Index
L4 Innere VerwaltungNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Aufhebung des im Sbg Landessicherheitsgesetz normierten absoluten Bettelverbotes in Salzburg als sachlich nicht gerechtfertigt und wegen Verstoßes gegen die Meinungsäußerungsfreiheit; Zulässigkeit des IndividualantragsRechtssatz
Aufhebung des §29 Sbg LandessicherheitsG, LGBl 57/2009.
Das in der bekämpften Bestimmung normierte ausnahmslose Verbot der Bettelei in Salzburg trifft den Antragsteller, der bisher ungehindert der Betteltätigkeit zunächst in Graz, später in Salzburg nachgegangen ist und dieses bislang nicht verbotene Verhalten seinem Vorbringen nach fortsetzen möchte, unmittelbar und aktuell in seiner Rechtssphäre. Kein zumutbarer Umweg; Provozierung eines verwaltungsbehördlichen Strafverfahrens nicht zumutbar; Individualantrag daher zulässig.
Bettelei nicht vom Schutzbereich des Art8 EMRK umfasst; vgl G132/11 vom selben Tag.
Das umfassende, nicht zwischen bestimmten Formen der Bettelei differenzierende Verbot des §29 Abs1 Sbg LandessicherheitsG erfasst auch jene Formen der Bettelei, in denen ein einzelner Bettler unaufdringlich und nicht aggressiv oder überhaupt "still", nur durch schriftlichen ("Taferl") oder symbolischen ("Hut") Hinweis an einem öffentlichen Ort einen anderen Menschen um finanzielle Hilfe bittet. Öffentlichen Orten ist jedoch die Begegnung mit anderen Menschen immanent.
Der Ausschluss des "stillen" Bettelns an öffentlichen Orten entbehrt im Lichte des Art7 Abs1 B-VG einer sachlichen Rechtfertigung.
Verstoß des umfassenden Verbotes jeglichen Bettelns an öffentlichen Orten auch gegen Art10 EMRK.
Auch ein Appell an die Solidarität und finanzielle Hilfsbereitschaft anderer ist von der Kommunikationsfreiheit des Art10 Abs1 EMRK geschützt. Eine gesetzliche Bestimmung, die auch solches verbietet, greift in die durch Art10 Abs1 EMRK geschützte Kommunikationsfreiheit derjenigen ein, die an öffentlichen Orten anderen Menschen ihre Bitte auf die dargestellte Weise unterbreiten wollen.
Die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer vermögen das Verbot auch stiller Formen der Bettelei, also des "Erbittens" von Hilfe, nicht zu rechtfertigen. Dieses an öffentlichen Orten ausnahmslos zu verbieten, ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.
Untrennbarer Zusammenhang des §29 Abs2 Sbg LandessicherheitsG mit dem das absolute Verbot normierenden §29 Abs1 leg cit.
Kostenzuspruch an den Antragsteller gem §65a VfGG.
Schlagworte
Bettelverbot, Meinungsäußerungsfreiheit, Privat- und Familienleben, VfGH / Individualantrag, VfGH / KostenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2012:G155.2010Zuletzt aktualisiert am
11.03.2013