Rechtssatz 1
Da sich der Abs. 2 des Art. 47 der Grundrechtecharta auf Art.6 EMRK bezieht, dessen ursprüngliche Übersetzung anders lautet als die in der Erläuterung verwendete, kann davon ausgegangen werden, dass der Art. 47 der Grundrechtecharta nicht eine Verhandlungspflicht im wörtlichen Sinn auferlegen wollte, sondern er den Rechtsanspruch, dass die Sache innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, gewährleisten wollte. Unter der "Hörung einer Sache" ist jedoch die Behandlung der Sache, ob dies nun durch eine Verhandlung, durch Parteiengehör oder durch die Behandlung der Beschwerdeschrift geschieht, wird nicht normiert.
Gegen eine Verhandlungspflicht spricht überdies, dass in Asylverfahren zwar direkt innerstaatliches Recht Anwendung findet, jedoch auch Unionsrecht (z.B. Statusrichtlinie, Verfahrensrichtlinie) angewendet wird. Aus Art. 12 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie geht jedoch eindeutig hervor, dass auf eine persönliche Anhörung des Asylwerbers unter bestimmten Umständen verzichtet werden kann.
Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 47 der Grundrechtecharta den Gerichten tatsächlich eine Verhandlungspflicht auferlegen wollte - dies würde Art. 12 der Verfahrensrichtlinie widersprechen. Da der Art. 47 der Charta der Grundrechte allgemein das Recht auf ein unparteiisches (...) Gericht gewährleistet, die Verfahrensrichtlinie jedoch speziell die Mindestnormen für Asylverfahren regelt, ist die Statusrichtlinie in dieser Hinsicht lex specialis zur Charta der Grundrechte und daher vorrangig anzuwenden.
Daher ist auch aus europarechtlicher Sicht eine Verhandlung im Asylverfahren nicht zwingend vorgesehen.