Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 22. September 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Rechtspraktikantin Dr. Walcher als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Michael B***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 2, 148 zweiter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 16. April 2009, GZ 121 Hv 188/05m-52, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, des Angeklagten Michael B*****, seines Verteidigers Dr. Bereis sowie des Privatbeteiligtenvertreters Mag. Herzer zu Recht erkannt:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Michael B***** von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe (zusammengefasst wiedergegeben) zwischen 7. Februar 2001 und 30. Jänner 2003 in Wien mit dem Vorsatz, sich durch das Verhalten der Getäuschten unrechtmäßig zu bereichern und in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung schwerer Betrugstaten eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, in mehreren Angriffen namentlich genannte Mitglieder der Geschäftsleitung der S***** GmbH durch Täuschung über Tatsachen, nämlich über die Verwendung der von ihm beanspruchten finanziellen Mittel sowie unter Benützung inhaltlich falscher Beweismittel zur Freigabe der Auszahlung von Geldbeträgen, sohin zu Handlungen verleitet, die das genannte Unternehmen mit einem Betrag von insgesamt 24.616,61 Euro am Vermögen schädigten, indem er als Leiter der Vertriebssparte von ihm selbst erstellte und an die im Spruch näher bezeichneten Kunden (Geschäftspartner) der S***** GmbH gerichtete Bonusabrechnungsschreiben vorlegte und damit vorgab, die darin aufscheinenden Rückvergütungsbeträge würden als Bargeldbeträge den Kunden ausgefolgt werden, während er die Geldbeträge für sich behielt, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Mit Strafantrag vom 9. Dezember 2005 war zunächst Anklage gegen Michael B***** wegen des Verbrechens des schweren und gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall StGB erhoben worden (ON 14). Die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien sprach mit Urteil vom 12. Juni 2007 - im Hinblick auf das indizierte Vorliegen der Qualifikation des § 148 zweiter Fall StGB - ihre sachliche Unzuständigkeit aus (ON 39). Die zunächst nach Urteilsverkündung angemeldete Berufung der Staatsanwaltschaft wurde mit (am 4. Oktober 2007 bei Gericht eingelangter) Erklärung vom 30. August 2007 zurückgezogen (ON 1 S 3p); am 9. Oktober 2007 wurde daher der Akt der Staatsanwaltschaft zur weiteren Antragstellung übermittelt (ON 1 S 3qu).
Mit Anklageschrift vom 18. Februar 2009 (ON 46), die am Tag darauf bei Gericht einlangte, legte die Staatsanwaltschaft Wien Michael B***** das Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 2, 148 zweiter Fall StGB zur Last, ohne dass in der verstrichenen Zeit von einem Jahr und vier Monaten Ermittlungen durchgeführt oder andere Anträge erhoben worden wären.
Das Erstgericht sprach den Angeklagten von den eingangs wiedergegebenen Vorwürfen mit der Begründung einer verspätet erhobenen Anklageschrift gemäß § 259 Z 3 StPO frei.
Rechtliche Beurteilung
Gegen dieses Urteil richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO - richtig: Z 9 lit a (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 562) - gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, der keine Berechtigung zukommt.
Die von der Rechtsmittelwerberin vertretene Auffassung, der in § 516 Abs 1 erster Satz StPO verwendete Begriff „Urteil in erster Instanz" umfasse auch ein Unzuständigkeitsurteil (nach § 261 Abs 1 oder § 488 Abs 3 StPO), weshalb aufgrund des in diesem Verfahren am 12. Juni 2007 ergangenen (am 30. August 2007 in Rechtskraft erwachsenen) Unzuständigkeitsurteils des Einzelrichters die neuen Bestimmungen des Strafprozessreformbegleitgesetzes I, BGBl I 2007/93, (wonach die Staatsanwaltschaft nach Rechtskraft eines Unzuständigkeitsurteils binnen dreier Monate bei sonstigem Verlust des Verfolgungsrechts das Ermittlungsverfahren fortzuführen oder die Anordnung der Hauptverhandlung vor dem höherrangigen Gericht zu beantragen hat; vgl § 261 Abs 2 StPO) nicht anzuwenden gewesen wären, ist verfehlt.
Nach § 514 (nunmehr Abs 1) StPO traten die Bestimmungen des Strafprozessreformgesetzes (BGBl I 2004/19) und des Strafprozessreformbegleitgesetzes I, BGBl I 2007/93, am 1. Jänner 2008 in Kraft. Der den zeitlichen Geltungsbereich der StPO betreffende Grundsatz, dass ein Strafverfahren nach dem im Zeitpunkt der jeweiligen Prozesshandlung geltenden Recht durchzuführen ist (Markel, WK-StPO § 1 Rz 50), erfährt eine (allerdings bloß scheinbare) Ausnahme in § 516 Abs 1 erster Satz StPO, wonach die durch obgenannte Gesetze geänderten Verfahrensbestimmungen in jenen Strafverfahren nicht anzuwenden sind, in denen zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits „das Urteil in erster Instanz" gefällt worden ist.
§ 514 Abs 1 StPO und die Übergangsbestimmungen des § 516 StPO lassen bei gebotener Gesamtbetrachtung die klare Absicht des Gesetzgebers erkennen, mit Inkrafttreten der neuen Verfahrensbestimmungen am 1. Jänner 2008 sowohl die Stoffsammlung im Ermittlungsverfahren - mit Ausnahme vor diesem Zeitpunkt bereits beantragt gewesener Vorerhebungen (§ 516 Abs 2 erster Satz StPO) - als auch das Hauptverfahren in erster Instanz möglichst einheitlich dem neuen Verfahrensrecht zu unterstellen (vgl EBRV zum Strafprozessreformgesetz 25 BlgNR 22. GP 161). Demgemäß ist auch nach Aufhebung eines bereits vor diesem Zeitpunkt ergangenen Urteils erster Instanz „im Sinne der neuen Verfahrensbestimmungen vorzugehen" (§ 516 Abs 1 letzter Satz StPO).
Da ein Unzuständigkeitsurteil keine endgültige Beendigung des Hauptverfahrens, sondern bloß eine formale Zwischenerledigung in einem noch laufenden Verfahren darstellt (Lendl, WK-StPO Vorbem zu §§ 259, 260 Rz 4), womit die Tatfrage selbst nicht geklärt, sondern lediglich ausgesprochen wird, dass nach Ansicht des angerufenen Gerichts die Entscheidung in eben dieser Frage einem Gericht höherer Ordnung obliegt, ist § 516 Abs 1 erster Satz StPO teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass nur erstinstanzlichen Endurteilen - das sind demnach solche, die durch Entscheidung in der Sache selbst die Anklage erledigen - eine die früheren Verfahrensbestimmungen (vorerst) perpetuierende Wirkung zukommt. Diese Interpretation findet eine Stütze auch im Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung, indem diese - infolge Verwendung des bestimmten Artikels („das" Urteil in erster Instanz) - ersichtlich auf solche Urteile abstellt, mit welchen das erstinstanzliche Verfahren meritorisch erledigt wird.
Die gegenteilige Auslegung ist mit dem Zweck der Übergangsbestimmungen nicht zu vereinbaren, weil sie zur Folge hätte, dass in jenen Strafverfahren, in denen vor dem 1. Jänner 2008 ein Unzuständigkeitsurteil gefällt wurde, sowohl ein allfälliges ergänzendes Vorverfahren als auch das Hauptverfahren bis zur Beendigung in erster Instanz nach der früheren Rechtslage durchzuführen wären. Denn die Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens oder das Einbringen einer neuen Anklage kann einer „Aufhebung" des Unzuständigkeitsurteils im Sinn des § 516 Abs 1 letzter Satz StPO - worunter (dem Standpunkt der Rechtsmittelwerberin zuwider) nur die „Aufhebung ... im Rechtsmittelweg oder im Weg außerordentlicher Rechtsbehelfe (Wiederaufnahme, Erneuerung des Verfahrens)" zu verstehen ist (EBRV zum Strafprozessreformgesetz 25 BlgNR 22. GP 161) - nicht gleichgehalten werden.
Auch die Ansicht der Staatsanwaltschaft, nach Rechtskraft eines im Verfahren vor dem Landesgericht als Einzelrichter ergangenen Unzuständigkeitsurteils unterliege die Fortsetzung des Verfahrens selbst nach neuer Rechtslage (§ 488 Abs 3 StPO idF BGBl I 2007/93) keiner Fallfrist, überzeugt nicht.
Im Gegensatz zur früheren Rechtslage, wonach es sich bei der dem Staatsanwalt in § 261 Abs 2 erster Satz und in § 488 Z 6 letzter Satz StPO eingeräumten 14-tägigen Frist zur weiteren Antragstellung - aufgrund der Zitierung des § 27 StPO aF in beiden Bestimmungen - um eine Mahnfrist handelte (Lendl, WK-StPO § 27 aF Rz 6; vgl 15 Os 120/98), ist die Staatsanwaltschaft nunmehr gemäß § 261 Abs 2 erster Satz StPO verpflichtet, bei sonstigem Verlust des Verfolgungsrechts binnen dreier Monate nach Rechtskraft des Unzuständigkeitsurteils das Ermittlungsverfahren fortzuführen oder die Anordnung der Hauptverhandlung vor dem Geschworenengericht zu beantragen.
Gemäß § 488 Abs 1 StPO sind die Bestimmungen für das (als Modellverfahren dienende) Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht - daher grundsätzlich auch § 261 StPO - ebenso im Verfahren vor dem Landesgericht als Einzelrichter anzuwenden, soweit im Übrigen „nichts anderes bestimmt" wird.
Gemäß § 488 Abs 3 StPO hat das Landesgericht als Einzelrichter nach Anhörung der Beteiligten gegebenenfalls mit Urteil seine Unzuständigkeit auszusprechen. Sodann hat, sobald dieses Urteil rechtskräftig wurde, „der Ankläger die zur Fortführung des Verfahrens erforderlichen Anträge zu stellen". § 488 Abs 3 StPO enthält somit keine dem Ankläger für die Antragstellung gesetzte Frist, maW bestimmt eben „nichts anderes" als für das schöffengerichtliche Verfahren vorgesehen. Mit dieser Auslegung steht auch § 485 Abs 2 StPO nicht in Widerspruch, der für den Fall einer Beschlussfassung des Gerichts nach § 485 Abs 1 Z 1 oder Z 2 StPO ausdrücklich eine Fallfrist für die Staatsanwaltschaft normiert, weil hier eine im schöffengerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene Beschlussfassung (daher ohne Möglichkeit einer Verweisung auf entsprechende Bestimmungen) durch das Gericht geregelt wird.
Ungeachtet dieses generellen Verweises auf die Bestimmungen des schöffengerichtlichen Modellverfahrens bedurfte es - wie das Erstgericht zutreffend ausführte (US 12) - der ergänzenden Regelung des § 488 Abs 3 StPO insbesondere deshalb, weil § 261 StPO nur die sich aus der Zuständigkeit des Landesgerichts als Geschworenengericht ergebende Unzuständigkeit des Landesgerichts als Schöffengericht erfasst. Anders als in jenem (in dem gegebenenfalls die Verlesung der ursprünglichen Anklageschrift nach beantragter Anordnung einer Hauptverhandlung vor dem Landesgericht als Geschworenengericht genügt; vgl § 261 Abs 2 StPO) muss die Staatsanwaltschaft eine den Erfordernissen des § 211 Abs 1 und Abs 2 StPO entsprechende Anklageschrift anstelle des ursprünglichen Strafantrags einbringen. Die Bestimmungen der §§ 261 und 488 StPO müssen daher - zur Vermeidung sachlich nicht gerechtfertigter Wertungswidersprüche bei gleichgelagertem Regelungsinhalt und aufgrund der (auch aus den Materialien ersichtlichen) Absicht des Gesetzgebers, die frühere Ordnungsvorschrift für eine weitere Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft nach einem Unzuständigkeitsurteil grundsätzlich in eine Fallfrist von drei Monaten umzuwandeln (EBRV 231 BlgNR 23. GP 15) - als Einheit aufgefasst werden.
Der angefochtene Freispruch des Angeklagten erfolgte somit infolge verspäteter Einbringung der Anklageschrift zu Recht, weswegen die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - zu verwerfen war.
Textnummer
E91949European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0110OS00118.09A.0922.000Im RIS seit
22.10.2009Zuletzt aktualisiert am
12.08.2011