D14 264209-3/2009/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Windhager als Vorsitzenden und durch die Richterin Mag. Riepl als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.11.2009, FZ. 05 12.068-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.09.2012 zu Recht erkannt:
I. Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 hinsichtlich Spruchpunkt I und II des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III des bekämpften Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation gemäß § 10 Abs. 2 iVm. Abs. 5 Asylgesetz 2005 auf Dauer unzulässig ist.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
I.1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und Moslem, seine Ehefrau XXXX (D14 264210-3/2009) und seine zum Zeitpunkt der Einreise minderjährigen Kinder XXXX; XXXX und XXXX (D14 264214-3/2009, D14 264215-3/2009 und D14 264212-3/2009), stellten am 09.08.2005 Anträge auf Gewährung von Asyl, nachdem sie am selben Tag beim illegalen Grenzübertritt von einer Polizeistreife aufgegriffen worden waren.
Am XXXX wurde die minderjährige Tochter XXXX (Zl. D14 401687-2/2009) im Bundesgebiet geboren und für sie am 28.07.2008 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Im Zulassungsverfahren wurde der Beschwerdeführer am 12.08.2005 vor der Erstaufnahmezentrum Ost niederschriftlich einvernommen. Dabei legte er seinen russischen Inlandspass, ausgestellt am XXXX und seinen russischen Reisepass, ausgestellt am XXXX, vor. Der russische Reisepass sei ihm von der zuständigen Behörde ausgestellt worden.
Der Beschwerdeführer sei zuletzt in XXXX aufhältig gewesen, von wo er auch ausgereist sei. Er sei mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern mit Straßenbahn und Zug nach BREST gereist. Mit einem Taxi hätten sie die Grenze nach Polen passiert. In Polen seien sie erkennungsdienstlich behandelt worden und hätten Asylanträge gestellt. Von Polen seien sie schließlich schlepperunterstützt in das Bundesgebiet eingereist.
Nach Aufforderung, den Grund für die Ausreise aus dem Herkunftsstaat zu schildern, gab der Beschwerdeführer an, dass er in erster Linie aufgrund des Krieges seinen Herkunftsstaat verlassen habe. Er sei außerdem von XXXX bedroht worden. Dieser sei Mitglied einer pro-russischen Gruppe namens "KADEROVCI" gewesen. Seit Winter 2004 werde er von diesem bedroht.
Aufgrund der Ausführungen des Beschwerdeführers wurde ein Kosultationsverfahren mit Polen eingeleitet.
Im Zuge der ärztlichen Untersuchung im Zulassungsverfahren am 23.08.2005 schilderte der Beschwerdeführer, dass er private Streitigkeiten mit einem Nachbarn gehabt habe. Dieser hätte ihn verraten. Der Beschwerdeführer sei nicht mitgenommen, jedoch während Kontrollen kurz angehalten worden.
Die Untersuchung hat ergeben, dass beim Beschwerdeführer keine krankheitswerte psychische Störung vorliegt.
Der Beschwerdeführer wurde im Zulassungsverfahren am 24.08.2005 neuerlich vor dem Erstaufnahmezentrum Ost niederschriftlich einvernommen, wo er lediglich zu einer allfälligen Rückkehr nach Polen Stellung bezog.
Polen hat sich mit Fax vom 26.8.2005 bereit erklärt, den Beschwerdeführer gem. Art. 16 Abs. 1 lit. d der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) wieder aufzunehmen und seinen Asylantrag zu prüfen.
I.1.2. Mit Bescheid vom 29.8.2005, Zl. 05 12.068-EAST Ost, wurde der Asylantrag gem. § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und wurde Polen gemäß Art. 13 iVm. Art. 16 Abs. 1 lit d der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) für zuständig erklärt. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.
Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer fristgerecht berufen.
Der Unabhängige Bundesasylsenat (UBAS) bestätigte mit Bescheid vom 12.10.2005, Zl. 264.209/0-III/07/05 den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.08.2005 und wies den Asylantrag des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und erklärte für die Prüfung des Asylantrages Polen für zuständig. Der Beschwerdeführer wurde gemäß § 5a Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.
I.1.3. Am 18.10.2005 brachte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Wiederaufnahme seines Asylverfahrens ein und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass nunmehr ein medizinisches Gutachten hinsichtlich seiner Ehefrau vorliege, wonach diese traumatisiert sei, sodass ihr Asylverfahren, das ebenfalls gem. §§ 5, 5a AsylG 1997 rechtskräftig beendet sei, gem. § 69 AVG wieder aufzunehmen und in der Folge auch seinem Antrag auf Wiederaufnahme stattzugeben sei.
Mit Bescheid des UBAS vom 24.01.2006, Zl. 264.209/2-III/07/05, wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 18.10.2005 auf Wiederaufnahme des mit Bescheid des UBAS vom 12.10.2005 rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG abgewiesen.
I.1.4 Der Beschwerdeführer hat bereits gegen die Entscheidung des UBAS vom 12.10.2005 und in der Folge auch gegen jene vom 24.01.2006 beim Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Beschwerde erhoben.
Am 04.09.2009 langte beim Asylgerichtshof ein Psychiatrischer Befund von OMEGA vom 30.07.2009 betreffend den Beschwerdeführer ein, wonach er an einer posttraumatischen Belastungsstörung in Abheilung leide und früher Antidepressiva genommen habe.
Als Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Behandlung an, dass er in einer einflussreichen Position versucht habe, in XXXX in seinem Bereich für Ordnung zu sorgen und mafiöse Strukturen zu unterdrücken. Deshalb hätten ihn einflussreiche Leute mit Falschaussagen verleumdet, dass er Anhänger der Wahhabiten sei.
Mit Erkenntnis vom 21.01.2009, Zl. 2008/23/0246 bis 0253-10, gab der VwGH der Beschwerde gegen den Bescheid des UBAS vom 12.10.2005 Folge und hob diesen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.
Mit Beschluss vom selben Tag, Zl. 2008/23/0266 bis 0270-8, erklärte der VwGH die Beschwerde gegen den Bescheid des UBAS vom 24.01.2006 als gegenstandslos und stellte die Verfahren ein. Mit Verfahrensanordnung des Asylgerichtshofes vom 25.09.2012 wurde dieses Verfahren infolge der Zurückziehung des Wiederaufnahmeantrages vom 18.10.2005 eingestellt.
I.1.5. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 10.07.2009, Zl. S4 264209-0/2009/9E, wurde der Beschwerde gegen den Bescheid der Erstaufnahmestelle Ost vom 29.08.2005 gemäß § 32a Abs. 1 AsylG 1997 stattgegeben, der Asylantrag zugelassen und zur Durchführung des materiellen Asylverfahren an die Behörde erster Instanz zurückverwiesen.
I.2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 27.10.2009 vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, niederschriftlich einvernommen.
Dabei führte er eingangs einen Zeugen an, der zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers aus Tschetschenien noch in Tschetschenien aufhältig gewesen sei.
Zu seiner Lebenssituation vor der Ausreise aus dem Herkunftsstaat befragt, schilderte der Beschwerdeführer, dass er in den letzten beiden Jahren vor der Ausreise nicht gearbeitet habe. In den Jahren 2001 und 2002 habe er eine Firma gehabt und hauptsächlich mit Lebensmitteln gehandelt. Er habe einen Vertrag mit der Stadtverwaltung in XXXX gehabt. Der Bürgermeister sei sein Freund gewesen. Daneben habe er auch Aufräumarbeiten/Müllbeseitigung in der Stadt gemacht.
Er sei insbesondere niemals aktiv an Kampfhandlungen beteiligt gewesen und habe sich auch nie für den Widerstand engagiert.
Zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates befragt, gab er an, dass er nach dem Jahr 2002 keine geschäftlichen Kontakte mehr gehabt habe. Im Jahr 2004 habe er im Winter einen Konflikt mit einem Mann gehabt, nach dem gefahndet worden sei. Das habe sich jedoch erst später herausgestellt. Dieser habe in einer russischen Militärbasis gearbeitet und sei gleichzeitig der Nachbar des Beschwerdeführers gewesen. Der Nachbar habe den Beschwerdeführer einschüchtern wollen. Der Beschwerdeführer sei jedoch stärker gewesen und habe den Nachbarn verprügelt. Der Nachbar habe ein oder zwei Monate später eine Anzeige beim FSB in XXXX erhoben. Dort sei das Zentrum von Kadyrow gewesen. Es habe sich herausgestellt, dass der Nachbar einen Verwandten habe, der Kadyrow nahe stehe.
Sein Verwandter, der beim FSB arbeite, habe dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er höchstens für ein oder zwei Monate Ruhe hätte. Zuerst würden eine Person und deren Kontakte überprüft werden. Dann erst werde an die Person selbst herangetreten.
In der Folge hätten ihm diese Leute Probleme bereitet und dann der eine Mann, der hier in Österreich lebe. Sie hätten seiner Schwiegermutter Geld abnehmen wollen und habe der Beschwerdeführer sie dabei überrascht. In der Folge seien Kadyrows Leute zum Beschwerdeführer geschickt worden. Mitte Juni 2005 habe er den Pass für seine Ehefrau bekommen. Seinen Pass habe er bereits gehabt. Er sei dann am 16.06.2005 weggefahren.
Der erwähnte Nachbar habe im Bundesgebiet vor anderen Leuten zugegeben, dass er den Beschwerdeführer in Tschetschenien verraten habe.
Ein Monat nach seiner Ausreise sei er gesucht worden.
Er habe einen Bekannten in Österreich, der nachhause telefoniert habe und dem Beschwerdeführer erzählt habe, dass das Haus von "XXXX" umstellt worden sei. Nur der Beschwerdeführer würde so heißen. Der Beschwerdeführer habe in der Folge zuhause angerufen, wo ihm mitgeteilt worden sei, dass sein "Neffe" - der Sohn seines Cousins - mitgenommen worden sei. Sie hätten seinen "Neffen" zwei oder drei Tage festgehalten, wobei der Beschwerdeführer Details am Telefon nicht besprechen habe können. Der Neffe des Beschwerdeführers sei 6 Jahre älter als der Beschwerdeführer. Das Haus des Beschwerdeführers sei zerstört worden, wobei die Täter Leute von Kadyrow sein sollen.
Zu Details seines Fluchtvorbringens befragt, schilderte der Beschwerdeführer die Hintergründe des Streites mit seinem Nachbarn im Jahr 2004. Der Nachbar habe vom Beschwerdeführer mit einem Besitzer einer Baufirma bekannt gemacht werden wollen, was der Beschwerdeführer auch gemacht habe. In der Folge sei es zwischen diesen zu Streitereien gekommen. Der Nachbar hätte irgendetwas zahlen sollen und habe dieser den Beschwerdeführer aufgefordert, dies zu regeln, wobei sich der Beschwerdeführer hiezu geweigert habe. In der Folge sei es zu besagter Schlägerei gekommen und habe der Nachbar in der Folge aus Rache eine Anzeige erstattet und den Beschwerdeführer bezichtigt, den Wahhabiten zu helfen.
Die Rauferei sei im Dezember 2004 gewesen und sei er vom Nachbarn ein oder zwei Monate später angezeigt worden. Im April habe er erfahren, dass eine Anzeige beim FSB vorliege. Der Nachbar heiße XXXX und sei im Jahr XXXX in XXXX geboren worden.
Zu den Problemen im Zusammenhang mit der Schwiegermutter befragt, erklärte der Beschwerdeführer, dass sie alle in einer Straße gelebt hätten und ein Nachbar (XXXX) der Schwiegermutter Geld abnehmen habe wollen, das diese für den Wiederaufbau ihres Hauses bekommen habe. Dieser Nachbar habe vorgegeben, mitbewirkt zu haben, dass die Schwiegermutter das Geld bekommen habe. Dann sei noch eine Gruppe gekommen. Die Schwiegermutter hätte letztlich das ganze Geld hergeben sollen und habe sich der Beschwerdeführer dann eingemischt. Dann seien Kadyrows Leute gekommen und danach habe die Schwiegermutter gemeint, dass sich der Beschwerdeführer nicht mehr einmischen solle. Der Beschwerdeführer habe XXXX in Österreich wieder getroffen. Dieser habe nach der Person, der Adresse und der Telefonnummer des Beschwerdeführers gefragt. Der Beschwerdeführer habe ihn bei einem weiteren Treffen beschimpft. Dabei habe XXXX vor Zeugen erklärt, dass er nichts tun hätte können, da sie auch ihn umbringen hätten wollen.
Befragt, wie sich der Beschwerdeführer damals in Tschetschenien eingemischt habe, als er erfahren habe, dass von seiner Schwiegermutter Geld gefordert worden sei, schilderte der Beschwerdeführer, der Schwiegermutter gesagt zu haben, den Nachbarn zu ihm zu schicken. Er sei mit seinem Onkel gekommen. Der Beschwerdeführer sei mit dem Onkel in die Kompensationsabteilung nach XXXX gefahren. Der Beschwerdeführer habe mit dem Kurator von XXXX geredet und ihn gefragt, ob der Onkel in irgendeiner Sache für seine Schwiegermutter etwas getan habe. Der Kurator habe gemeint, dass er nicht wisse, um wen es sich beim Onkel handeln würde. Daraufhin habe der Beschwerdeführer dem Onkel mitgeteilt, dass sie kein Geld bekommen würden. In der Folge seien in der Nacht die Leute von Kadyrow gekommen, wobei nichts passiert sei. Sie hätten lediglich miteinander geredet. Sie hätten auf der Straße geredet. Hereingekommen seien sie nicht. Nach dem Gespräch hätten sie begonnen, den Beschwerdeführer zu bedrohen. Das Ganze habe sich Anfang 2005 ereignet, wobei er lediglich verbal bedroht worden sei.
Befragt, wie oft er bedroht worden sei, meinte er, dass ihn viele Leute bedroht hätten; auch die Wahhabiten. Er trinke, rauche und sage seine Meinung.
Befragt, ob jemals jemand gewaltsam in sein Haus eingedrungen sei, meinte er, dass Derartiges jede Woche geschehen sei, wobei dies jedoch alle betroffen hätte. Über 2 Jahre hätten in XXXX Säuberungsaktionen stattgefunden.
Zuletzt sei im Jahr 2005 untertags - als es schon warm gewesen sei - gewaltsam in sein Haus eingedrungen worden, als sich der Bürgermeister Kadyrow unterstellt habe. Es sei nach einem rothaarigen Widerstandskämpfer gesucht worden, wobei der Neffe des Beschwerdeführers rothaarig sei. Auf Nachfrage erklärte der Beschwerdeführer, dass er nicht wisse, ob diese Aktion mit der Suche nach einem Widerstandskämpfer oder mit der gegen ihn erhobenen Anzeige zu tun gehabt habe.
Im Zusammenhang mit der Geldforderung an die Schwiegermutter sei niemals gewaltsam in sein Haus eingedrungen worden. Sie hätten lediglich auf der Straße gesprochen.
Auf Vorhalt der Ausführungen seiner Ehefrau über ein gewaltsames Eindringen in diesem Zusammenhang führte der Beschwerdeführer Männer mit Masken an, denen man nur Geld geben müsse. Es habe viele derartige Vorfälle gegeben. Er könne sich nicht an jeden Einzelnen erinnern. 2 Jahre lang habe er überhaupt die Granaten unterm Divan nicht weggegeben.
Auf die Frage, ob er bis zur Ausreise in seinem Haus geschlafen habe, erklärte er, im Falle von Bedrohungen woanders geschlafen zu haben. Er sei oft bei seinem Bruder gewesen. In XXXX habe er einen Cousin.
Im Monat vor seiner Ausreise sei er oft bei seinem Bruder und bei seinem Neffen gewesen. Es sei vorgekommen, dass er mitten in der Nacht gekommen und dann wieder gegangen sei. Seine Familie habe oft bzw. meist bei der Schwiegermutter geschlafen.
Auf Vorhalt der Ausführungen seiner Frau, wonach diese mit den Kindern beim Bruder im Keller geschlafen habe und der Beschwerdeführer zuhause, meinte der Beschwerdeführer, dass dies lediglich die Schilderungen seiner Ehefrau seien.
Der Beschwerdeführer habe seinen Reisepass über einen Bekannten beim UWD in XXXX ausstellen lassen. Er habe US-$ 700,00 für zwei Pässe bezahlt. Zuerst sei der Pass des Beschwerdeführers und danach jener seiner Ehefrau gekommen. Er habe den Pass beim XXXX bekommen. Er habe diesen bei der Behörde ausgehändigt bekommen und selbst unterschrieben.
Nach Vorhalt und Erörterung der Feststellungen zum Herkunftsstaat meinte der Beschwerdeführer, dass er keine Probleme hätte, im Herkunftsstaat eine Arbeit zu finden, man dort aber nichts über Kadyrow sagen dürfte.
Im Fall einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer seine Meinung offen kundtun und in der Folge umgebracht werden.
Abgesehen von seiner Familie halte sich im Bundesgebiet eine Cousine seiner Ehefrau auf. Er habe im Bundesgebiet keine Angehörigen zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Er sei nicht Mitglied in einem Verein und habe auch keine Ausbildung im Bundesgebiet absolviert. Im Bundesgebiet sei er aufgrund von zwei Vorfällen - Drohungen im Zusammenhang mit seinem Sohn - verurteilt worden. Der Beschwerdeführer und seine Familie würden von Unterstützung leben.
I.3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 27.11.2009, Zl. 05 12.068-BAG, wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I) und seine Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II). In Spruchpunkt III wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AslyG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Die belangte Behörde bewertete das Vorbringen des Beschwerdeführers - aus näher dargelegten Gründen - als unglaubwürdig.
Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers stehe seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen und aus dem Akteninhalt hätten sich keine Abschiebehindernisse ergeben. Die getroffene Ausweisungsentscheidung des Beschwerdeführers stehe in Einklang mit Art. 8 EMRK.
I.4. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht (Poststempel vom 11.12.2009) Beschwerde erhoben, in der dieser vollinhaltlich wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes infolge wesentlicher Verfahrensmängel und unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten wurde.
Darin verwies der Beschwerdeführer betreffend die Aufenthaltsorte vor der Flucht auf das Vorbringen seiner Ehefrau.
Im Rahmen der Einvernahme seien er und seine Ehefrau angehalten worden, alles kurz zu schildern, wobei es aber viel zu erzählen gegeben hätte. Deshalb sei es dann offenbar zu den im angefochtenen Bescheid dargelegten Widersprüchen gekommen.
In Österreich würden sich einige Personen aufhalten, die sein Vorbringen bestätigen könnten.
Zum Vorfall im April/Mai 2005 erklärte er, dass dieser Vorfall tatsächlich vorgefallen sei und die Schilderungen seiner Ehefrau hiezu richtig seien.
Aufgrund der vergangenen Zeit und im Lichte der vielen Vorfälle, die passiert seien, habe er einige Vorfälle vergessen.
Die Reisepässe seien ihm und seiner Ehefrau von einem Bekannten für je US-$ 350,00 besorgt worden. Mit Geld könne man in Tschetschenien alles haben.
I.5. Am 20.09.2012 fand vor dem Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei der der Beschwerdeführer und seine Ehefrau zur Aktualität ihrer Fluchtgründe bzw. zu einer mittlerweile erfolgten Integration der Familie befragt wurden (OZ 5Z). An der Verhandlung nahm auch ein Vertreter (ohne Zustellvollmacht) teil. Dabei wurden aktuelle Länderberichte zur Lage in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien verlesen und dem Vertreter zur schriftlichen Stellungnahme übergeben.
Im Zuge der Beschwerdeverhandlung wurde ein Konvolut an Unterlage zur Integration des Beschwerdeführers und insbesondere seiner Kinder vorgelegt. Betreffend seine Ehefrau wurde eine psychologische Stellungnahme vom Interkulturellen Beratungs- und Therapiezentrum zebra vom 17.07.2012 vorgelegt, wonach diese an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Darüber hinaus wurden die bereits im Verlauf des Verfahrens vorgelegten Fotos des zerstörten Hauses sowie neue Farbfotos, die die nunmehrige Situation zeigen sollen, vorgelegt.
Infolge der Beschwerdeverhandlung langte am 01.10.2012 eine Stellungnahme ein, in der das Vorbringen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau aus der Beschwerdeverhandlung chronologisch zusammengefasst wiedergegeben wurde.
Darüber hinaus wurden ein Radiologischer Befund betreffend die Ehefrau vom 01.06.2012 sowie die bereits vorgelegten Fotos, die den Ort zeigen sollen, wo das Haus des Beschwerdeführers gestanden sein soll, neuerlich vorgelegt. (OZ 6, 7, 8)
Am 02.10.2012 langte eine weitere Stellungnahme ein, in der die integrativen Bestrebungen des Beschwerdeführers und seiner Familienangehörigen im Bundesgebiet dargelegt wurden. (OZ 9, 10).
Der vorsitzende Richter veranlasste in der Folge beim Landesgericht XXXX und beim Bezirksgericht XXXX die Übermittlung der gegen den Beschwerdeführer ergangenen Strafurteile, die am 09.10.2012 und am 12.10.2012 beim Asylgerichtshof eingelangt sind. (OZ 11, 12)
I.6. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
Einsicht in den dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesasylamtes, Zl. 05 12.068-BAG, beinhaltend sämtliche Befragungen vor dem Bundesasylamt, die Beschwerde sowie die dem Bundesasylamt vorgelegten Unterlagen, die Einvernahme des Beschwerdeführers und seiner Familienangehörigen im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 20.09.2012 sowie die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Stellungnahmen und Unterlagen, Einsicht in die Verwaltungsakten der Ehefrau und der Kinder, Zlen. 05 12.069-BAG, 05 12.070-BAG, 05 12.071-BAG, 05 12.072-BAG und 08 06.583-BAG sowie durch Einsichtnahme in die Feststellungen des Asylgerichtshofs zur Lage in Tschetschenien, Stand Juli 2012.
I.7. Zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers wurde Folgendes festgestellt:
I.7.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig. An seiner Identität und seinen familiären Verhältnissen haben sich infolge der Vorlage entsprechender Dokumente keine Zweifel ergeben.
Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten ausgesetzt und drohen ihm solche auch in Zukunft nicht. Die von ihm vorgebrachten Gründe für die Ausreise aus der Russischen Föderation respektive Tschetschenien werden mangels Glaubwürdigkeit des Vorbringens nicht festgestellt.
Dem Beschwerdeführer droht zum Entscheidungszeitpunkt im Herkunftsstaat weder eine unmenschliche Behandlung, Todesstrafe oder unverhältnismäßige Strafe bzw. eine sonstige individuelle Gefahr.
Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers steht seiner Rückführung in den Herkunftsstaat nicht entgegen. Auch sonst war keine anderweitige Gefährdung im Gefolge seiner Rückkehr feststellbar, die einer Verletzung der durch die EMRK geschützten Rechte gleichkäme.
Der Beschwerdeführer hält sich im Bundesgebiet gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern - wobei seine älteste Tochter bereits volljährig ist - auf.
Der Beschwerdeführer und seine Familienangehörigen - vor allem seine drei älteren Kinder -haben sich nachhaltig im Bundesgebiet integriert und ist im Falle einer dauerhaften Aufenthaltsberechtigung und der Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung in Österreich von einer Arbeitsaufnahme und damit von seiner Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen, wobei dies insbesondere auch für seine beiden ältesten Kinder gilt, denen eine fortgeschrittene Integration im Bundesgebiet zu attestieren war.
Der Beschwerdeführer weist zwei rechtskräftige strafrechtliche Verurteilungen auf, deren Tilgung voraussichtlich im Jahr 2013 eintreten wird.
Am 16.10.2008 wurde der Beschwerdeführer durch das Landesgericht XXXX wegen § 107 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 2 Monaten verurteilt.
Am 20.11.2008 wurde der Beschwerdeführer durch das Bezirksgericht XXXX wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Zusatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Wochen verurteilt.
Seine Ehefrau und seine strafmündigen Kinder sind unbescholten.
Ein Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot wurde weder gegen den Beschwerdeführer noch gegen seine Ehefrau oder seine Kinder verhängt.
I.7.2. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:
Hinsichtlich der aktuellen Situation in der Russischen Föderation wird auf die im Akt einliegenden im Rahmen der Beschwerdeverhandlung dem Vertreter zur Stellungnahme vorgehaltenen Länderfeststellungen verwiesen.
Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland
(Stand Juli 2012)
Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.
In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.
Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut "(Kadyrow'scher Privatstaat" Uwe Halbach). Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.
Bis Februar 2011 wurde Russland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg bereits in 162 Fällen für schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenien-Kriegs verurteilt. Im Februar 2011 wurde Ramzan Kadyrow von Präsident Medwedew zu einer zweiten fünfjährigen Amtszeit als Republiksoberhaupt ernannt. Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten. Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".
Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.
(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:
Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 20, The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 8, Issue 42, 02.03.2011)
1. Allgemeine Sicherheitssituation
In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramzan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ging nach einem relativen Höchststand 2009 wieder zurück. Dennoch kam es 2010 und 2011 zu einigen ernsthaften Vorfällen. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 21, Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)
Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.
Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.
(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)
Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.
Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)
Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.
Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt, stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Allgemein ist nach wie vor ein hohes Maß an Gewalt feststellbar, vor allem außerjudizielle Tötungen und Kollektivstrafen. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet, werden und die Sicherheitslage in Tschetschenien dadurch weitgehend stabilisiert werden konnte, andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.
In Tschetschenien kam es im Sommer 2010 zu einer Spaltung innerhalb des bewaffneten Widerstands, als sich ein Teil der bewaffneten Kämpfer vom bis dahin einflussreichsten Anführer Doku Umarow und seiner Doktrin der Schaffung eines islamischen "Emirat Kaukasus" lossagte. Dieser Zwist führte, zusammen mit dem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen "Terroristen" und deren Angehörige, zu einer Abnahme der direkten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Widerstandskämpfern und Sicherheitskräften, ohne dass die Gewalt insgesamt weniger wurde. Die rund 20.000 "Kadyrowzy" sind nach wie vor aktiv. Die Jamestown Foundation schätzt, dass beinahe 90 Prozent der tschetschenischen islamistischen Gruppierungen nun dem Kommando von Emir Hussein unterstehen, während ein Großteil der dagestanischen, inguschetischen und kabardino-balkarischen "Jamaats" nach wie vor Umarow treu sind. Dieser wurde schon mehrmals totgesagt, was sich bis heute als falsch erwiesen hat.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation:
Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 6, 8 und 9; Russia, Freedom in the World 2012)
2. Verfolgungsgefahr
UNHCR sieht derzeit insbesondere (ehem.) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben und unter besonderen Umständen Frauen und Kinder, als besonders gefährdet an. Personen, die in Sicherheitseinrichtungen, z.B. unter Dudaev und Maschadov tätig gewesen sind oder früher an Rebellenaktivitäten teilgenommen haben, laufen nach wie vor Gefahr, bei einer Rückkehr in die Gefangenschaft zu geraten.
(Anfragebeantwortung von ACCORD vom 08.06.2010)
Dick Marty, Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, bezeichnet in seinem Bericht den Nordkaukasus als die "europäische Region, in der seit Jahren die gravierendsten und umfangreichsten Menschenrechtsverletzungen stattfinden" und spricht von "systematischen Menschenrechtsverletzungen". Willkürliche Festnahmen und Haft, bei denen es in den meisten Fällen zu Folter kommt, sind im Nordkaukasus alltäglich. Das Ziel ist meistens, Informationen über mutmaßliche Widerstandskämpfer oder Geständnisse sowie die Beschuldigung anderer Personen zu erhalten, welche später in einem Gerichtsverfahren verwendet werden können. Willkürliche Festnahmen werden aber auch eingesetzt, um Menschenrechtsaktivisten, Kritiker und andere Zivilpersonen unter Druck zu setzen und zum Schweigen zu bringen.
Folter und Misshandlung muss aber nicht nur die gesamte Zivilbevölkerung befürchten. Sie drohen auch aus dem Ausland zurückkehrenden Tschetschenen. Das erzwungene Verschwinden von Personen gehört wie Folter und Tötungen zum Alltag im Nordkaukasus.
Kadyrow versprach zudem 100.000 Dollar für jeden getöteten und 50.000 Dollar für jeden lebend gefangen genommenen "Aufständischen". Diese Strategie wird auch von Moskau öffentlich unterstützt. Von Menschenrechtsorganisationen wird kritisiert, dass Entschädigungszahlungen für zerstörte Liegenschaften nur in sehr beschränktem, unzureichendem Ausmaß bezahlt werden. Amnesty International weist darauf hin, dass viele der Entschädigten bis zu 50 Prozent der erhaltenen Gelder gleich als Bestechungsgelder bezahlen mussten. Hohe tschetschenische Beamte und auch Präsident Kadyrow selbst fielen immer wieder durch Drohungen gegenüber den Angehörigen von (mutmaßlichen) Widerstandskämpfern und Rechtfertigungen von kollektiver Bestrafung auf.
(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 10-14, sowie 17)
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann.
(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien, 20.4.2011)
2.1. Zivilbevölkerung
Vertreter russischer und internationaler NROs (Memorial, Human Rights Watch, amnesty international, Danish Refugee Council) zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 22)
Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:
Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.
Bis Mai 2011 hatte der EGMR in rund 180 Fällen Verletzungen der Artikel 2 und 3 der EMRK bei Einsätzen der Sicherheitskräfte in Tschetschenien festgestellt. 60% der Beschwerden betrafen das Verschwinden von Personen. [...] Die andauernden Muster der Straffreiheit für solch ernsthafte Verletzungen zählen zu den hartnäckigsten Menschenrechtsproblemen im Nordkaukasus. Es gab sicherlich mehrere positive Schritte wie die Einrichtung von Untersuchungskomitees, die Unterstützung der Teilnahme von Opfern bei der strafrechtlichen Verfolgung und die Verkündung mehrerer Direktiven hierzu. Viele Untersuchungen ergeben jedoch keinerlei Ergebnisse; in Fällen, in denen Behörden selbst in Verbrechen involviert waren bestehen Zweifel, inwieweit diese mit den Untersuchungsbehörden die notwendige Kooperation ermöglichen können.
(Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) will sicherstellen, dass die Polizei und Truppen des Innenministeriums, welche Sicherheitsoperationen durchführen, die Gesetze kennen. Daher führte das Komitee zwischen Juni 2010 und Jänner 2011 Informationsveranstaltungen für Sicherheitskräfte durch. Zudem führt das IKRK regelmäßigen Dialog mit föderalen und lokalen Exekutivbehörden über Festnahmen, Inhaftierungen und Gewaltanwendung.
(ReliefWeb: Russian Federation/Northern Caucasus: ICRC maintains aid effort, 1.3.2011,
http://www.reliefweb.int/rw/rwb.nsf/db900SID/JARR-8EJHNK?OpenDocument&rc=4&emid=ACOS-635PN7)
In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)
2.2. Die Rebellen
Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Doku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.
Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Doku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)
Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Vorfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Andererseits werden führende Posten in der Verwaltung von ehem. Rebellenkommandanten, die zu Kadyrow übergewechselt sind, eingenommen. Bei Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.
(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14
COI Workshop "Frauen in Tschetschenien" am 17.02.2012)
2.2.1. Das Vorgehen der Rebellen
In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.
Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)
2.2.2. Schwächung der Rebellenbewegung
Es kamen zahlreiche Anführer des Kaukasus Emirats ums Leben, darunter auch tschetschenische. Zuletzt wurde am 21. August 2010 der "Emir von Grosny", Chamsat Schamilew, bei einem Sondereinsatz getötet. Gerade in Tschetschenien selbst gelang es im Gegensatz zu Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien aber nicht, auch bedeutende Führungspersönlichkeiten wie Doku Umarow, festzunehmen oder zu liquidieren. Ob die Tötung von Führungspersönlichkeiten zu einer Schwächung der tschetschenischen Rebellenbewegung führen würde, ist fraglich. Das Beispiel der anderen Republiken zeigt, dass dies zumindest kurzfristig nicht zu einer entscheidenden Schwächung der einzelnen Dschamaat führt.
Die nordkaukasische Widerstandsbewegung wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert. Radikal-islamisches Gedankengut findet jedoch in Tschetschenien kaum Sympathien in der Bevölkerung, die Islamisten können sich durch den hohen Repressionsdruck nicht frei in der Öffentlichkeit bewegen. Obwohl die radikal-islamische Ausrichtung einige Männer abschrecken soll sich den Kämpfern anzuschließen, scheint die nordkaukasische Rebellenbewegung keine Probleme zu haben, neue Mitglieder zu rekrutieren. Obwohl die Rekrutierung neuer Mitglieder kein Problem darstellt, gehen den tschetschenischen Kämpfern einigen Beobachtern zufolge zusehends die Ressourcen aus, da es Kadyrow und russischen Sicherheitskräften gelungen sei, ihre Versorgungslinien abzuschneiden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16-18)
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)
Die tschetschenische Polizei hat nach Angaben des tschetschenischen Innenministers Ruslan Alchanow seit dem Jahresbeginn (2011) 13 Extremisten vernichtet und 41 mutmaßliche Teilnehmer gesetzwidriger bewaffneter Gruppen festgenommen. Weitere zehn Mitglieder der bewaffneten Formationen stellten sich selbst, hieß es. "Die illegalen bewaffneten Gruppen in Tschetschenien sind in der letzten Zeit beträchtlich geschrumpft und bekommen praktisch keine personelle Auffüllung mehr", so der Minister. "Die unbedeutenden Reste dieser Gruppen sind nicht in der Lage, etwas zu ändern, geschweige denn die Lage in der Republik Tschetschenien zu destabilisieren."
(Ria Novosti: Empfindliche Verluste bei Extremisten, 24.4.2011, http://de.rian.ru/russia/20110424/258932158.html, Zugriff 1.6.2011)
2.2.3. Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen
Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Clanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)
Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind.
(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)
Am 6. Juli 2010 forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.
(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)
2.3. Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:
Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen offiziellen tschetschenischen Einheiten, insbesondere zwischen solchen unter der Kontrolle Kadyrows und jenen unter der Kontrolle von Personen, die gemeinhin als seine persönlichen Gegner bezeichnet wurden, wie zum Beispiel der mittlerweile ermordete Sulim Jamadajew und der nunmehr aus Tschetschenien vertriebene Said-Magomed Kakijew. Bei diesen Zusammenstößen kam es auch zu Todesfällen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 10)
Seit 2009 wurde eine zunehmende Zahl von Menschenrechtsverteidigern aus dem Nordkaukasus drangsaliert, geschlagen, entführt und getötet. Auch der tschetsch