TE AsylGH Erkenntnis 2012/10/29 D14 264210-3/2009

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Veröffentlicht am 29.10.2012
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Spruch

D14 264210-3/2009/11E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Windhager als Vorsitzenden und durch die Richterin Mag. Riepl als Beisitzer über die Beschwerde der XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.11.2009, FZ. 05 12.069-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.09.2012 zu Recht erkannt:

 

I. Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 hinsichtlich Spruchpunkt I und II des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

 

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III des bekämpften Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation gemäß § 10 Abs. 2 iVm. Abs. 5 Asylgesetz 2005 auf Dauer unzulässig ist.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang

 

I.1.1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und Moslem, ihr Ehemann XXXX (D14 264209-3/2009) und ihre zum Zeitpunkt der Einreise minderjährigen Kinder XXXX; XXXX und XXXX (D14 264214-3/2009, D14 264215-3/2009 und D14 264212-3/2009), stellten am 09.08.2005 Anträge auf Gewährung von Asyl, nachdem sie am selben Tag beim illegalen Grenzübertritt von einer Polizeistreife aufgegriffen worden waren.

 

Am XXXX wurde die minderjährige Tochter XXXX (Zl. D14 401687-2/2009) im Bundesgebiet geboren und für sie am 28.07.2008 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

 

Im Zulassungsverfahren wurde die Beschwerdeführerin am 12.08.2005 vor der Erstaufnahmezentrum Ost niederschriftlich einvernommen. Dabei legte sie ihren russischen Inlandspass, ausgestellt am XXXX und ihren russischen Reisepass, ausgestellt am XXXX, vor. Der russische Reisepass sei ihr von der zuständigen Behörde ausgestellt worden. In diesem Reisepass seien auch ihre drei Kinder vermerkt. Außerdem verfüge sie über eine Bestätigung, wonach ihr Sohn auf einem Auge nicht sehr gut sehe und deswegen eine Invaliditätspension bezogen habe.

 

Im Inlandspass sei die Eheschließung mit ihrem Ehemann im Jahr 1991 in XXXX vermerkt.

 

Die Beschwerdeführerin sei zuletzt in XXXX aufhältig gewesen, von wo sie auch ausgereist sei. Sie sei mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern mit Straßenbahn und Zug nach BREST gereist. Mit einem Taxi hätten sie die Grenze nach Polen passiert. In Polen seien sie erkennungsdienstlich behandelt worden und hätten Asylanträge gestellt. Von Polen seien sie schließlich schlepperunterstützt in das Bundesgebiet eingereist.

 

Abgesehen von ihrem Ehemann und ihren Kindern halte sich im Bundesgebiet eine Cousine auf. In Norwegen sei ein Cousin ihres Vaters aufhältig.

 

Nach Aufforderung den Grund für die Ausreise aus dem Herkunftsstaat zu schildern, gab die Beschwerdeführerin an, dass im Heimatland Krieg herrsche. Ihre Kinder hätten das alles durchmachen müssen. Sie hätten nicht gewusst, ob in der Nacht oder am Tag etwas passieren würde. Für die Beschwerdeführerin sei es wichtig, dass ihre Kinder frei und beschützt aufwachsen könnten. Es sei sehr gefährlich gewesen, im Herkunftsstaat zu leben. Ihre Kinder hätten große Angst gehabt.

 

Zu ihren Kindern erklärte die Beschwerdeführerin, dass es diesen zuletzt nicht mehr möglich gewesen sei, die Schule zu besuchen.

 

Aufgrund der Ausführungen der Beschwerdeführerin wurde ein Kosultationsverfahren mit Polen eingeleitet.

 

Im Zuge der ärztlichen Untersuchung im Zulassungsverfahren am 23.08.2005 schilderte die Beschwerdeführerin, wegen der Kinder geflüchtet zu sein. Im Herkunftsstaat würde es keine Schulen oder Kindergärten geben. Ständig werde geschossen und habe sie ihren Vater durch eine verirrte Kugel während einer Schießerei verloren.

 

Die Untersuchung hat ergeben, dass bei der Beschwerdeführerin keine krankheitswerte psychische Störung vorliegt.

 

Betreffend den Sohn wurde auf eine Untersuchung durch einen Facharzt für Augenheilkunde hingewiesen.

 

Die Beschwerdeführerin wurde im Zulassungsverfahren am 24.08.2005 neuerlich vor dem Erstaufnahmezentrum Ost niederschriftlich einvernommen, wo sie lediglich zu einer allfälligen Rückkehr nach Polen Stellung bezog.

 

Polen hat sich mit Fax vom 26.8.2005 bereit erklärt, die Beschwerdeführerin gem. Art. 16 Abs. 1 lit. d der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) wieder aufzunehmen und ihren Asylantrag zu prüfen.

 

I.1.2. Mit Bescheid vom 29.8.2005, Zl. 05 12.069-EAST Ost, wurde der Asylantrag gem. § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und wurde Polen gemäß Art. 13 iVm. Art. 16 Abs. 1 lit d der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) für zuständig erklärt. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

 

Gegen diesen Bescheid hat die Beschwerdeführerin fristgerecht berufen, wobei der Unabhängige Bundesasylsenat (UBAS) mit Bescheid vom 12.10.2005, Zl. 264.210/0-III/07/05 den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.08.2005 bestätigte und den Asylantrag der Beschwerdeführerin ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückwies und für die Prüfung des Asylantrages Polen für zuständig erklärte. Die Beschwerdeführerin wurde gemäß § 5a Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

 

I.1.3. Am 18.10.2005 brachte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Wiederaufnahme ihres Asylverfahrens ein und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass nunmehr ein medizinisches Gutachten vorliege, wonach sie traumatisiert sei, sodass ihr Asylverfahren, das gem. §§ 5, 5a AsylG 1997 rechtskräftig beendet sei, gem. § 69 AVG wieder aufzunehmen und in der Folge auch ihrem Antrag auf Wiederaufnahme stattzugeben sei.

 

Laut psychologischen Befund des Therapieprojektes OASIS der Volkshilfe vom 13.10.2005 leide die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

 

Darin führte die Beschwerdeführerin als Grund für das Verlassen ihres Herkunftsstaates die im Herkunftsstaat herrschende Kriegssituation an. Sie habe Sorge um ihre Kinder. Ihre ältere Tochter habe beobachtet, wie eine Frau bei einer Schießerei ums Leben gekommen sei. Ihre Mutter habe ihr vor ein paar Wochen im Zuge eines Telefonates erzählt, dass zwei bis drei Menschen, die in derselben Straße wie die Familie gelebt hätten, von russischen Soldaten erschossen worden seien.

 

Ihr Sohn sei auf dem Schulweg in eine Schießerei geraten. Beim Weglaufen habe er sich am Auge verletzt.

 

Auch sei im Jahr 2000 ein guter Freund ihres Ehemannes von maskierten Russisch sprechenden Männern in seinem Haus im Beisein seiner Familie getötet worden. Der getötete Mann sei Anführer einer Gruppe in XXXX gewesen, die die Freilassung unschuldiger tschetschenischer Männer aus dem Gefängnis bewirkt hätten.

 

Mit Bescheid des UBAS vom 24.01.2006, Zl. 264.210/1-III/07/05, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 18.10.2005 auf Wiederaufnahme des mit Bescheid des UBAS vom 12.10.2005 rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG abgewiesen.

 

I.1.4 Die Beschwerdeführerin hat bereits gegen die Entscheidung des UBAS vom 12.10.2005 und in der Folge auch gegen jene vom 24.01.2006 beim Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Beschwerde erhoben.

 

Mit Erkenntnis vom 21.01.2009, Zl. 2008/23/0950 bis 0951-8, gab der VwGH der Beschwerde gegen den Bescheid des UBAS vom 12.10.2005 Folge und hob diesen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.

 

Mit Beschluss vom selben Tag, Zl. 2008/23/0266 bis 0270-8, erklärte der VwGH die Beschwerde gegen den Bescheid des UBAS vom 24.01.2006 als gegenstandslos und stellte die Verfahren ein. Mit Verfahrensanordnung des Asylgerichtshofes vom 25.09.2012 wurde dieses Verfahren infolge der Zurückziehung des Wiederaufnahmeantrages vom 18.10.2005 eingestellt.

 

I.1.5. Der Asylgerichtshof veranlasste in der Folge die Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens von XXXX, Oberarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie XXXX, das mit 13.06.2009 datiert ist.

 

Darin wurden insbesondere die von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Unterlagen berücksichtigt:

 

Psychologischer Befund, Therapieprojekt Oasis der Volkshilfe vom 13.10.2005;

 

Arztbrief der Abteilung für Innere Medizin des LKH XXXX, wonach die Beschwerdeführerin vom 01.08.2007 bis 06.08.2007 in stationärer Behandlung gestanden ist;

 

Ambulanter Fachbefund des LKH XXXX, medizinische Abteilung vom 17.06.2008;

 

Arztbrief der Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des LKH XXXX, wonach die Beschwerdeführerin vom 11.02.2008 bis 13.02.2008 in stationärer Behandlung gestanden ist sowie

 

Psychiatrischer Befund von XXXX vom 28.05.2009.

 

Im Rahmen der Untersuchung erklärte sie, dass sie seit dem Jahr 2000 Angst habe, da sie damals Zeugin eines Mordes geworden sei. Es sei in der Folge zu polizeilichen Ermittlungen gekommen, habe die Beschwerdeführerin jedoch nicht angegeben, dass sie die beiden Männer gesehen habe.

 

Eine Woche später sei dann ein Freund ihres Ehemannes umgebracht worden. Sie sei gleich nach diesem Vorfall zu ihrer Mutter gegangen und habe sich aufgrund der großen Angst, die sie verspürt habe, im Keller versteckt.

 

In der Folge habe sie wieder die Kinder versorgt und habe sie sich wieder um ihren Haushalt gekümmert.

 

Sie sei in Tschetschenien aufgrund ihrer Angst nicht in Behandlung gestanden.

 

Zu den Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates befragt, schilderte sie, dass ihr Ehemann verfolgt worden sei. Sie habe wegen ihres Ehemannes gemeinsam mit ihren Kindern den Herkunftsstaat verlassen.

 

Laut Gutachter leide die Beschwerdeführerin an einer Anpassungsstörung, Angst und depressive Reaktion gemischt. Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung wurde verneint.

 

I.1.6. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10.07.2009, Zl. S4 264210-0/2009/14E, wurde der Beschwerde gegen den Bescheid der Erstaufnahmestelle Ost vom 29.08.2005 gemäß § 32a Abs. 1 AsylG 1997 stattgegeben, der Asylantrag zugelassen und zur Durchführung des materiellen Asylverfahren an die Behörde erster Instanz zurückverwiesen.

 

I.2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die Beschwerdeführerin am 27.10.2009 vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, niederschriftlich einvernommen.

 

Die Beschwerdeführerin legte im Zuge der Einvernahme ein Konvolut an medizinischen Unterlagen (psychische und physische gesundheitliche Probleme) sowie Fotos ihres vor 2 Monaten in die Luft gesprengten Hauses vor.

 

Sie schilderte auf Nachfrage, an Diabetes und Hepatitis A und B zu leiden. Sie nehme bei Bedarf Medikamente gegen Kopfschmerzen. Betreffend ihre Hepatitis Erkrankung müsse sie keine Medikamente mehr nehmen. Die Beschwerdeführerin habe eine Operation ihrer Krampfadern gehabt. Ansonsten stehe sie in keiner Therapie und sie müsse ansonsten auch keine Medikamente nehmen.

 

Befragt, gab die Beschwerdeführerin an, sich zuletzt in XXXX aufgehalten zu haben. Sie habe sich dort mit ihrem Ehemann und ihren Kinder aufgehalten. Nur in der Nacht hätten sie sich versteckt gehalten. Sie hätten sich an verschiedenen Orten aufgehalten. Manchmal hätte sie sich im Keller des Schwagers, der nebenan wohne, versteckt. Manchmal sei die Beschwerdeführerin bei ihrer Mutter gewesen. Am Tage hätten sie sich im eigenen Haus aufgehalten. Ca. einen Monat vor der Ausreise hätten sie im Keller des Schwagers geschlafen. Tagsüber habe sie die Sachen zusammengepackt. Ihr Ehemann habe im eigenen Haus übernachtet. Er habe unter das Kopfpolster 2, 3 Granaten gelegt, um sich im Ernstfall verteidigen zu können. Der Ehemann habe deshalb nicht im Keller geschlafen, da dort nicht genug Platz gewesen sei.

 

Den Pass hätten sie und ihr Ehemann in XXXX bekommen. Sie seien dort zur Passabteilung gegangen und hätten die Pässe abgeholt. Am selben Tag hätten sie die Tickets gekauft und seien weggefahren. Ihr Ehemann habe den Pass ein paar Tage vor der Beschwerdeführerin bei der Passabteilung abgeholt. Ihr Ehemann habe aber die Beschwerdeführerin begleitet. Sie habe auch die Formalitäten für die Passausstellung selbst erledigt und habe sie ca. US-$ 350,00 dafür bezahlt.

 

Zur freien Schilderung der Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates aufgefordert, gab die Beschwerdeführerin an, dass es für ihren Ehemann zwei lebensbedrohende Dinge gegeben habe. Einerseits sei er beschuldigt worden, den Wahhabiten zu helfen. Andererseits sei von ihm Geld erpresst worden. Die Mutter der Beschwerdeführerin habe Kompensationszahlungen erhalten. Die Mutter sei in der Nacht bedroht worden und sei ihr die Hälfte weggenommen worden. Einige Tage später sei eine andere Bande gekommen und habe ihr den Rest abnehmen wollen. Ihre Mutter habe alles ihrem Ehemann erzählt. Die Beschwerdeführerin und ihre Mutter hätten in derselben Straße gelebt. Der Ehemann habe zur Mutter gesagt, dass sie die Männer zu ihm schicken solle. Die Mutter habe die Geschichte auch einem Nachbarn erzählt. Dieser Nachbar habe aber mit der Bande zusammengearbeitet. Die Bande sei um drei Uhr in der Nacht gekommen, als alle geschlafen hätten. Die Kinder seien aufgewacht. Ihren Mann hätten sie zur Wand gestellt und gemeint, dass sie ihm eine Frist geben würden, um das Geld zu bezahlen. Sie seien dann wieder gegangen. Danach hätten sie solche Angst gehabt, dass sie im Keller gelebt hätten.

 

Eine weitere Bedrohung sei vom Nachbarn ausgegangen. Der Nachbar habe mit ihrem Ehemann gestritten und mit diesem eine Rauferei gehabt. Dieser habe beim FSB gearbeitet und ihren Ehemann an den FSB verraten. Er habe eine Anzeige erstattet und behauptet, der Ehemann arbeite mit den Wahhabiten zusammen. Ein Freund ihres Ehemannes habe bei der Polizei gearbeitet. Dieser habe die Anzeige gesehen. Dieser Freund habe ihrem Ehemann mitgeteilt, dass er 1 oder 2 Monate Zeit habe, bevor man ihn abholen werde. Sie hätten dann schnell die Ausreise organisieren müssen.

 

Auf konkrete Nachfrage zu Aspekten ihrer Schilderungen erklärte sie, dass das nächtliche Eindringen der Bande im April oder Mai 2005 erfolgt sei. Fünf oder sechs Männer mit schwarzen Masken seien ins Haus gekommen. Ihr Ehemann sei an die Wand gestellt und bedroht worden. 2 oder 3 Tage danach seien sie mit einem Auto wieder gekommen. Es sei schon spätabends gewesen. Ihr Ehemann sei vor das Haus gegangen und habe mit ihnen gesprochen. Sie habe durch ein Loch gesehen, dass die Männer bewaffnet gewesen seien. Ihr Ehemann habe ihr nicht erzählt, was die Männer gewollt hätten. Wenig später seien sie ausgereist.

 

In Polen hätten sie einen Anruf erhalten, dass Leute von der XXXX - Kadyrowleute - gekommen seien und nach ihrem Ehemann gesucht hätten.

 

Alle Nachbarn seien kontrolliert und nach ihrem Ehemann gefragt worden.

 

Ihrem Ehemann sei keine Frist gesetzt worden, um das Geld zu besorgen, sondern seien die Männer einfach wieder gekommen.

 

Nach der Anzeigenerstattung durch den Nachbarn seien sie erst gekommen, als die Beschwerdeführerin und ihre Familie in Polen gewesen seien. Sie hätten gesagt, dass sie oft kommen und nachsehen würden, ob der Ehemann da sei. Vor zwei Monaten - im Juli oder August - seien sie wieder gekommen. Sie hätten die Straße gesperrt und gesagt, dass im Haus der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes Wahhabiten seien und der Ehemann selbst ein Wahhabit sei. Sie hätten alle Nachbarn kontrolliert, jedoch nichts gefunden. Schließlich hätten sie das Haus gesprengt. Der Neffe ihres Ehemannes sei mitgenommen und misshandelt worden. Dieser sei nachhause zurückgekehrt und eine Woche unter Beobachtung gestanden. Dieser lebe jetzt wieder zuhause.

 

Auf Nachfrage bestätigte die Beschwerdeführerin, dass die Kadyrow Leute im Jahr 2005 und dann erst wieder im Jahr 2009 gekommen seien.

 

Auf Vorhalt, wonach die Beschwerdeführerin bislang vollkommen andere Ausführungen - auch im Zuge ihrer psychologischen Betreuung getätigt habe - meinte sie, dass sie zugewartet habe, um nunmehr alles zu erzählen. Damals habe sie aus Angst vor einer drohenden Abschiebung nicht alles erzählt, wie im Übrigen auch am 24.08.2005 vor dem Erstaufnahmezentrum Ost und im Juni 2005 vor dem Psychologen, wo sie im Übrigen aus Zeitmangel unterbrochen worden sei.

 

Zu ihren Kindern - als deren gesetzliche Vertreterin - führte die Beschwerdeführerin aus, dass allen Familienmitgliedern dasselbe wie ihrem Ehemann drohe. Sie habe insbesondere um ihren Sohn Angst.

 

Neben ihrem Ehemann und ihren Kindern halte sich im Bundesgebiet eine Cousine auf.

 

Die Beschwerdeführerin könne sich in Österreich nicht selbst versorgen.

 

Sie spreche ein bisschen Deutsch. Die Kinder der Beschwerdeführerin würden Deutsch sprechen und seien integriert. Ihr Sohn betreibe Judo und habe viele Auszeichnungen bekommen. Ihre ältere Tochter gehe in die Realschule, wo sie gute Leistungen erbringe. Auch ihre zweitjüngste Tochter besuche bereits die Volksschule.

 

Die Beschwerdeführerin selbst besuche keine Vereine, Kurse oder Ähnliches.

 

Nach Erörterung der Länderfeststellung zum Herkunftsstaat erklärte die Beschwerdeführerin, dass im Herkunftsstaat derzeit ein verdeckter Krieg stattfinde und noch keine Ordnung herrsche.

 

I.3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 27.11.2009, Zl. 05 12.069-BAG, wurde der Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I) und ihre Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II). In Spruchpunkt III wurde die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AslyG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

Die belangte Behörde bewertete das Vorbringen der Beschwerdeführerin - aus näher dargelegten Gründen - als unglaubwürdig.

 

Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin stehe ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen und aus dem Akteninhalt hätten sich keine Abschiebehindernisse ergeben.

 

Die getroffene Ausweisungsentscheidung der Beschwerdeführerin stehe in Einklang mit Art. 8 EMRK.

 

I.4. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht (Poststempel vom 11.12.2009) Beschwerde erhoben, in der dieser vollinhaltlich wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes infolge wesentlicher Verfahrensmängel und unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten wurde.

 

Darin erklärte die Beschwerdeführerin, vor der Flucht mit ihrem Ehemann nicht im selben Haushalt gewohnt zu haben. Sie hätten Angst davor gehabt, am selben Ort zu leben und sich immer woanders aufgehalten.

 

Im Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien hätte sie große Angst, wieder bedroht und verfolgt zu werden. Auch die Situation für ihren Sohn wäre mittlerweile sehr gefährlich, da dieser mittlerweile als Mann gelte.

 

Im angefochtenen Bescheid sei im Übrigen nicht auf den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin und die Integration ihrer Kinder eingegangen worden.

 

Am 15.03.2010 und am 14.06.2012 langten betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Familienangehörigen zahlreiche Unterlagen zur Integration sämtlicher Familienangehörigen ein (OZ 2, 3, 4)

 

I.5. Am 20.09.2012 fand vor dem Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei der die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann zur Aktualität ihrer Fluchtgründe bzw. zu einer mittlerweile erfolgten Integration befragt wurden (OZ 7Z). An der Verhandlung nahm auch ein Vertreter (ohne Zustellvollmacht) teil.

 

Dabei wurden aktuelle Länderberichte zur Lage in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien verlesen und dem Vertreter zur schriftlichen Stellungnahme übergeben.

 

Im Zuge der Beschwerdeverhandlung wurde ein Konvolut an Unterlage zur Integration der Beschwerdeführerin und insbesondere ihres Ehemannes und ihrer Kinder vorgelegt. Betreffend die Beschwerdeführerin wurde eine psychologische Stellungnahme vom Interkulturellen Beratungs- und Therapiezentrum zebra vom 17.07.2012 vorgelegt, wonach sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Darüber hinaus wurden die bereits im Verlauf des Verfahrens vorgelegten Fotos des zerstörten Hauses sowie neue Farbfotos, die die nunmehrige Situation zeigen sollen, vorgelegt.

 

Infolge der Beschwerdeverhandlung langte am 01.10.2012 eine Stellungnahme ein, in der das Vorbringen der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes aus der Beschwerdeverhandlung chronologisch zusammengefasst wiedergegeben wurde. (OZ 8)

 

Am 02.10.2012 langte eine weitere Stellungnahme ein, in der die integrativen Bestrebungen der Beschwerdeführerin und ihrer Familienangehörigen im Bundesgebiet dargelegt wurden. (OZ 9, 10).

 

I.6. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

 

Einsicht in den dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesasylamtes, Zl. 05 12.069-BAG, beinhaltend sämtliche Befragungen vor dem Bundesasylamt, die Beschwerde sowie die dem Bundesasylamt vorgelegten Unterlagen, die Einvernahme der Beschwerdeführerin und ihrer Familienangehörigen im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 20.09.2012 sowie die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Stellungnahmen und Unterlagen, Einsicht in die Verwaltungsakten des Ehemannes und der Kinder, Zlen. 05 12.068-BAG, 05 12.070-BAG, 05 12.071-BAG, 05 12.072-BAG und 08 06.583-BAG sowie durch Einsichtnahme in die Feststellungen des Asylgerichtshofs zur Lage in Tschetschenien, Stand Juli 2012.

 

I.7. Zur Person und den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin wurde Folgendes festgestellt:

 

I.7.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig. An ihrer Identität und ihren familiären Verhältnissen haben sich infolge der Vorlage entsprechender Dokumente keine Zweifel ergeben.

 

Die Beschwerdeführerin war in ihrem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten ausgesetzt und drohen ihr solche auch in Zukunft nicht. Die von ihr und ihrem Ehemann vorgebrachten Gründe für die Ausreise aus der Russischen Föderation respektive Tschetschenien werden mangels Glaubwürdigkeit des Vorbringens nicht festgestellt.

 

Der Beschwerdeführerin droht zum Entscheidungszeitpunkt im Herkunftsstaat weder eine unmenschliche Behandlung, Todesstrafe oder unverhältnismäßige Strafe bzw. eine sonstige individuelle Gefahr.

 

Der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin steht ihrer Rückführung in den Herkunftsstaat nicht entgegen. Auch sonst war keine anderweitige Gefährdung im Gefolge ihrer Rückkehr feststellbar, die einer Verletzung der durch die EMRK geschützten Rechte gleichkäme.

 

Die Beschwerdeführerin hält sich im Bundesgebiet gemeinsam mit ihrem Ehemann und den vier Kindern auf, in deren Asylverfahren mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag, Zlen. D14 264209-3/2009/13E, D14 264214-3/2009/12E, D14 264215-3/2009/10E, D14 264212-3/2009/10E und D14 401687-2/2009/10E festgestellt worden ist, dass deren Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation auf Dauer unzulässig ist.

 

I.7.2. Zum Herkunftsland der Beschwerdeführerin wird Folgendes festgestellt:

 

Hinsichtlich der aktuellen Situation in der Russischen Föderation wird auf die im Akt einliegenden im Rahmen der Beschwerdeverhandlung dem Vertreter zur Stellungnahme vorgehaltenen Länderfeststellungen verwiesen.

 

Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland

 

(Stand Juli 2012)

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

 

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

 

Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut "(Kadyrow'scher Privatstaat" Uwe Halbach). Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.

 

Bis Februar 2011 wurde Russland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg bereits in 162 Fällen für schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenien-Kriegs verurteilt. Im Februar 2011 wurde Ramzan Kadyrow von Präsident Medwedew zu einer zweiten fünfjährigen Amtszeit als Republiksoberhaupt ernannt. Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten. Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".

 

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

 

(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:

Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 20, The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 8, Issue 42, 02.03.2011)

 

1. Allgemeine Sicherheitssituation

 

In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramzan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ging nach einem relativen Höchststand 2009 wieder zurück. Dennoch kam es 2010 und 2011 zu einigen ernsthaften Vorfällen. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 21, Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)

 

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.

 

Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.

 

(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)

 

Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.

 

Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)

 

Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.

 

Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt, stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Allgemein ist nach wie vor ein hohes Maß an Gewalt feststellbar, vor allem außerjudizielle Tötungen und Kollektivstrafen. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet, werden und die Sicherheitslage in Tschetschenien dadurch weitgehend stabilisiert werden konnte, andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.

 

In Tschetschenien kam es im Sommer 2010 zu einer Spaltung innerhalb des bewaffneten Widerstands, als sich ein Teil der bewaffneten Kämpfer vom bis dahin einflussreichsten Anführer Doku Umarow und seiner Doktrin der Schaffung eines islamischen "Emirat Kaukasus" lossagte. Dieser Zwist führte, zusammen mit dem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen "Terroristen" und deren Angehörige, zu einer Abnahme der direkten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Widerstandskämpfern und Sicherheitskräften, ohne dass die Gewalt insgesamt weniger wurde. Die rund 20.000 "Kadyrowzy" sind nach wie vor aktiv. Die Jamestown Foundation schätzt, dass beinahe 90 Prozent der tschetschenischen islamistischen Gruppierungen nun dem Kommando von Emir Hussein unterstehen, während ein Großteil der dagestanischen, inguschetischen und kabardino-balkarischen "Jamaats" nach wie vor Umarow treu sind. Dieser wurde schon mehrmals totgesagt, was sich bis heute als falsch erwiesen hat.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation:

Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 6, 8 und 9; Russia, Freedom in the World 2012)

 

2. Verfolgungsgefahr

 

UNHCR sieht derzeit insbesondere (ehem.) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben und unter besonderen Umständen Frauen und Kinder, als besonders gefährdet an. Personen, die in Sicherheitseinrichtungen, z.B. unter Dudaev und Maschadov tätig gewesen sind oder früher an Rebellenaktivitäten teilgenommen haben, laufen nach wie vor Gefahr, bei einer Rückkehr in die Gefangenschaft zu geraten.

 

(Anfragebeantwortung von ACCORD vom 08.06.2010)

 

Dick Marty, Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, bezeichnet in seinem Bericht den Nordkaukasus als die "europäische Region, in der seit Jahren die gravierendsten und umfangreichsten Menschenrechtsverletzungen stattfinden" und spricht von "systematischen Menschenrechtsverletzungen". Willkürliche Festnahmen und Haft, bei denen es in den meisten Fällen zu Folter kommt, sind im Nordkaukasus alltäglich. Das Ziel ist meistens, Informationen über mutmaßliche Widerstandskämpfer oder Geständnisse sowie die Beschuldigung anderer Personen zu erhalten, welche später in einem Gerichtsverfahren verwendet werden können. Willkürliche Festnahmen werden aber auch eingesetzt, um Menschenrechtsaktivisten, Kritiker und andere Zivilpersonen unter Druck zu setzen und zum Schweigen zu bringen.

 

Folter und Misshandlung muss aber nicht nur die gesamte Zivilbevölkerung befürchten. Sie drohen auch aus dem Ausland zurückkehrenden Tschetschenen. Das erzwungene Verschwinden von Personen gehört wie Folter und Tötungen zum Alltag im Nordkaukasus.

 

Kadyrow versprach zudem 100.000 Dollar für jeden getöteten und 50.000 Dollar für jeden lebend gefangen genommenen "Aufständischen". Diese Strategie wird auch von Moskau öffentlich unterstützt. Von Menschenrechtsorganisationen wird kritisiert, dass Entschädigungszahlungen für zerstörte Liegenschaften nur in sehr beschränktem, unzureichendem Ausmaß bezahlt werden. Amnesty International weist darauf hin, dass viele der Entschädigten bis zu 50 Prozent der erhaltenen Gelder gleich als Bestechungsgelder bezahlen mussten. Hohe tschetschenische Beamte und auch Präsident Kadyrow selbst fielen immer wieder durch Drohungen gegenüber den Angehörigen von (mutmaßlichen) Widerstandskämpfern und Rechtfertigungen von kollektiver Bestrafung auf.

 

(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 10-14, sowie 17)

 

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann.

 

(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien, 20.4.2011)

 

2.1. Zivilbevölkerung

 

Vertreter russischer und internationaler NROs (Memorial, Human Rights Watch, amnesty international, Danish Refugee Council) zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 22)

 

Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:

Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.

 

Bis Mai 2011 hatte der EGMR in rund 180 Fällen Verletzungen der Artikel 2 und 3 der EMRK bei Einsätzen der Sicherheitskräfte in Tschetschenien festgestellt. 60% der Beschwerden betrafen das Verschwinden von Personen. [...] Die andauernden Muster der Straffreiheit für solch ernsthafte Verletzungen zählen zu den hartnäckigsten Menschenrechtsproblemen im Nordkaukasus. Es gab sicherlich mehrere positive Schritte wie die Einrichtung von Untersuchungskomitees, die Unterstützung der Teilnahme von Opfern bei der strafrechtlichen Verfolgung und die Verkündung mehrerer Direktiven hierzu. Viele Untersuchungen ergeben jedoch keinerlei Ergebnisse; in Fällen, in denen Behörden selbst in Verbrechen involviert waren bestehen Zweifel, inwieweit diese mit den Untersuchungsbehörden die notwendige Kooperation ermöglichen können.

 

(Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)

 

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) will sicherstellen, dass die Polizei und Truppen des Innenministeriums, welche Sicherheitsoperationen durchführen, die Gesetze kennen. Daher führte das Komitee zwischen Juni 2010 und Jänner 2011 Informationsveranstaltungen für Sicherheitskräfte durch. Zudem führt das IKRK regelmäßigen Dialog mit föderalen und lokalen Exekutivbehörden über Festnahmen, Inhaftierungen und Gewaltanwendung.

 

(ReliefWeb: Russian Federation/Northern Caucasus: ICRC maintains aid effort, 1.3.2011,

http://www.reliefweb.int/rw/rwb.nsf/db900SID/JARR-8EJHNK?OpenDocument&rc=4&emid=ACOS-635PN7)

 

In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)

 

2.2. Die Rebellen

 

Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Doku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.

 

Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Doku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)

 

Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Vorfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Andererseits werden führende Posten in der Verwaltung von ehem. Rebellenkommandanten, die zu Kadyrow übergewechselt sind, eingenommen. Bei Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14

 

COI Workshop "Frauen in Tschetschenien" am 17.02.2012)

 

2.2.1. Das Vorgehen der Rebellen

 

In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.

 

Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)

 

2.2.2. Schwächung der Rebellenbewegung

 

Es kamen zahlreiche Anführer des Kaukasus Emirats ums Leben, darunter auch tschetschenische. Zuletzt wurde am 21. August 2010 der "Emir von Grosny", Chamsat Schamilew, bei einem Sondereinsatz getötet. Gerade in Tschetschenien selbst gelang es im Gegensatz zu Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien aber nicht, auch bedeutende Führungspersönlichkeiten wie Doku Umarow, festzunehmen oder zu liquidieren. Ob die Tötung von Führungspersönlichkeiten zu einer Schwächung der tschetschenischen Rebellenbewegung führen würde, ist fraglich. Das Beispiel der anderen Republiken zeigt, dass dies zumindest kurzfristig nicht zu einer entscheidenden Schwächung der einzelnen Dschamaat führt.

 

Die nordkaukasische Widerstandsbewegung wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert. Radikal-islamisches Gedankengut findet jedoch in Tschetschenien kaum Sympathien in der Bevölkerung, die Islamisten können sich durch den hohen Repressionsdruck nicht frei in der Öffentlichkeit bewegen. Obwohl die radikal-islamische Ausrichtung einige Männer abschrecken soll sich den Kämpfern anzuschließen, scheint die nordkaukasische Rebellenbewegung keine Probleme zu haben, neue Mitglieder zu rekrutieren. Obwohl die Rekrutierung neuer Mitglieder kein Problem darstellt, gehen den tschetschenischen Kämpfern einigen Beobachtern zufolge zusehends die Ressourcen aus, da es Kadyrow und russischen Sicherheitskräften gelungen sei, ihre Versorgungslinien abzuschneiden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16-18)

 

Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)

 

Die tschetschenische Polizei hat nach Angaben des tschetschenischen Innenministers Ruslan Alchanow seit dem Jahresbeginn (2011) 13 Extremisten vernichtet und 41 mutmaßliche Teilnehmer gesetzwidriger bewaffneter Gruppen festgenommen. Weitere zehn Mitglieder der bewaffneten Formationen stellten sich selbst, hieß es. "Die illegalen bewaffneten Gruppen in Tschetschenien sind in der letzten Zeit beträchtlich geschrumpft und bekommen praktisch keine personelle Auffüllung mehr", so der Minister. "Die unbedeutenden Reste dieser Gruppen sind nicht in der Lage, etwas zu ändern, geschweige denn die Lage in der Republik Tschetschenien zu destabilisieren."

 

(Ria Novosti: Empfindliche Verluste bei Extremisten, 24.4.2011, http://de.rian.ru/russia/20110424/258932158.html, Zugriff 1.6.2011)

 

2.2.3. Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen

 

Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Clanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)

 

Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind.

 

(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)

 

Am 6. Juli 2010 forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.

 

(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)

 

2.3. Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:

 

Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen offiziellen tschetschenischen Einheiten, insbesondere zwischen solchen unter der Kontrolle Kadyrows und jenen unter der Kontrolle von Personen, die gemeinhin als seine persönlichen Gegner bezeichnet wurden, wie zum Beispiel der mittlerweile ermordete Sulim Jamadajew und der nunmehr aus Tschetschenien vertriebene Said-Magomed Kakijew. Bei diesen Zusammenstößen kam es auch zu Todesfällen.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 10)

 

Seit 2009 wurde eine zunehmende Zahl von Menschenrechtsverteidigern aus dem Nordkaukasus drangsaliert, geschlagen, entführt und getötet. Auch der tschetschenische Präsident Ramzan Kadyrow beschuldigte am 3. Juli 2010 in einem Fernsehinterview Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, vom Ausland bezahlt zu sein, und bezeichnete sie als "Verräter, welche "die Idee des Mutterlands verkauft" hätten, zudem als "Feinde des Volkes, Feinde des Gesetzes, Feinde des Staates".

 

(Schweizeri

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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