C6 406.163-3/2009/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Putzer als Vorsitzende und den Richter Dr. Schaden als Beisitzer über die Beschwerde der Frau XXXX, StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I des Bescheides des Bundesasylamtes vom 27.11.2009, FZ. 09 01.627-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.9.2012 zu Recht erkannt:
Der Beschwerde wird stattgegeben und Frau XXXX gemäß § 3 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Entscheidungsgründe:
1.1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, die der ethnischen Gruppe der Tadschiken angehört, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 8.2.2009 den Antrag, ihr internationalen Schutz zu gewähren (in der Folge auch als Asylantrag bezeichnet). Der Ehemann und die Kinder stellten ebenfalls Asylanträge: Begründend gab sie dazu bei ihren Einvernahmen an, ihr Mann habe in Afghanistan Probleme gehabt; ihre Töchter habe man zwangsverheiraten wollen. Ihr Mann, der für die Regierung Najibullah tätig gewesen sei, sei geschlagen und mit dem Umbringen bedroht worden. Als Frau in Afghanistan sei es schwierig. Es habe keine Sicherheit beim Verlassen des Hauses gegeben und sei auch belästigt worden.
1.2. Mit dem Bescheid, dessen Spruchpunkt I angefochten ist, wies das Bundesasylamt den Asylantrag gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, Art. 2 BG BGBl. I 100 (in der Folge: AsylG 2005), ab und erkannte der Beschwerdeführerin den Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I); gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 erkannte es ihr den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II); gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilte es ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.11.2010 (Spruchpunkt III).
Dieser Bescheid wurde der Beschwerdeführerin am 30.11.2009 persönlich zugestellt.
1.3. Gegen Spruchpunkt I dieses Bescheides richtet sich die vorliegende, fristgerechte Beschwerde vom 14.12.2009.
1.4. Am 27.9.2012 führte der Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführerin, ihr Ehemann und die Kinder als Parteien teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Das Bundesasylamt hatte auf die Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.
1.5. Der Asylgerichtshof erhob Beweis, indem er die Beschwerdeführerin in der Verhandlung vernahm und - außer den Akten des Verfahrens - folgende Unterlagen einsah, die auch in der Verhandlung erörtert wurden:
The Constitution of Afghanistan. Year 1382
UNHCR, UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, July 2009
UNHCR, UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, 17 December 2010 (HRC/EG/AFG/10/04)
Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 10.1.2012, Stand Jänner 2012, Berlin
Home Office, UK Border Agency, Afghanistan. Country of Origin Information (COI) Report. 11 October 2011
Corinne Troxler Gulzar, Afghanistan, Update: Die aktuelle Sicherheitslage, Bern, 23. August 2011 (SFH)
UN Commission on Human Rights, Sub-Commission on the Promotion and Protection of Human Rights, Fifty-fourth session. Item 6 (a) of the provisional agenda. Other Human Rights Issues. Women and Human Rights. Report of the Secretary-General on the situation of women and girls in the territories occupied by Afghan armed groups, submitted in accordance with Sub-Commission resolution 2001/15. E/CN.4/Sub.2/2002/27. 12 July 2002
UN Commission on Human Rights, Sixty-second session. Item 12 (a) of the provisional agenda. Integration of the Human Rights of Women and a Gender Perspective: Violence against Women. Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Yakin Ertürk. Addendum. Mission to Afghanistan (9 to 19 July 2005). E/CN.4/2006/61/Add.5. 15 February 2006
Zwei Jahre Afghanistan-Pakt: Menschenrechte und Wiederaufbau in Gefahr. Menschenrechtsreport Nr. 53 der Gesellschaft für bedrohte Völker - Juni 2008
U.S. Department of State, 2011 Country Reports on Human Rights Practices - Afghanistan (24. Mai 2012)
2. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
2.1.1. Zur Lage in Afghanistan stellt der Asylgerichtshof fest:
2.1.1.1. Allgemeine Entwicklung
Ende 2001 wurde das Regime der Taliban gestürzt; seither wurden eine Sonderratsversammlung einberufen, eine Übergangsregierung eingesetzt, Präsident, Parlament und Provinzräte gewählt sowie eine Verfassung verabschiedet. Am 20.8.2009 fanden bereits die zweiten Präsidentschafts- und Provinzratswahlen statt, am 18.9.2010 die zweiten Parlamentswahlen. Diese Wahlen waren von Gewalt und Betrugsvorwürfen überschattet; es gab jedoch weniger Anschläge als 2009.
Nach zwei Nominierungs- und Bestätigungsrunden blieben sieben Ministerposten unbesetzt, weil das alte Parlament 2010 die vorgeschlagenen Kandidaten abgelehnt hatte (allesamt Angehörige ethnischer Minderheiten). Die Kontroverse um die Zusammensetzung des Parlaments, die von der Regierung durch Einsetzung eines Sondergerichts mitverursacht wurde, hat Fortschritte in der Frage der Besetzung von Ministerposten in der Zwischenzeit unmöglich gemacht.
Die Verfassung sieht ein starkes Präsidialsystem mit einem Zwei-Kammer-Parlament (Unterhaus - Wolesi Jirga [Haus des Volkes] - und Oberhaus - Meshrano Jirga [Haus der Ältesten; es wird bestellt von den Provinz- und Distriktsräten und vom Präsidenten]; Art. 82 und 84) vor und enthält einen umfangreichen Grundrechtskatalog (Art.
22 - 59), der auch Bürgerpflichten und Verpflichtungen des Staates
zu Förderungsmaßnahmen vorsieht. Art. 3 enthält einen Islamvorbehalt; danach dürfen Gesetze nicht dem Glauben und den Bestimmungen des Islam zuwiderlaufen. Auf die Scharia wird dagegen nicht Bezug genommen, abgesehen davon, dass nach Art. 130 dann, wenn keine gesetzliche Norm anwendbar ist, in den Grenzen der Verfassung die Regeln der hanefitischen Rechtsschule anzuwenden sind. Staatsreligion ist der Islam (Art. 2); die Anhänger anderer Religionen haben Glaubensfreiheit. (Die Glaubensfreiheit und damit die Freiheit zum Wechsel der Religion kommt somit den Muslimen nicht zu.)
Die 2002 eingerichtete Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission ist in der Verfassung (Art. 58) verankert. Die derzeitigen neun Kommissionsmitglieder wurden im Dezember 2006 für fünf Jahre ernannt, basierend auf einem 2005 in Kraft getretenen Gesetz. Im März 2010 verabschiedete die Menschenrechtskommission einen strategischen Vier-Jahres-Plan, in dem Schwerpunkte definiert werden. Sie nimmt Individualbeschwerden an, kann Fälle von Menschenrechtsverletzungen an die Justiz weiterleiten und bei der Verteidigung der Rechte von Beschwerdeführern Unterstützung leisten. Sie ist bei der Beurteilung von Einzelfällen zunehmend Kritik aus den Reihen der Regierung und hoher Vertreter des Justizsektors ausgesetzt; das führte dazu, dass sie nun bei öffentlichen Auftritten und Äußerungen stärkere Zurückhaltung übt. Sie ist zudem dem Misstrauen und ständigen Anfeindungen durch ehemalige warlords und lokale Machthaber ausgesetzt. Ihnen sind die Anstrengungen, Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit aufzuklären und aufzuarbeiten, ein Dorn im Auge. Sie haben eine starke Stellung im Parlament und versuchen von dort aus, den Einfluss der Kommission zu beschränken. Ihre Tätigkeit wird auch durch die schlechter werdende Sicherheitslage beeinträchtigt.
Menschenrechtsorganisationen können ihrer Arbeit grundsätzlich frei nachgehen, müssen aber das gesellschaftliche Klima berücksichtigen. Personen, die sich in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen, sitzen häufig in einflussreichen Positionen und verfügen über ein erhebliches Droh- und Druckpotential. Ein wirkungsvolles Instrument ist die Beschuldigung, bestimmte Verhaltensweisen verstießen gegen den islamischen oder paschtunischen Sitten- oder Wertekanon. Niemand widerspricht bis heute solchen Behauptungen offen oder hinterfragt ihre Motivation. Dass das Handeln der politischen Akteure laufend auf "Islamkonformität" beobachtet und bewertet wird, engt ihren Handlungsspielraum ein.
Politische Parteien im westlichen Sinn gibt es nicht. Das Parteiengesetz, das im Herbst 2007 beschlossen und im September 2009 verkündet worden ist, sieht vor, dass die Parteien beim Justizministerium registriert werden. Auf der Grundlage dieses Gesetzes müssen sich alle Parteien neu registrieren; dieser Prozess ist derzeit im Gang. Während sich die Ex-Mujaheddin-Parteien auf ihre etablierten Machtstrukturen sowie erhebliche - auch illegitime - finanzielle Ressourcen stützen können, sind neue demokratische Parteien erst im Aufbau. Sie sind oft erheblichem Druck lokaler Machthaber ausgesetzt. Parteien konnten sich bisher nicht als Instrumente zur wirkungsvollen Artikulation und Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder im politischen Prozess etablieren. Auch die traditionellen (Mujaheddin-) Parteien sind bisher eher Interessenvertretungen örtlicher Machthaber.
Das Parlament, das im Dezember 2005 erstmals zusammengetreten ist, etabliert sich langsam als kritischer Kontrolleur der Regierung.
Die Machtstrukturen in Afghanistan sind vielschichtig und verwoben, die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren daher schwierig. Politische Rivalitäten beruhen in der Regel nicht auf ideologisch-programmatischen Gegensätzen, sondern auf Rivalitäten um Macht und wirtschaftliche Vorteile; ethnische Konflikte sind eher die Ausnahme. Allianzen werden unter pragmatischen Gesichtspunkten eingegangen. Im April 2007 schlossen sich zahlreiche hochrangige Mitglieder der ehemaligen Nordallianz zur "Nationalen Front" (NF) zusammen; sie besteht mittlerweile nur noch auf dem Papier. Präsident Karzai gelang es im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2009, einen großen Teil der oppositionellen Kräfte in sein Lager zu ziehen, darunter auch hochrangige Mitglieder der NF. Auch dass in Kabul im Juni 2010 eine Loya Jirga ("Friedens-Jirga") abgehalten worden ist, hat dazu beigetragen, manche oppositionellen Kräfte einzubinden. Erneute Bemühungen, eine vereinte nationale Opposition zu bilden, ua. durch den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Dr. Abdullah, haben im Dezember 2011 zur Gründung des Parteienbündnisses "Neue Koalition" geführt.
Häufig manifestiert sich politische Opposition in Afghanistan gewaltsam. Die größten Gruppierungen regierungsfeindlicher Kräfte sind die Taliban, die va. im Süden des Landes aktiv sind, das auf den Südosten konzentrierte Haqqani-Netzwerk und die Hezb e Islami Gulbuddin, die ihren Schwerpunkt in Teilen des Ostens und Nordostens Afghanistans hat.
Die rechtsprechende Gewalt ist nach der Verfassung (Art. 116) unabhängig. Ihr höchstes Organ ist das Oberste Gericht (Stera Makhama; Art. 116 der Verfassung). Auf Antrag der Regierung oder eines Gerichts kann das Oberste Gericht prüfen, ob Gesetze, Verordnungen und internationale Verträge mit der Verfassung vereinbar sind (Art. 121 der Verfassung). Es hat mit einem großen Rückstau an Fällen zu kämpfen.
Das Justizsystem ist nur teilweise und keineswegs überall funktionsfähig. Auf dem Land wird die Richterfunktion weitgehend von lokalen Räten (Shuras) übernommen. Die Taliban haben in Afghanistan ein parallelstaatliches Rechtssystem aufgebaut. In den meisten afghanischen Provinzen setzen sie neben Schattengouverneuren auch Schattenrichter und Polizeichefs ein. Ein wachsender Teil der Bevölkerung sieht sich gezwungen, sich der harschen Justiz der Taliban oder lokaler Machthaber zu unterwerfen. Die Taliban haben auch 2010 eigene "Prozesse" abgehalten und unzählige Menschen, insbesondere im Süden und Osten des Landes, wegen Spionage für die Regierung oder die internationalen Truppen verurteilt, enthauptet oder gehängt.
Bei Gericht sind oft nicht einmal die Texte der wichtigsten afghanischen Gesetze vorhanden; meist besteht keine Einigkeit über die Gültigkeit und damit über die Anwendbarkeit kodifizierter Rechtssätze. Tatsächlich nehmen die Gerichte, soweit sie ihre Funktion ausüben, eher auf Gewohnheitsrecht, auf Vorschriften des islamischen Rechts und auf die (oft willkürliche) Überzeugung des Richters als auf staatliche Gesetze Bezug. Korruption ist ein großes Problem im Justiz- und auch im Verwaltungsbereich. Die Verwaltung ist zudem wegen der verbreiteten Ämterpatronage ineffizient.
Der Schwerpunkt der Tätigkeit der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF (International Security Assistance Force) ist der Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte. Sie sollen bis 2014 in die Lage versetzt werden, die Verantwortung für die Sicherheit des Landes zu übernehmen. Im März 2011 hat Präsident Karzai die Übergabe der Sicherheitsverantwortung in den drei Provinzen Panjshir, Bamiyan und Kabul und in den vier Städten Mazar-e Sharif, Herat, Lashkar Gahr und Mehterlam beschlossen (erste Tranche). Ende November 2011 stimmte er der zweiten Tranche von Gebieten zu, in denen die "Transition" beginnen soll. Der Aufbau der Afghanischen Nationalarmee (ANA) verläuft schneller als geplant. Bis Ende Oktober 2012 sollen 195.000 Soldaten erreicht sein, bei der Afghanischen Nationalpolizei (ANP) 157.000 Polizisten. Da die Loyalität der neuaufgenommenen Soldaten nicht klar ist, besteht ein hohes Risiko, dass bewaffnete Sicherheitskräfte zu regierungsfeindlichen Gruppierungen überlaufen.
In der Praxis ist die Meinungs- und Pressefreiheit in einem bemerkenswerten Maß verwirklicht. Neben der staatlichen Rundfunkanstalt RTA gibt es über 35 (in Kabul: über 25) private Fernseh- und zahlreiche (in Kabul: 25) Radiosender. Auch die Schriftpresse ist sehr bunt. Die politische Ausrichtung der Medien reicht von westlich orientierten, regierungskritischen Sendern und Zeitungen bis zu Unternehmen, die von lokalen Machthabern für die eigene Propaganda genutzt werden.
Trotz sehr positiven Tendenzen berichten Nicht-Regierungsorganisationen und Journalistenverbände immer wieder von Einschüchterungen (bis hin zu Todesdrohungen) gegenüber Journalisten, die von der Regierung, von lokalen Machthabern und von Aufständischen ausgehen. Der Druck auf die Medien führt zT zu einer Selbstzensur.
Das Mediengesetz von 2009 lässt Raum für einen Einfluss der Regierung auf die Medien. So können "unislamische" Sendungen verboten werden; die Entscheidung liegt nach dem Gesetz bei der Mass Media Commission, in der Realität wurden entsprechende Verbote jedoch vom Kabinett ausgesprochen. Eine Neufassung des Mediengesetzes wird angestrebt.
2.1.1.2. Ethnische und religiöse Zusammensetzung
Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Die vier größten ethnischen Gruppen sind die Paschtunen (etwa 38 %), die Tadschiken (etwa 25 %), die Hazara (etwa 19 %) und die Usbeken (etwa 6 %). Die Verfassung zählt in Art. 4 weiters die Turkmenen, Balutschen, Pashai, Nuristani, Aymaq, Araber, Kirgisen, Qizilbash, Gujur, Brahwui "und andere" auf und enthält in Art. 22 ein Diskriminierungs- und Privilegierungsverbot, das für alle Bürger gilt. In der Regierung sind alle großen ethnischen Gruppen vertreten. Es gibt Bemühungen, Armee- und Polizeikräfte so zu besetzen, dass alle ethnischen Gruppen angemessen repräsentiert sind. Die Situation der ethnischen Minderheiten hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft besonders für die traditionell diskriminierten Hazara insgesamt verbessert, obwohl die hergebrachten Spannungen zwischen den Ethnien in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehen und auch immer wieder aufleben. Etwa eine Mio. Afghanen - mehrheitlich Paschtunen - sind Nomaden (Kuchis oder Kutschis); sie leiden unter den ungeklärten Boden- und Wasserverhältnissen. Ihre jährlich im Sommer wiederkehrende Wanderung in fruchtbare Weidegebiete der sesshaften Hazara in der Provinz Wardak führte 2008 und 2010 zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
Offizielle Landessprachen sind Dari und Paschtu; in Gebieten, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Usbekisch, Turkmenisch, Belutschi, Pashai, Nuristani, Pamiri oder Arabisch spricht, sind diese Sprachen eine dritte offizielle Sprache (Art. 16 der Verfassung; die Bestimmung bedarf eines Ausführungsgesetzes).
Nach offiziellen Schätzungen sind 84 % der afghanischen Bevölkerung sunnitische und 15 % schiitische Muslime. Andere Glaubensgemeinschaften (wie zB Sikhs, Hindus und Christen) machen nicht mehr als 1 % der Bevölkerung aus.
2.1.1.3. Sicherheitslage
Seit August 2008 liegt die Sicherheitsverantwortung für den städtischen Bereich der Provinz Kabul nicht länger in den Händen der ISAF, sondern der ANA und der ANP. Die Aufstandsbewegung verübte seit Jänner 2011 auch in Kabul mehrere spektakuläre Selbstmordanschläge gegen nicht-militärische Ziele (auf ein Einkaufszentrum und auf einen besonders von Ausländern besuchten Supermarkt, auf das Krankenhaus der ANA, auf das Intercontinental Hotel, auf das Botschaftsviertel; Ex-Präsident Rabbani wurde ermordet). Damit endete in Kabul eine praktisch anschlagsfreie Zeit von fast achtzehn Monaten. Dessen ungeachtet ist die Sicherheitslage in Kabul unverändert stabil und weiterhin deutlich ruhiger als noch zwei Jahre zuvor.
Nationale und internationale Sicherheitskräfte bekämpfen gemeinsam die Aufstandsbewegung mit Schwerpunkt im Südwesten (Helmand), Süden (Kandahar, Uruzgan) und Osten (Kunar, Khost, Paktika, Paktia) des Landes. Hier konzentrieren sich auch die militärischen Operationen der ISAF. Die Frühjahrsoperationen (April bis Juni 2011) der afghanischen Sicherheitskräfte und der ISAF zielten darauf, der Aufstandsbewegung den erneuten Zugang zu 2010 verlorenen Gebieten und den Gewinn neuer Rückzugsgebiete zu verwehren. Beide Ziele wurden 2011 erreicht. Auch wenn der Schutz der Zivilbevölkerung eines der strategischen Hauptziele der ISAF ist, kann bei Militäroperationen gegen Aufständische nicht ausgeschlossen werden, dass es auch zu zivilen Opfern kommt. Zeitgleich distanziert sich die Bevölkerung überall dort zunehmend deutlicher von der Aufstandsbewegung, wo es der afghanischen Regierung gelingt, ihre Lebensverhältnisse spürbar zu verbessern.
Die ISAF-Regionalkommandos West und Nord gehören unverändert zu den vergleichsweise befriedeten Gebieten des Landes. Nordafghanistan verzeichnet weniger als 4 % der landesweit registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Im Verantwortungsbereich des Regionalkommandos Nord gingen sicherheitsrelevante Zwischenfälle nach einem signifikanten Anstieg 2009 und 2010 im dritten Quartal 2011 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um etwa 50 % zurück. Die Operationsführung der afghanischen Sicherheitskräfte und der ISAF in den Regionen Kunduz und Nord-Baghlan verdrängte die regierungsfeindlichen Kräfte weitgehend aus traditionellen Hochburgen wie den Distrikten Chahar Darah oder Imam Sahib. Die Aufständischen antworteten auf diese militärischen Rückschläge mit einer Serie spektakulärer Angriffen auf afghanische Sicherheitskräfte und Institutionen (zB mit der Ermordung des Gouverneurs und des Polizeichefs und mit Anschlägen auf Rekrutierungsbüros). Es gelang ihnen jedoch nicht, auf diese Weise die Lage in der Provinz nachhaltig zu destabilisieren bzw. die im Vorjahr verlorengegangenen Gebiete zurückzugewinnen. Auch in Baghlan, Takhar und in den nordwestlichen Provinzen (Farayab, Balkh) konnten militärische Fortschritte verzeichnet werden, allerdings nicht im gleichen Ausmaß wie um Kunduz.
Die oben (Pt. 2.1.1.1) erwähnten oppositionellen Kräfte, nämlich die Taliban, das Haqqani-Netzwerk und die Hezb-e Islami Gulbuddin, sind fragmentiert und bekämpfen einander gelegentlich auch. Ihre Gewalttaten, bei denen sie keine Rücksicht auf Zivilisten nehmen, richten sich va. gegen Staatsorgane und Vertreter der internationalen Gemeinschaft einschließlich Nicht-Regierungsorganisationen. Regierungsbeamte und ihre Familienangehörigen sind Ziel von Anschlägen regierungsfeindlicher Kräfte, ebenso Zivilisten, die mit der ISAF zusammenarbeiten oder denen dies unterstellt wird; der Hochkommissär der Vereinten Nationen für Flüchtlinge rechnet sie zu jenen Gruppen, die eine besonders sorgfältige Gefahrenprüfung durch die Asylbehörden erfordern. Diese Leute werden gewarnt und aufgefordert, ihre Tätigkeit aufzugeben, oft in der Form von "Nachtbriefen". Es gibt Berichte, wonach Leute, die verdächtigt wurden, für die internationalen oder die afghanischen Truppen "spioniert" zu haben, von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden sind.
Das Haqqani-Netzwerk operiert entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze, gilt als stark pro-pakistanisch ausgerichtet und unterhält Verbindungen zu al-Qaida. Es ist hauptsächlich in Loya Paktia aktiv, verübte aber auch Anschläge in Kabul. Die Zahl seiner Kämpfer wird auf etwa 2500 geschätzt.
Den Taliban gelingt es immer wieder, trotz massivsten Sicherheitsvorkehrungen einschneidende und großangelegte Operationen in den Zentren der Macht auszuführen. Sie haben inzwischen in 33 der 34 Provinzen Untergrundstrukturen aufgebaut. 2010 folgte der Ankündigung der Operation Al Faath eine massive Kampagne, der zahlreiche Regierungsbeamte, Shura-Mitglieder, Dolmetscher, Entwicklungshelfer, Lastwagenfahrer und Angehörige der Sicherheitskräfte zum Opfer fielen. Die Anschläge der regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden 2011 vermehrt genau in jenen Gebieten verübt, die im Juli den afghanischen Sicherheitskräften übergeben wurden. Die Taliban und weitere regierungsfeindliche Gruppierungen verfügen über eigene Gefängnisse und sollen bei Verhören Folter angewandt haben.
Es gibt Hinweise darauf, dass einzelne Regierungsmitglieder und einflussreiche Parlamentsabgeordnete die Verfolgung, Repression und Tötung politischer Gegner billigen. Von einer organisierten, gezielten oder zentral gesteuerten Verfolgung kann dennoch nicht die Rede sein.
Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus, meist Anführern von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind. Die Zentralregierung hat auf viele von ihnen keinen Einfluss, sie kann sie weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder sie vor Gericht bringen. Kriegsherren ("warlords"), Drogenbarone, Regionalkommandeure und Milizenführer unterdrücken in ihrem Machtbereich Opposition oft mit Waffengewalt. Auch in den Teilen des Landes, in denen keine regierungsfeindlichen Kräfte operieren, kommt es regelmäßig zu politisch motivierter Gewaltanwendung. Nach wie vor beherrschen örtliche Machthaber verschiedene Regionen. Sie bekämpfen die Regierung Karzai nicht mit kriegerischen Mitteln, wahren aber ihren Macht- und Einflussbereich vor Ort immer wieder gewaltsam gegenüber rivalisierenden Gruppen.
2.1.1.4. Situation der (ehemaligen) Taliban
Gespräche mit führenden Vertretern des bewaffneten Aufstandes sollen den Weg zu einer Aussöhnung mit den Taliban und anderen regierungsfeindlichen Kräften bereiten, während gleichzeitig den einfachen Kämpfern und der mittleren Führungsebene eine legale zivile wirtschaftliche Perspektive und eine Reintegration in die Gesellschaft angeboten werden sollen. Nach anfänglichen Verzögerungen ist das Reintegrationsprogramm inzwischen erfolgreich angelaufen. Die Teilnehmerzahl steigt kontinuierlich und lag Mitte Dezember 2011 bei etwa 2997 ehemaligen Kämpfern. Eine "Friedens-Jirga" gab Präsident Karzai im Juni 2010 den notwendigen Rückhalt für Gespräche mit den Taliban und anderen regierungsfeindlichen Kräften, bekräftigte aber, dass jeder Ausgleich an die Aufgabe des bewaffneten Kampfes, die Anerkennung der Verfassung und die Loslösung von al-Qaida gebunden sein müsse. Im September 2011 wurde Rabbani, der Präsident des Hohen Friedensrates, der mit dem Aussöhnungsprozess betraut ist, ermordet, das hat das Verhältnis Afghanistans zu Pakistan schwer belastet. Als Reaktion auf das Attentat hat Präsident Karzai die Vorgehensweise bei den Friedensgesprächen in Frage gestellt, wodurch der Friedensprozess vorübergehend ins Stocken geraten ist.
Aussöhnung und Reintegration werden in der afghanischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Zwar wird das Ziel einer Wiedereingliederung feindlicher Kämpfer von kaum jemandem in Frage gestellt. Viele Afghanen befürchten jedoch weitreichende Zugeständnisse an die Taliban, welche die seit 2001 erzielten Fortschritte, va. im Menschenrechtsbereich, in Frage stellen würden.
Am 18.6.2011 bestätigte die afghanische Regierung erstmals offiziell Verhandlungen zwischen den USA und Angehörigen der Taliban über ein Ende des Krieges. Dies weist auf einen Strategiewechsel der NATO-Staaten hin: Eine politische Lösung soll einen möglichst raschen Abzug der internationalen Truppen erlauben. Bereits im März und im Herbst 2010 sollen Gespräche zwischen Angehörigen der afghanischen Regierung und den Taliban sowie Abgeordneten Hekmatyars stattgefunden haben. Bei der Ankündigung ihrer Frühjahrsoffensive am 30.4.2011 haben die Taliban Friedensgespräche jedoch ausgeschlossen, solange internationale Truppen in Afghanistan stationiert sind.
Im Jänner 2010 wurde bekannt, dass das vom Parlament 2007 verabschiedete Amnestiegesetz unter dem Datum des 3.12.2008 im Amtlichen Gesetzblatt veröffentlicht worden war. Seinerzeit hatte Präsident Karzai unter internationalem Druck versprochen, es nicht zu unterzeichnen. Es sieht eine zeitlich unbegrenzte Generalamnestie für fast alle Vergehen und Verbrechen vor, die von bewaffneten Gruppierungen begangen wurden oder noch werden. Voraussetzungen, um in den Genuss der Amnestie zu kommen, sind nur die Aufgabe des bewaffneten Kampfes und die Akzeptanz der geltenden Verfassungs- und Rechtsordnung. Das Gesetz schafft damit auch eine der Voraussetzungen für die Aussöhnung mit den Aufständischen und für ihre Reintegration, es untergräbt aber Bemühungen darum, die schweren Menschenrechtsverbrechen der vergangenen 30 Jahre aufzuarbeiten.
2.1.1.5. Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung ist immer noch unzureichend, weil es an Medikamenten, Geräten, Ärzten und ausgebildetem Hilfspersonal mangelt. Die durchschnittliche Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung liegt bei etwa 50 Jahren für Frauen und bei 47 Jahren für Männer. Auch in Kabul, wo es mehr Krankenhäuser als im übrigen Afghanistan gibt, reicht die medizinische Versorgung für die Bevölkerung noch nicht.
Gesundheitseinrichtungen sowie Ärzte und Pflegepersonal gehören weiterhin zu den Zielen regierungsfeindlicher Gruppierungen. Personen wurden bedroht, eingeschüchtert und angegriffen. Zahlreiche Personen wurden entführt, um Lösegeld zu erpressen oder um Verletzte an der Front behandeln zu lassen.
2.1.1.6. Situation der Frauen
2.1.1.6.1. Menschenrechtslage allgemein
Die Menschenrechtslage afghanischer Frauen war bereits vor dem Taliban-Regime durch orthodoxe Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrencodices geprägt. Die Geschlechterpolitik der Taliban war darauf ausgerichtet, den öffentlichen Raum von Frauen zu "säubern". Sie hatte vier Elemente:
Frauen aus der Beschäftigung - ausgenommen im Gesundheitssektor - auszuschließen, sie vom Schulbesuch auszuschließen, Bekleidungsvorschriften für Männer und Frauen einzuführen, welche die Frauen in die Burka zwangen, und die Bewegungsfreiheit der Frauen streng zu kontrollieren. Obwohl die Frauenrechte nun im staatlichen Recht gestärkt worden sind, werden sie für den größten Teil der Afghaninnen nicht verwirklicht. Die meisten Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten Rechte nicht bewusst. Diese Rechte zu verteidigen, ist in den seltensten Fällen möglich, da die Justiz konservativ-traditionell geprägt ist und von männlichen Richtern bestimmt wird und da kaum qualifizierte Anwälte zur Verfügung stehen. Shuras - die nach Schätzungen bis zu 80 % aller Streitigkeiten entscheiden - verletzen häufig die Rechte von Frauen. Staatliche Akteure sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen.
Viele Afghaninnen tragen die Burka noch immer, weil sie sich damit vor Übergriffen sicher fühlen. Gesellschaftliche Konventionen beschränken die Freiheit der Frauen, sich ohne männliche Zustimmung oder Begleitung frei zu bewegen. Unbegleitete Frauen sind gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Oberste Gerichthof entschied 2010, dass das "Wegrennen von Zuhause" eine Straftat sei.
Frauen werden weiterhin im Familien-, Erb- und Zivilverfahrenssowie im Strafrecht benachteiligt. Dies gilt va. beim Straftatbestand des "Ehebruchs", wonach im Ergebnis selbst Opfer von Vergewaltigungen bestraft werden können. Das durchschnittliche Heiratsalter von Mädchen liegt bei 15 Jahren, obwohl ein Mindestalter von 16 Jahren gesetzlich verankert ist. Sexualverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat auf Grund des Zustands des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet uU mit der Inhaftierung der Frau, sei es auf Grund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften, sei es zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau oder Tochter eingesperrt als ihr Ansehen beschädigt sehen will. Viele Frauen sind wegen so genannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten, vor einem gewalttätigen Ehemann flohen oder ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben. Frauen werden aus solchen Gründen oft auf Ersuchen der Familienangehörigen in Haft genommen, weiters wenn sie versuchen, Verbrechen anzuzeigen, deren Opfer sie geworden sind, oder - dies betrifft auch Männer - "stellvertretend" für verurteilte männliche Angehörige, aber auch, um sie vor Gewalttaten zu schützen. Im Gefängnis sollen Frauen häufig vom Gefängnispersonal vergewaltigt werden.
Im Frühjahr 2009 verabschiedete das afghanische Parlament das Schiitische Personenstandsgesetz mit zahlreichen Bestimmungen, die Frauen diskriminieren. Nach Protesten unterzeichnete Präsident Karzai am 19.7.2009 eine entschärfte Fassung, die er als Dekret in Kraft setzte. Gestrichen oder entschärft wurden Passagen, die regeln sollten, wie häufig die Eheleute zu Geschlechtsverkehr verpflichtet seien, oder solche, welche die Ehe mit oder unter Minderjährigen betrafen (und sie damit implizit anerkannten) oder die das Verlassen des Hauses durch die Frau an die Zustimmung des Mannes banden. Geblieben sind Bestimmungen, wonach die Frau nur zu "legalen Zwecken" und nur in dem Maße ausgehen darf, "wie örtliche Gewohnheit es zulässt", weiters Bestimmungen zur Einschränkung des Rechts der Frau, zu arbeiten, zur Polygamie, zur finanziellen Kompensation von Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen, zur Verweigerung des Unterhalts durch den Mann, wenn die Frau die "ehelichen Rechte" verweigert, und zu Unterschieden im Erbrecht, va. bei Immobilien. -
Die Situation der Frau wird theoretisch durch das "Gesetz zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen" (EVAW-Gesetz) verbessert, das Präsident Karzai auch am 19.7.2009 unterzeichnet hat. Das Gesetz sieht Strafen für Gewalt gegen Frauen vor, darunter für Vergewaltigung (außer durch den Ehegatten), für Schlagen, Zwangsverheiratung, Verheiratung Minderjähriger ua. Es hat nach seinem Schlussartikel Vorrang vor allen entgegenstehenden Normen und enthält strafbewehrte Bestimmungen mit dem Ziel, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen und zur Schaffung eines Bewusstseins von der Würde und den Rechten der Frau beizutragen. Das Gesetz ist aber vielen Behörden gar nicht bekannt.
Auf Grund des langen Bürgerkrieges sind rund 1,5 Mio. Frauen zu Witwen geworden. Ihre Lage ist besonders schlimm, da sie keine finanzielle Unterstützung erhalten und sich und ihre Kinder oft nur mit Betteln ernähren können. 94 % von ihnen können weder lesen noch schreiben. Dabei sind sie noch jung, durchschnittlich 35 Jahre, und haben meist vier Kinder. In ihrer Not ernähren sich immer mehr junge Frauen durch Prostitution, die offiziell verboten ist.
2.1.1.6.2. Gewalt gegen Frauen
Eine große Zahl der Heiraten (geschätzt 70 %) sind Zwangsheiraten; in der Mehrzahl der Heiraten waren die Bräute jünger, als das Gesetz vorschreibt (16 Jahre oder 15, wenn ein Vormund und ein Gericht zustimmen). Viele der betroffenen Mädchen sollen als Entschädigung für ein Verbrechen oder zur Schuldentilgung angeboten worden sein. Nach Schätzungen waren 87 % der Frauen Opfer häuslicher Gewalt.
Das Gesetz stellt Vergewaltigung unter Strafe, dies erstreckt sich aber nicht auf die Vergewaltigung in der Ehe. Männer, die der Vergewaltigung angeklagt werden, behaupten oft, es habe sich um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt, dies führt oft zu einer Anklage der Frau wegen Ehebruchs. Polizei und Justiz sind sehr zögerlich bei der Verfolgung von Gewalt gegen Frauen, einschließlich Vergewaltigung.
Fälle, in denen Frauen wegen "Ehebruchs" von Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern umgebracht werden (so genannte "Ehrenmorde"), kommen besonders in den paschtunischen Landesteilen vor. Zwangsheirat bereits im Kindesalter, "Austausch" weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden sowie weit verbreitete häusliche Gewalt kennzeichnen die Situation der Frauen. Opfer sexueller Gewalt sind dabei auch innerhalb der Familie stigmatisiert. Das Sexualdelikt wird in der Regel als "Entehrung" der ganzen Familie aufgefasst.
Es gibt kaum Daten über die Gewalt gegen Frauen, aber Hinweise darauf, dass sie weit verbreitet ist und dass Frauen und Mädchen zu Hause und auf der Straße, in intimen Beziehungen und bei der Begegnung mit Fremden, im Zusammenhang mit der herrschenden Auslegung der Tradition und der Scharia und in jenem diskriminierender Gesetze und Gesetzesanwendung in Gefahr sind. Fälle von Vergewaltigung, Entführung und Zwangsverheiratung durch mächtige Kommandanten sind nicht selten.
In Gebieten, in denen die Taliban an Macht gewinnen, wird die Sharia streng interpretiert und werden die Rechte von Frauen massiv eingeschränkt.
Frauen, die in der privaten und in der öffentlichen Sphäre Gewalt erfahren, werden ein zweites Mal zu Opfern, weil die Behörden nicht in der Lage sind, sie zu schützen. Gewalt gegen Frauen wird toleriert, die Täter genießen Straffreiheit, weil das Strafverfolgungssystem und die Justiz schlecht funktionieren und stark gegen Frauen voreingenommen sind.
Frauen, die im öffentlichen Leben tätig sind, werden mit noch unverhältnismäßig mehr Drohungen und Gewalt konfrontiert.
Witwen werden als Eigentum ihrer Schwiegerfamilie betrachtet und können gezwungen werden, einen Schwager zu heiraten, der bereits verheiratet sein kann. Gibt es keinen Mann in der Familie, können sie in entwürdigender Weise an einen Familienfremden vergeben werden. Angesichts des niedrigen Heiratsalters und der niedrigen Lebenserwartung können Frauen schon in ihren 20ern und 30ern Witwen werden.
2.1.1.6.3. Bildung
Afghaninnen waren unter den Taliban seit 1996 von jeder Bildung ausgeschlossen. Die Alphabetisierungsrate bei Frauen liegt nach Schätzungen bei 10 %. Für die wenigen hochqualifizierten Afghaninnen hat sich jedoch der Zugang zu adäquaten Tätigkeiten bei der Regierung verbessert. Die Entwicklungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen bleiben durch die strenge Ausrichtung an Traditionen und die fehlende Schulbildung weiterhin wesentlich eingeschränkt.
Seit 2002 konnten zahlreiche Schulen (wieder) eröffnet werden. Es gibt jedoch immer wieder Meldungen von Anschlägen regierungsfeindlicher Kräfte gegen Schulen, insbesondere Mädchenschulen, sowie gegen Schüler und Lehrer. Bewaffnete Gruppen und konservative Elemente, die gegen die Schulbildung von Mädchen sind, vermehren ihre Angriffe gegen Schulen, Lehrer und Schüler, va. Schülerinnen. Die Angriffe reichen von der Einschüchterung von Schülern und Lehrern, Brandanschlägen auf Schulen, der Entführung, dem Schlagen und der Tötung des Lehrpersonals bis zur Brandstiftung und anderen Angriffen auf Schulen. "Nachtbriefe" warnen Lehrer und Schüler davor, zur Schule zu gehen. Als Folge davon wurde eine erhebliche Zahl von Schulen zerstört oder zeitweise oder auf Dauer geschlossen.
Die Einschulungsrate gehört zu den niedrigsten der Welt, die der Mädchen ist halb so hoch wie jene der Knaben. Das gilt für das ganze Land, besonders niedrig ist der Anteil der Mädchen im Süden, wo nur 15 % der Schulkinder Mädchen sind.
2.1.1.6.4. Gesundheitswesen
Frauen und Mädchen sind ihr ganzes Leben lang Mangelernährung und unzureichender Gesundheitsversorgung ausgesetzt. Da das herrschende Wertesystem männliche vor weiblichen Kindern und Männer vor Frauen bevorzugt, ist der weibliche Teil der Bevölkerung unverhältnismäßig stark betroffen. Frauen wird häufig die Gesundheitsversorgung einfach verweigert, weil es etwa niemanden gibt, der sie ins Spital begleiten könnte, oder weil es an Geld mangelt. In ländlichen Gegenden kann es vorkommen, dass ein Spital weit entfernt ist oder dass Frauen - auch in Notsituationen - keine medizinische Hilfe suchen, weil es keine Ärztinnen gibt.
2.1.1.7. Sonstiges
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Der Staat ist von Geberunterstützung abhängig: Nur 62 % der laufenden Ausgaben können durch eigene Einnahmen gedeckt werden, der Entwicklungs- und Investitionshaushalt ist zu 100 % geberfinanziert.
Staatliche soziale Sicherungssysteme wie Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung gibt es praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit aus dem westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in einem größeren Familienverband geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk fehlt und sie die örtlichen Verhältnisse nicht kennen. Sie können auf übersteigerte Erwartungen treffen, sodass von ihnen überhöhte Preise gefordert werden. Von den "Zurückgebliebenen" werden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Andererseits bringen Afghanen, die in den Kriegs- und Bürgerkriegsjahren im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, von dort in der Mehrzahl der Fälle höhere Finanzmittel, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit als Afghanen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind. Solche Qualifikationen verschaffen ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil. Zudem ist die Mehrheit der gebildeten Schicht während der Kriegs- und Bürgerkriegsjahre überwiegend nach Europa und Nordamerika geflüchtet. Die Fähigkeiten dieser Personen könnten eine erhebliche Ressource für das Land sein, denn es mangelt an ausgebildeten Facharbeitern und Akademikern.
2.1.2. Zur Person und zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige und gehört der ethnischen Gruppe der Tadschiken an.
Zu den Angaben der Beschwerdeführerin über die Gründe, aus denen sie ihr Herkunftsland verlassen hat, werden keine Feststellungen getroffen.
2.2. Diese Feststellungen beruhen auf folgender Beweiswürdigung:
2.2.1. Die Feststellungen zur Lage in Afghanistan beruhen auf dem Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 10.1.2012 (Stand Jänner 2012), der durch die Darstellung des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan) vom Dezember 2010 bestätigt wird, ebenso durch jene der Berichte Troxler Gulzars (Schweizerische Flüchtlingshilfe) vom August 2011 und des britischen Home Office vom 11.10.2011.
Die Feststellungen zum Inhalt der Verfassung beruhen auf dem Text der Verfassung (in englischer Übersetzung).
Die Feststellungen, welche Gruppen der Hochkommissär der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zu jenen Gruppen rechnet, die eine besonders sorgfältige Gefahrenprüfung durch die Asylbehörden erfordern, beruhen auf den Einschätzungen in seinen Eligibility Guidelines von 2010.
Die Prozentzahlen zur Verteilung der ethnischen Gruppen und zur Stärke der Religionsgemeinschaften verstehen sich als Schätzungen; der Flüchtlings-Hochkommissär der Vereinten Nationen (Eligibility Guidelines von 2010, S 19 FN 111 und 29 FN 210) zB macht etwas abweichende Angaben (80 % Sunniten, 19 % Schiiten; 42 % Paschtunen, 27 % Tadschiken, 9 % Hazara, 9 % Usbeken, 4 % Aymaq, 3 % Turkmenen, 2 % Balutschen).
Die Feststellungen zum alternativen Rechtssystem der Taliban beruhen auf dem Bericht Troxler Gulzars. Auf diesem Bericht beruhen auch die Feststellungen zum Risiko, dass Soldaten zu regierungsfeindlichen Gruppierungen überlaufen, zum Haqqani-Netzwerk, zu den Gesprächen mit den oppositionellen Gruppen und zu Anschlägen auf Gesundheitseinrichtungen.
Die Feststellungen zur Situation der Frauen (Pt. 2.1.1.6) beruhen iW auf dem Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes (S 20 - 22). Die Feststellungen zur Geschlechterpolitik der Taliban beruhen auf dem Bericht der Sonderberichterstatterin (UN Commission on Human Rights, Sixty-second session. Item 12 (a) of the provisional agenda.
Integration of the Human Rights of Women and a Gender Perspective:
Violence against Women. Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Yakin Ertürk. Addendum. Mission to Afghanistan [9 to 19 July 2005]. E/CN.4/2006/61/Add.5. 15 February 2006; Z 7), ebenso jene zur Verbreitung von Gewalt gegen Frauen (Z 21 dieses Berichtes, der wörtlich lautet: "There is a lack of data on violence against women, however, anecdotal evidence as well as documentation of cases in hospitals suggest that it is widespread and that girls and women are at risk in the home and on the street, in intimate relations, in an encounter with strangers, within the context of hegemonic interpretations of tradition and the sharia, and of discriminatory laws and administration of justice. Furthermore, cases of rape, abduction and forced marriage by powerful commanders are not rare."; dazu auch Troxler Gulzar) und zur Einschulungsrate (Z 18). Die Feststellung zu Anschlägen auf Schulen und zu ihrer Schließung beruht auf der Darstellung des Flüchtlings-Hochkommissärs der Vereinten Nationen (2010). Die Feststellungen zur Situation von Frauen, die sich im öffentlichen Leben betätigen, beruhen auf dem Bericht des U.S. Department of State, 2011 Country Reports on Human Rights Practices - Afghanistan (24. Mai 2012; sect. 3; dazu auch die Richtlinien des Flüchtlings-Hochkommissärs), ebenso jene zum Anteil an Zwangsheiraten bzw. arrangierten Ehen und zur strafrechtlichen Konsequenz von Vergewaltigungen (ähnlich Sonderberichterstatterin Z 42). Die Feststellungen zur Situation von Witwen beruhen auf dem Bericht "Zwei Jahre Afghanistan-Pakt: Menschenrechte und Wiederaufbau in Gefahr", di. der Menschenrechtsreport Nr. 53 der Gesellschaft für bedrohte Völker (Juni 2008; 22), soweit sie die Möglichkeit der Zwangsverheiratung durch die Schwiegerfamilie betreffen, auf dem Bericht der Sonderberichterstatterin (Z 28). Die Feststellungen zum mangelnden staatlichen Schutz beruhen auf den Berichten der Sonderberichterstatterin (Z 33) und des U.S. Department of State. Die Feststellungen zum Gesundheitswesen (Pt. 2.1.1.6.4) beruhen auf dem Bericht der Sonderberichterstatterin (Z 31; zur Müttersterblichkeitsrate weiter der Bericht "Zwei Jahre Afghanistan-Pakt" 22 und Sonderberichterstatterin [Z 17]).
Alle zitierten Unterlagen, auf denen diese Feststellungen beruhen, stammen von angesehenen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen, sodass keine Bedenken dagegen bestehen, sich darauf zu stützen.
2.2.2. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin beruhen auf ihren glaubwürdigen Angaben. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie nicht aus Afghanistan stamme; dass sie die Sprache Dari beherrscht zeigte sich in der Verhandlung.
Dass zu den Angaben der Beschwerdeführerin über die Gründe, aus denen sie ihr Herkunftsland verlassen hat, keine Feststellungen getroffen werden, beruht darauf, dass die Sache auf Grund der (bisherigen) Feststellungen zur Situation der Frauen in Afghanistan bereits spruchreif ist.
2.3. Rechtlich folgt daraus:
2.3.1.1.1. Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG 2005 ist das AsylG 2005 am 1.1.2006 in Kraft getreten; es ist gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005 auf alle Verfahren anzuwenden, die am 31.12.2005 noch nicht anhängig waren.
2.3.1.1.2. Das vorliegende Verfahren war am 31.12.2005 nicht anhängig; das Beschwerdeverfahren ist daher nach dem AsylG 2005 zu führen.
2.3.1.2. Gemäß § 23 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (in der Folge: AsylGHG, Art. 1 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz BGBl. I 4/2008) idF der DienstRNov. 2008 BGBl. I 147 ist auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof grundsätzlich das AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt. Gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 23 Abs. 1 AsylGHG hat der Asylgerichtshof, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Er ist berechtigt, im Spruch und in der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener des Bundesasylamtes zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.
2.3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2004 Nr. L 304/12 [Statusrichtlinie] verweist). Damit will der Gesetzgeber an die Gesamtheit der aufeinander bezogenen Elemente des Flüchtlingsbegriffs der GFK anknüpfen (VwGH 24.3.2011, 2008/23/1443). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren." (vgl. VfSlg. 19.086/2010; VfGH 12.6.2010, U 613/10)
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011; 17.3.2009, 2007/19/0459; 28.5.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771; 17.3.2009, 2007/19/0459; 28.5.2009, 2008/19/1031; 6.11.2009, 2008/19/0012). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011; 28.5.2009, 2008/19/1031). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 zB VwGH 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert, deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwSlg. 16.482 A/2004). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "internen Flucht- oder Schutzalternative" (VwSlg. 16.482 A/2004) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539; vgl. VwGH 17.3.2009, 2007/19/0459).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.3.1995, 95/19/0041; 27.6.1995, 94/20/0836; 23.7.1999, 99/20/0208; 21.9.2000, 99/20/0373; 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 12.9.2002, 99/20/0505; 17.9.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793; 23.2.2011, 2011/23/0064) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 mwN).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793¿19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law² [1996] 73; weiters VwGH 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 20.9.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.2.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101).
2.3.2.2. Es ist der Beschwerdeführerin gelungen, Verfolgung glaubhaft zu machen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Situation der afghanischen Frauen unter der Herrschaft der Taliban festgehalten: "Betrachtet man die [...] Eingriffe der Taliban in die Lebensbedingungen der afghanischen Frauen in ihrer Gesamtheit, so kann [...] kein Zweifel bestehen, dass hier einer der Fälle vorliegt, in denen eine Summe von Vorschriften gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in Verbindung mit der Art ihrer Durchsetzung von insgesamt so extremer Natur ist, dass die Diskriminierung das Ausmaß einer Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention erreicht. In dieser Hinsicht ist abgesehen von anderen bizarren Aspekten des von den Taliban errichteten - und in der Praxis als Grundlage für willkürliche Gewaltanwendung benützten - Regelwerks vor allem auf die systematische Behinderung der medizinischen Versorgung hinzuweisen, die zumindest im Umkreis der zuvor auch der weiblichen Bevölkerung zugänglichen Einrichtungen eine unmittelbare Bedrohung des Lebens bedeutete. Schon das Fehlen der auch nur den Mindestanforderungen der Menschlichkeit entsprechenden Ausnahmen von den verordneten Regeln in Bezug auf den jederzeit möglichen Bedarf nach einer ärztlichen Behandlung kennzeichnet den Verfolgungscharakter dieser Form von Repression. Der zusätzlichen Betroffenheit etwa infolge fehlender Mittel zum Unterhalt oder durch das Fehlen männlicher Angehöriger, um sich ¿ausführen' lassen zu können oder Lebensmittel ins Haus zu bringen, bedarf es dazu nicht mehr. Erreichen die diskriminierenden Regeln selbst die asylrechtlich erforderliche Verfolgungsintensität, so kommt es auch auf zusätzliche Unverhältnismäßigkeiten im Falle des Zuwiderhandelns und mithin darauf, ob vom konkret betroffenen Asylwerber ein Zuwiderhandeln zu erwarten wäre, nicht an ..." (VwGH 16.4.2002, 99/20/0483).
Davon ausgehend, haben der unabhängige Bundesasylsenat und nunmehr der Asylgerichtshof in überwiegender Rechtsprechung die Ansicht vertreten, dass die Situation der afghanischen Frauen auch nach dem Sturz der Taliban als Verfolgung iSd GFK zu beurteilen ist. So heißt es im Erk. AsylGH 19.12.2008, C6 267.439-0/2008: "Am Beispiel der die Frauen und Mädchen betreffenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit [...] wird anschaulich, dass afghanische Frauen de facto einer Verletzung in grundlegenden Rechten ausgesetzt sind. Den Feststellungen zu Folge bestehen nach wie vor gesellschaftliche Normen dahingehend, dass Frauen sich nur bei Vorliegen bestimmter Gründe alleine außerhalb ihres Wohnraumes bewegen sollen. Widrigenfalls haben Frauen mit Beschimpfungen und Bedrohungen zu rechnen bzw. sind der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt. Einer afghanischen Frau ist es daher auch derzeit nicht möglich, sich ungehindert und sicher in der Öffentlichkeit zu bewegen. Hinsichtlich des [...] Zugangs zu bestmöglicher Gesundheitsversorgung ist auszuführen, dass - den Feststellungen zu Folge - derzeit selbst eine lediglich minimale Gesundheitsversor