Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei minderjährige J***** S*****, geboren am *****, vertreten durch die Kollisionskuratorin Dr. U***** F*****, diese vertreten durch Mag. Karl Komann, Rechtsanwalt in Villach, gegen die beklagte Partei G***** R***** T*****, vertreten durch MMag Dr. Werner Hochfellner, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen 55.400 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 5. April 2009, GZ 5 R 53/09t-50, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 2. November 2008, GZ 24 Cg 7/06m-40, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben und das Urteil des Erstgerichts (das im Umfang des Zuspruchs von 10.000 EUR sA, Stattgebung des Feststellungsbegehrens und Abweisung von 27.000 EUR sA bereits unbekämpft in Rechtskraft erwuchs) zur Gänze wiederhergestellt.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.668,98 EUR (darin enthalten 444,83 EUR an USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Ende Juni 2002 oder Anfang Juli 2002 wurde die damals siebenjährige Klägerin von zwei zehnjährigen Nachbarskindern in einen Keller gelockt. Eines der Kinder versuchte, sein Glied in die Scheide der Klägerin zu stecken. Die Klägerin erzählte diesen Vorfall, bevor sie ihn ihrer Mutter mitteilte, dem Beklagten, dem damaligen Freund der Mutter, als sie mit ihm allein in der Wohnung war. Der Beklagte hat die Situation und seine Funktion als Erziehender ausgenützt und die Klägerin sexuell missbraucht. Er wurde mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 24. 1. 2005, GZ 14 Hv 168/04s-52, wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB für schuldig erkannt. Nach dem Urteilsspruch hatte er mit der Klägerin dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, und zwar 1. an einem nicht mehr exakt feststellbaren Tag im Frühsommer 2002 oder später, indem er einen Finger in ihre Scheide einführte und über einen Zeitraum von zumindest mehreren Minuten hin und her bewegte sowie 2. am 20. 7. 2004, indem er sie zunächst veranlasste, sein entblößtes Glied zu streicheln, an ihrer nackten Scheide leckte, dabei mit seiner Zuge leicht in sie eindrang und bis zum Samenerguss onanierte. Das Strafgericht sprach der Klägerin als Privatbeteiligte ein Teilschmerzengeld von 100 EUR zu und verwies sie mit ihren darüber hinausgehenden Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg.
Die Klägerin wies bereits schon vor den Vorfällen eine Grundstörung auf. Sie war immer schon ein ängstliches Kind und verbrachte die ersten drei Lebensjahre in einem sehr schwierigen Umfeld. Sie ist durch die allgegenwärtigen Hänseleien ihrer Spielkameraden und Schulkollegen, die sie wegen ihres familiär bedingten Kleinwuchses ärgern, belastet. Durch den Vorfall mit den gleichaltrigen Kindern kam es aber zu keinen nachhaltigen Persönlichkeitsbeeinträchtigungen. Die Angelegenheit wurde mit gebührendem Ernst behandelt und durch Gespräche zwischen den Elternteilen „aus der Welt geschafft".
Die Taten, derentwegen der Beklagte verurteilt wurde, hatten selbst keine unmittelbaren schwerwiegenden Auswirkungen auf das Wesen der Klägerin. Die mittelbaren Folgen der Handlungen waren aber erheblich. Ihren Aufenthalt in der Abteilung für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie erlebte sie als „unendlich". In der Familie gab es einen hohen Ambivalenzkonflikt. Sowohl die Mutter als auch die Großeltern glaubten der Klägerin nicht und besuchten sie kaum oder gar nicht. Dies führte in der Folge zu einer als sehr schwer einzuschätzenden Depression und massiven Traumatisierung (die auch heute noch im Kontakt mit ihr erfahrbar ist) mit Suizidgedanken. Als erschwerend kommt dazu, dass die Klägerin eine Äußerung des Beklagten (zumindest subjektiv) als erhebliche Bedrohung auffasste, nämlich dahin, dass ihr dieser nachhaltige Konsequenzen und schlimme Folgen für ein weiteres Zusammentreffen voraussagte, wenn er aus der Haft entlassen und ihr begegnen werde. Diese Situation wird immer wieder aktualisiert und tritt als Fantasie mit außerordentlich beängstigendem Inhalt wiederholt auf. Wenn man die Klägerin nach den Vorfällen nicht in der psychiatrischen Abteilung stationär behandelt, sondern daheim gelassen hätte, hätte sich ihr Zustand noch verschlechtert.
Aufgrund der schon vor den Übergriffen des Beklagten schwierigen Lebenssituation der Klägerin ist (laut Gutachter) „bei der Beurteilung der vorfallskausalen Schmerzperioden mit einem 50%igen Abzug vorzugehen". Die posttraumatische Belastungsstörung und die schwer ängstlich depressive Erkrankung, die bis drei Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt (vom 20. 7. 2004 bis 7. 10. 2004) andauerten, sind als schwer einzustufen. Danach bestanden (komprimiert) leichte seelische Schmerzen (insgesamt 640 Tage) bis zum Ende der Psychotherapie im Sommer 2006, unterbrochen durch eine fünfwöchige Periode (35 Tage) mittelschwerer seelischer Schmerzen nach Aktualisierung der Tat durch Begegnung mit einem Mann, der dem Beklagten ähnelte. Seit dem Ende der Psychotherapie sind die Angstzustände deutlich vermindert (auf etwa ein- bis zweimal pro Monat). Insgesamt besteht noch eine traurige Verstimmung mit hoher Zukunftsangst und seelischer Beeinträchtigung. Die Klägerin erlitt damit vom Zeitpunkt der Beendigung der Psychotherapie bis Anfang Juni 2008 (Zeitpunkt des Gutachtens) 44 Tage leichte seelische Schmerzen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Taten Dauerfolgen nach sich ziehen.
Die Klägerin begehrte ein Schmerzengeld von 55.400 EUR und die Feststellung der Haftung des Beklagten für zukünftige Schäden.
Der Beklagte beantragt die Abweisung des Begehrens. Er bestritt jede Missbrauchshandlung. Die Klägerin sei zweimal vom gleichaltrigen Nachbarskind vergewaltigt worden, was ihre gesamte psychische Entwicklung gestört habe. Allfällige Schmerzgeschehen seien diesen Vorfällen zuzuordnen. Die familiäre Vorbelastung der Klägerin sei bei der Ausmittlung des Schmerzengelds zu berücksichtigen.
Das Erstgericht sprach der Klägerin unter Abweisung des Mehrbegehrens 28.000 EUR zu und gab dem Feststellungsbegehren statt. Unter Berücksichtigung der festgestellten Schmerzperioden und des im Strafverfahren zuerkannten Betrags von 100 EUR sei der Schmerzengeldzuspruch gerechtfertigt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten, der einen Zuspruch von 10.000 EUR sA und die Feststellung seiner Haftung für künftige Schäden unbekämpft ließ, Folge und wies das Mehrbegehren ab. Da hier kein Fall überholender Kausalität vorliege, sei die Vorschädigung aufgrund der schwierigen familiären Situation der Klägerin nicht in Abzug zu bringen. Der Oberste Gerichtshof habe zu 9 Ob 147/00h einem anfangs 12-jährigen Jugendlichen unter Berücksichtigung zahlreicher Tathandlungen über die Dauer von vier Jahren ein Schmerzengeld von 400.000 S zugebilligt. In 9 Ob 78/99g sei einem Jugendlichen im Alter von 15/16 Jahren für wiederholte Angriffe über den Tatzeitraum von rund 2 Jahren ein Schmerzengeld von lediglich 60.000 S zuerkannt worden. Im vorliegenden Fall sei daher ein Schmerzengeld von 10.000 EUR unter Berücksichtigung des Privatbeteiligtenzuspruchs angemessen.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. In den beiden zitierten Entscheidungen seien ungeachtet des nicht völlig vergleichbaren Sachverhalts doch sehr unterschiedlich hohe Schmerzengeldbeträge zugesprochen worden, weshalb die Zulassung der Revision unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Rechtsentwicklung geboten erscheine.
Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.
Die Höhe des Schmerzengeldes ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Die Rechtsfrage nach der konkreten Bemessung ist grundsätzlich nicht erheblich (9 Ob 147/00h, RIS-Justiz RS0021095). Im vorliegenden Einzelfall wurde aber das Schmerzengeld so knapp bemessen, dass dies im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifen ist.
Nach ständiger Rechtsprechung ist ein sexueller Missbrauch, der schwere psychische Schäden verursacht, als Körperverletzung im Sinn des § 1325 ABGB zu beurteilen, sodass in einem solchen Fall bereits vor der Novellierung des § 1328 ABGB durch das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie Schmerzengeld gebührte (RIS-Justiz RS0108277). Nach § 1328 ABGB hat der, der jemanden durch eine strafbare Handlung oder sonst durch Hinterlist, Drohung oder Ausnützung eines Abhängigkeits- oder Autoritätsverhältnisses zur Beiwohnung oder zu sonstigen geschlechtlichen Handlungen missbraucht, diesem den erlittenen Schaden und entgangenen Gewinn zu ersetzen sowie eine angemessene Entschädigung für die erlittene Beeinträchtigung zu leisten. Durch § 1328 ABGB wird allgemein die Willensfreiheit bezüglich der Geschlechtssphäre geschützt (Reischauer in Rummel³, § 1328 ABGB Rz 1, Harrer in Schwimann, Praxiskommentar³ § 1328 ABGB Rz 1).
Die Klägerin stützt ihre Ansprüche ausschließlich auf Schmerzengeld nach § 1325 ABGB, was zulässig ist, zumal sich die Frage nach einer Doppelliquidierung nicht stellt (Reischauer, aaO Rz 31).
Das Schmerzengeld ist grundsätzlich eine einmalige Abfindung für Ungemach. Es soll den gesamten Komplex der Schmerzempfindungen erfassen (RIS-Justiz RS0031307). Es ist nicht nach festen Tagessätzen zu berechnen, sondern nach Art, Dauer und Intensität der Schmerzen und den damit verbundenen Unlustgefühlen als Globalsumme unter Berücksichtigung des Gesamtbilds der physischen und psychischen Schmerzen auszumitteln (9 Ob 147/00h, 2 Ob 154/03s, je mwN). Auch bei Fällen sexuellen Missbrauchs ist auf die Umstände des Einzelfalls Bedacht zu nehmen, sodass eine unmittelbare Bezugnahme auf andere, naturgemäß kaum vergleichbare, Sachverhalte nicht geboten ist.
Im vorliegenden Fall war - nach den Feststellungen - Auslöser der psychischen Beeinträchtigung der Klägerin nicht das unmittelbare Geschehen des sexuellen Missbrauchs selbst, sondern nachfolgende Reaktionen und der spätere Umgang ihres Umfelds mit den Vorfällen. Adäquate Verursachung ist nach der Rechtsprechung dann anzunehmen, „wenn das Verhalten unter Zugrundelegung eines zur Zeit der Beurteilung vorhandenen höchsten menschlichen Erfahrungswissens und unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Handlung dem Verantwortlichen oder einem durchschnittlichen Menschen bekannten oder erkennbaren Umstände geeignet war, eine Schadensfolge von der Art des eingetretenen Schadens in nicht ganz unerheblichem Grad zu begünstigen" (RIS-Justiz RS0022914). Sie fehlt, wenn das schädigende Ereignis für den späteren Schaden nach allgemeiner Lebenserfahrung gleichgültig ist und nur durch eine außergewöhnliche Verkettung von Umständen eine Bedingung für den Schaden war (RIS-Justiz RS0098939). Psychische Beeinträchtigungen, die erst aufgrund des Umgangs mit dem sexuellen Missbrauch entstehen und auch - wie hier - durch andere Familienmitglieder verstärkt werden, sind allgemein im Hinblick auf die Ausnahmesituation, mit der alle Beteiligten konfrontiert werden, mehr oder minder zu erwarten, jedenfalls nicht außergewöhnlich. Sie sind daher adäquat verursacht (vgl 9 Ob 78/99g). Hier ist außerdem zu berücksichtigen, dass der von der Klägerin besonders traumatisch erlebte stationäre Aufenthalt gegenüber einem Verbleib zu Hause, bei dem sich der Zustand der Klägerin noch nachteiliger entwickelt hätte, letztlich schadensmindernd wirkte. Die Kausalität der Missbrauchshandlungen des Beklagten für die festgestellten Leiden der Klägerin ist daher zu bejahen.
Der Ansicht des Beklagten, dass sich die Klägerin für „vorhandene Vorschäden" 50 % Abzug gefallen lassen müsse, ist nicht zu folgen. Diese vom Sachverständigen vorgenommene Wertung wurde vom Erstgericht zwar in seine Feststellungen aufgenommen, die Bemessung des Schmerzengeldes ist aber eine Rechtsfrage. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bleibt der Schädiger selbst dann, wenn zwei Umstände nur zusammen, etwa eine unmittelbar durch den Unfall herbeigeführte Verletzung zusammen mit einer besonderen Veranlagung des Verletzten, die Schwere des Verletzungserfolgs bedingen, für den gesamten Schadenserfolg verantwortlich (RIS-Justiz RS0022684). Die Unterbringung der Klägerin in der Krankenhausabteilung und ihre festgestellten Leiden wurden zwar durch ihren Vorzustand mitbeeinflusst, aber dieser hätte nicht zum gleichen Erfolg zur gleichen Zeit oder später geführt. Es liegt daher weder ein Fall der kumulativen (RIS-Justiz RS0022729) noch ein Fall der überholenden Kausalität vor (RIS-Justiz RS0022684), sodass der Beklagte für die psychische Beeinträchtigung der Klägerin ohne einen Abzug zu haften hat (vgl auch 9 Ob 78/99g).
Unter Berücksichtigung der als sehr schwer einzuschätzenden Depression, der Traumatisierung mit Suizidgedanken, der Verschärfung der Situation dadurch, dass sich die Klägerin vom Beklagten massiv bedroht fühlt und der lang anhaltenden, noch immer fortwirkenden psychischen Belastungen, die die Klägerin infolge der Straftaten des Beklagten erlitten hat, ist ein Schmerzengeld von 28.100 EUR (unter Einschluss des im Strafverfahren zugesprochenen Teilbetrags) als angemessen zu betrachten. Es ist daher das Ersturteil wieder herzustellen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO.
Textnummer
E92484European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0070OB00160.09V.1028.000Im RIS seit
27.11.2009Zuletzt aktualisiert am
29.10.2010