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41 INNERE ANGELEGENHEITENNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Entzug des gesetzlichen Richters durch Abweisung des Antrags einer Asylwerberin auf internationalen Schutz in nichtöffentlicher Sitzung wegen unrichtiger Zusammensetzung des Spruchkörpers des Asylgerichtshofes; zuständigkeitsbegründende Wirkung der Behauptung eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung; inhaltliche Entscheidung über das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung durch ein mit Richtern desselben Geschlechts besetztes Organ zu treffenRechtssatz
Aus §20 Abs2 AsylG 2005 ergibt sich keine Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung, wenn ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung behauptet. Hätte der Gesetzgeber nämlich jene Fälle, in denen ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung behauptet, von der allgemeinen Regelung des §41 Abs7 leg cit ausschließen wollen, hätte er dies in der genannten Bestimmung explizit normiert, zumal sowohl §20 Abs2 als auch §41 Abs7 leg cit in ihrer derzeitigen Fassung gleichzeitig mit dem den Asylgerichtshof ausgestaltenden BGBl I 4/2008 geschaffen wurden.
Ein Asylwerber muss einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung als Teil seines Fluchtvorbringens spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof geltend machen, damit §20 Abs2 AsylG 2005 anwendbar ist. Korrespondierend hat der Asylwerber auch spätestens in der Beschwerde das Verlangen zu stellen, dass trotz behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung eine mündliche Verhandlung nicht von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen ist. Der Gesetzgeber hat damit in einer Art83 Abs2 B-VG entsprechenden Weise festgelegt, dass der Behauptung des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung des Asylwerbers - in Zusammenhalt mit der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes - zuständigkeitsbegründende Wirkung zukommt. Wird diese Behauptung spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof aufgestellt, ist das Verfahren von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder vor einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen.
Das AsylG 2005 sieht prinzipiell eine Verhandlung durch den Asylgerichtshof über eine an ihn gerichtete Beschwerde vor.
Die Bestimmung des §20 Abs2 AsylG 2005 legt nun in Bezug auf diese prinzipielle Verhandlungspflicht fest, dass eine Verhandlung vor einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen ist. Eine Beschwerde in einem Fall, in dem der Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung stützt, muss also einem Richter desselben Geschlechts oder einem aus Mitgliedern desselben Geschlechts zusammengesetzten Senat zur Behandlung und - grundsätzlich vorgesehenen - Verhandlung zugewiesen werden. Dieser Richter oder Senat hat sodann erst zu entscheiden, ob unter den Voraussetzungen des §41 Abs7 leg cit eine Verhandlung unterbleiben kann.
Nach Auffassung des VfGH verbietet sich die Auslegung, dass sich die Zuständigkeit eines Richters desselben Geschlechts oder eines aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senates erst dann ergibt, wenn sich nach Prüfung des jeweiligen Beschwerdefalles die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist. Es würde nämlich gegen das Grundrecht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verstoßen, wenn ein nicht mit Richtern desselben Geschlechts besetztes Organ des Asylgerichtshofs darüber entscheiden soll, ob eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist oder nicht und dann im Fall der Notwendigkeit zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Angelegenheit einem Richter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zuzuweisen ist. Bei der Beantwortung der Frage, ob gemäß §41 Abs7 AsylG 2005 von einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden kann, handelt es sich um eine inhaltliche Entscheidung, zumal es bei der Anwendung der genannten Bestimmung um die - in erster Linie materielle - Bewertung geht, ob der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei die Tatsachenwidrigkeit des Vorbringens ergibt. Es würde somit der ursprünglich zuständige Richter oder Senat eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der - verfassungsrechtlich zutreffenden - Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung in der Beschwerde des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des Asylgerichtshofes treffen darf.
Eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, ist - sofern der Asylwerber nichts anderes verlangt - demgemäß gleich bei Beschwerdeanfall einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen. Die Zuständigkeit eines solchen Spruchkörpers wird bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem Bundesasylamt bzw in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat.
Indem der Asylgerichtshof durch einen aus einem vorsitzenden Richter und einer beisitzenden Richterin bestehenden Senat über die Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin, in der sie behauptete, in ihrem Herkunftsstaat sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein, in nichtöffentlicher Sitzung entschied, wurde sie in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, weil auf Grund der dargelegten Überlegungen über ihre Beschwerde durch einen aus zwei Richterinnen bestehenden Senat abzusprechen gewesen wäre.
In der angefochtenen Entscheidung wurde unter einem über die Beschwerde betreffend die minderjährigen Töchter der Erstbeschwerdeführerin abgesprochen. Da die Entscheidung betreffend die Erstbeschwerdeführerin aber durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §17 Abs2 und §2 Abs5 Z2 der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes für das Geschäftsjahr 2012 iVm §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidung betreffend die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin durch.
Kostenzuspruch iHv € 2.400,- an die Erstbeschwerdeführerin sowie € 2.640,- an die Zweit- und Drittbeschwerdeführerin. In den der Erstbeschwerdeführerin zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer iHv € 400,- enthalten. Die in ihrer Beschwerde beantragte "gerichtliche Entscheidungsgebühr" iHv € 220,- ist nicht zuzusprechen, weil die Eingabengebühr auf Grund der diesbezüglich bewilligten Verfahrenshilfe nicht geschuldet war (und auch tatsächlich nicht entrichtet wurde). In den der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag iHv € 200,- sowie Umsatzsteuer iHv € 440,- enthalten.
(Siehe ebenso unter Hinweis auf die vorliegende Entscheidung:
U1606/11, U343/12, U1515/12, ua, alle E v 10.10.12; weiters U399/12 ua, E v 22.11.12; U999/12, E v 22.02.13).
Entscheidungstexte
Schlagworte
Asylrecht, Behördenzuständigkeit, Behördenzusammensetzung, Asylgerichtshof, VfGH / KostenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2012:U688.2012Zuletzt aktualisiert am
28.03.2013