde, vermag sich der erkennende Senat der in der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y; 1 Ob 267/07g) vertretenen Ansicht, der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der VO 1408/71 knüpfe (ausschließlich) an die Rechtsstellung des Geldunterhaltsschuldners an, nicht anzuschließen. Diese Ansicht steht auch im Widerspruch zur früheren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua). Es ist nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff, 73 und 75 der VO 1408/71 vielmehr davon auszugehen, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Eine solche Anknüpfung an den versicherungspflichtigen Arbeitnehmer ist im Rahmen der VO 1408/71 grundsätzlich auch sachlich gerechtfertigt, weil der überwiegende Teil der erfassten Sozialleistungen auf Versicherungssystemen beruht. Eine Beschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Vaters als Geldunterhaltsschuldner ist den zitierten Koordinierungsregelungen nicht zu entnehmen und würde überdies auch mit dem Umstand, dass sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer als auch jene der Mutter als Arbeitnehmerin im Sinn der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen vermag, im Widerspruch stehen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.
Im gegenständlichen Fall unterliegt die Mutter der Antragstellerin nach den Kollisionsnormen der VO 1408/71 allein österreichischem Recht. Davon ausgehend hat die Antragstellerin einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG. In den vom Anwendungsbereich der VO 1408/71 erfassten Fällen ist nämlich - entgegen § 2 Abs 1 UVG - die österreichische Staatsbürgerschaft des antragstellenden mj Kindes nicht Anspruchsvoraussetzung (10 Ob 78/08f mwN ua). Wie der erkennende Senat in dieser einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden Entscheidung 10 Ob 78/08f weiters näher begründet hat, würde sich an diesem Ergebnis auch nichts ändern, wenn der Vater der Antragstellerin ebenfalls als Arbeitnehmer im Sinne der VO 1408/71 anzusehen wäre und die Antragstellerin im Hinblick auf Art 73 dieser VO auch nach bulgarischem Recht Anspruch auf eine dem Unterhaltsvorschuss vergleichbare Leistung hätte.
Da das Erstgericht somit die beantragten Vorschüsse im Ergebnis zu Recht gewährt hat, war spruchgemäß zu entscheiden.
Anmerkung
E9191910Ob19.09f-2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00019.09F.0908.000Zuletzt aktualisiert am
10.11.2009