Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Verlagsgruppe News GmbH gegen Österreich, Entscheidung vom 20.10.2009, Bsw. 43521/06.
Spruch
Art. 10 EMRK, Art. 37 EMRK - Streichung der Beschwerde nach Erneuerung des Verfahrens.
Streichung der Beschwerde aus der Liste der anhängigen Fälle (einstimmig).
Die belangte Regierung hat der Bf. die Kosten des Verfahrens vor dem GH in der Höhe von € 2.275,93 zu ersetzen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
In einer Sitzung des Bundesrats am 14.4.2005 wurde die Rehabilitierung der von der NS-Militärjustiz verurteilten Wehrmachtsdeserteure diskutiert. Im Zuge der Debatte ergriff S. K., designierter Präsident des Bundesrats und Mitglied der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), das Wort und behauptete, dass Deserteure „zum Teil aber Kameradenmörder" wären. Diese Rede stieß auf großes mediales Interesse und gab Anlass zu heftiger Kritik sowie zu Protesten gegen den Amtsantritt von S. K. als Präsident des Bundesrats. Dieser legte schließlich sein Mandat nieder.
Im Wochenmagazin Profil, dessen Medieninhaberin die Bf. ist, erschien am 2.5.2005 ein Artikel mit der Überschrift „Gespenster der Gegenwart" und dem Untertitel „NS Revisionismus. Mitten in die Jubiläumsfeiern der Republik platzen verharmlosende Äußerungen über die Zeit des Nationalsozialismus. Das ist peinlich, aber der Preis für eine Koalition mit den Freiheitlichen." Der Tenor des Artikels war, dass revisionistische Ansichten in den Reihen der FPÖ und des BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich) noch immer weit verbreitet wären. Der Text enthielt eine Reihe von Zitaten von Politikern der beiden Parteien, die eine Tendenz zeigen sollten, die Schrecken des NS-Regimes zu verharmlosen oder gar zu leugnen. Der Artikel war unter anderem mit einem Foto von S. K. illustriert, das mit der Bildunterschrift „Wehrmachtsdeserteure sind Kameradenmörder" versehen war.
Im Mai 2005 strengte S. K. ein medienrechtliches Verfahren gegen die Bf. an, in dem er eine Entschädigung beantragte. Das LG für Strafsachen Wien gab dem Antrag am 18.11.2005 statt und verurteilte die Bf. zur Zahlung einer Entschädigung von € 4.000,– und zur Urteilsveröffentlichung. Das LG stellte fest, dass der Antragsteller der pauschalen Verurteilung aller Deserteure als Kameradenmörder beschuldigt würde, wodurch der objektive Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt wäre. Den Wahrheitsbeweis erachtete es als nicht erbracht, weil der Antragsteller in seiner Rede im Bundesrat „zwischen normalen Deserteuren und solchen, die Kameraden und andere Personen erschossen haben" differenziert hätte.
Der dagegen erhobenen Berufung gab das OLG Wien mit Urteil vom 19.4.2006 nicht Folge. Das OLG ging davon aus, dass die Bildunterschrift den Eindruck erwecke, der Antragsteller hätte alle Deserteure als Mörder bezeichnet. Die im Fließtext enthaltene Einschränkung („zum Teil Kameradenmörder") sei außer Acht zu lassen, weil ein erheblicher Teil der Leser nur die Überschriften, Untertitel und Bildunterschriften lese. Daher sei die Ermittlung des Bedeutungsgehalts auf die Bildunterschrift zu beschränken, der ein eigenständiger Informationsgehalt zukäme.
Nachdem die Bf. die vorliegende Beschwerde eingebracht hatte, erhob die Generalprokuratur eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes. Der OGH behob am 26.2.2008 die Urteile des LG für Strafsachen Wien und des OLG Wien, weil sie bei der Ermittlung des Bedeutungsgehalts der inkriminierten Textpassage auf unzutreffende rechtliche Kriterien abgestellt hätten. Dazu sei nämlich grundsätzlich die durch den Bericht insgesamt vermittelte Information heranzuziehen. Eine Schlagzeile oder Bildunterschrift könne nicht isoliert vom Gesamtzusammenhang der damit inhaltlich im Konnex stehenden Ausführungen beurteilt werden. Dies gelte insbesondere für Artikel über Äußerungen eines politischen Mandatars. Denn wer sich in politischen Diskussionen an die Öffentlichkeit wendet, müsse damit rechnen, dass diese Aussagen gekürzt wiedergegeben werden. Die vom LG für Strafsachen und vom OLG vertretene isolierte Beurteilung von Überschriften würde die journalistische Freiheit in unzulässiger Weise einschränken und daher gegen Art. 10 EMRK verstoßen.
Im erneuerten Verfahren wies das LG für Strafsachen Wien den Antrag von S. K. mit Urteil vom 21.5.2008 ab. Die dagegen erhobene Berufung wurde am 12.1.2009 vom OLG Wien abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).
Zur Anwendung von Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK:
Die Regierung bringt vor, die Beschwerde sei angesichts des Urteils des OGH vom 26.2.2008 nach Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK aus der Liste der anhängigen Fälle zu streichen oder für unzulässig zu erklären, weil die Bf. nicht länger behaupten könne, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.
Die Bf. entgegnet, sie hätte keinen Ersatz der Kosten der Urteilsveröffentlichung und des Verfahrens vor dem GH erhalten.
Der GH erinnert daran, dass die Opfereigenschaft eines Bf. nur dann wegfällt und die Prüfung einer Beschwerde ausgeschlossen ist, wenn auf innerstaatlicher Ebene Wiedergutmachung geleistet und die Konventionsverletzung anerkannt wurde.
Der OGH stellte in seinem Urteil vom 26.2.2008 ausdrücklich fest, dass die umstrittenen Urteile Art. 10 EMRK verletzten. Seine Begründung beruhte auf den in der Rechtsprechung zur Konvention entwickelten Kriterien. Die Bf. behauptet jedoch, weiterhin Opfer einer Verletzung zu sein, weil ihr keine Entschädigung zugesprochen wurde. Der GH muss diese Frage nicht beantworten, weil die Voraussetzungen für eine Streichung der Beschwerde aus der Liste in jedem Fall gegeben sind.
Bei der Prüfung, ob eine Streitigkeit iSv. Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK einer Lösung zugeführt worden ist, muss erstens erwogen werden, ob die in Beschwerde gezogenen Umstände weiter bestehen und zweitens, ob auch die Auswirkungen einer möglichen Konventionsverletzung durch diese Umstände wiedergutgemacht wurden.
Die umstrittenen Urteile wurden vom OGH aufgehoben. Im erneuerten Verfahren folgte das LG für Strafsachen Wien der Argumentation des OGH und wies den Antrag von S. K. ab. Das Urteil des OLG Wien, das die Berufung abwies, wurde rechtskräftig.
Die Bf. hat somit bereits eine Erneuerung des Verfahrens erlangt – ein Ergebnis, das normalerweise gemäß § 363a StPO der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den GH folgen würde. Eine weitere Prüfung des vorliegenden Falls durch den GH ist daher nicht erforderlich.
Zur Frage, ob die Auswirkungen einer möglichen Verletzung wiedergutgemacht wurden, stellt der GH fest, dass die Bf. einen Ersatz der Kosten der Urteilsveröffentlichung beantragen kann. Es tut nichts zur Sache, dass dieses Verfahren noch anhängig ist. Die Bf. behauptet, im Falle einer Anwendung von § 39 MedienG in der Fassung der Novelle 2005 würden ihr nur mehr die Veröffentlichungskosten erstattet und nicht mehr das übliche Einschaltungsentgelt. Sie hat dazu aber keine weiteren Details vorgebracht und nicht gezeigt, dass der Kostenersatz dadurch bedeutungslos würde.
Was den Ersatz der Verfahrenskosten vor dem GH betrifft, kann ein solcher nach Art. 43 Abs. 4 VerfO EGMR zugesprochen werden, wenn eine Beschwerde aus der Liste gestrichen wird. Ein Anspruch auf Ersatz der Verfahrenskosten steht daher der Anwendung von Art. 37 Abs. 1 EMRK nicht entgegen.
Da die Fortsetzung der Prüfung der Beschwerde auch nicht zur Achtung der Menschenrechte erforderlich ist, wird sie aus der Liste gestrichen (einstimmig).
Die belangte Regierung hat der Bf. die Kosten des Verfahrens vor dem GH in der Höhe von € 2.275,93 zu ersetzen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Pisano/I v. 24.10.2002 (GK).
Shevanova/LV v. 7.12.2007 (GK).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Entscheidung des EGMR vom 20.10.2009, Bsw. 43521/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 323) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Entscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_6/News.pdf
Das Original der Entscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Textnummer
EGM00937Im RIS seit
02.04.2010Zuletzt aktualisiert am
03.04.2017