Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Höllwerth als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** S*****, vertreten durch Weinberger Gangl Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei A.***** GmbH, *****, vertreten durch Rechtsanwälte Pitzl & Huber Anwaltspartnerschaft in Linz, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens 1 Cg 90/07v des Landesgerichts Ried im Innkreis, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Klägers gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 8. Juli 2009, GZ 4 R 96/09d-11, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 25. Februar 2009, GZ 1 Cg 91/08t-7, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Rekurs- und des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Bei einer am 11. 11. 2004 im Krankenhaus der Beklagten durchgeführten Operation des rechten Hüftgelenks (Implantation einer zementfreien Hüftprothese) des Wiederaufnahmsklägers (im Folgenden: Kläger) kam es beim Hineinschlagen der Probierprothese zu einer Schaftsprengung. Zur Behebung dieser äußerst seltenen Komplikation wurden vier Stück Titancerclagen um den Knochen herum angelegt und mit einem „Spanner" befestigt. Wegen eines nachträglichen Einsinkens des künstlichen Schafts in den Röhrenknochen wurde die bereits implantierte Hüftprothese am 3. 12. 2004 wieder entfernt und durch eine neue ersetzt. Danach ging es dem Kläger zunächst besser. In weiterer Folge hatte er allerdings wieder permanent starke Schmerzen im Bereich des rechten Oberschenkels.
Im Verfahren 1 Cg 90/09v des Landesgerichts Ried im Innkreis, dessen Wiederaufnahme nun angestrebt wird, begehrte der Kläger 50.000 EUR an Schmerzengeld und die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Spät- und Dauerfolgen. Die Schaftsprengung und die nicht lege artis vorgenommene Anbringung der Titancerclagen stellten ärztliche Kunstfehler dar, für die die Beklagte hafte. (Der ursprünglich noch erhobene Vorwurf eines Aufklärungsfehlers bildet keinen Streitpunkt mehr und bedarf daher hier keiner weiteren Erwähnung.)
Die Beklagte wendete ein, die eingetretenen Komplikationen wären auch bei sorgfältigster Vorgangsweise nicht zu verhindern gewesen. Die Operationen seien nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt worden.
Das Erstgericht wies die Klage ab. Es stellte noch fest, dass ein Wegstehen oder Hineinragen der Cerclagen in die Muskulatur nicht nachzuweisen sei; geringgradiges Wegstehen sei unvermeidbar und als regelgerecht zu erachten. Die Schaftsprengung sei eine sich im üblichen Risikobereich bewegende Komplikation. Den Ärzten der Beklagten sei daher kein Kunstfehler vorzuwerfen. Ursache der Schmerzen könne auch ein Bandscheibenleiden des Klägers sein. Dessen Vorbringen, eine Schaftlockerung sei von den Ärzten der Beklagten nicht erkannt worden, sei grob schuldhaft verspätet erstattet worden und sei daher als unzulässig zurückzuweisen gewesen.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Die Operationen seien lege artis durchgeführt worden. Dass der Kläger auch noch Jahre danach an starken Schmerzen im Hüftbereich gelitten habe, könne nicht auf einen Behandlungsfehler zurückgeführt werden, sondern sei auch durch das Bandscheibenleiden erklärbar.
Eine gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts erhobene außerordentliche Revision des Klägers wurde mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage zurückgewiesen (7 Ob 60/09p).
Mit der vorliegenden Wiederaufnahmsklage begehrt der Kläger, das Urteil im Vorprozess aufzuheben und sowohl seinem Leistungs- als auch seinem Feststellungsbegehren stattzugeben. Am 19. 11. 2008 (nach Schluss des Verfahrens erster Instanz im Vorprozess) sei an der Universitätsklinik Salzburg eine neuerliche Operation durchgeführt worden. Dabei seien drei der vier Titancerclagen entfernt worden, nachdem sich herausgestellt habe, dass die aufragenden Cerclage-Enden vollständig mit der Muskulatur verwachsen und verklumpt gewesen seien. Seit der Operation seien die spezifischen massiven Schmerzen im rechten Oberschenkel nicht mehr gegeben. Die nicht der Montageanleitung entsprechende Implantation der Titancerclagen, die - wie auch der Operateur der Universitätsklinik mitgeteilt habe - die Schmerzursache gewesen sei, stelle einen von der Beklagten zu verantwortenden Kunstfehler dar. Ein Kunstfehler sei auch, dass man die Schaftlockerung auch bei den Nachbehandlungen nicht erkannt habe. Beide Umstände seien dem Kläger erst seit der Operation am 19. 11. 2008 „gesichert bekannt" und stellten daher neue Tatsachen und Beweismittel dar, aus denen sich die Unrichtigkeit der Entscheidungsgrundlagen im Vorverfahren 1 Cg 90/07v des Landesgerichts Ried im Innkreis ergebe. Das im Vorverfahren eingeholte medizinische Sachverständigengutachten beruhe demnach auf unzulässigen oder unvollständigen Grundlagen.
Die Beklagte bestritt das Vorliegen eines Wiederaufnahmsgrundes und beantragte Klagsabweisung.
Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklage im Vorprüfungsverfahren nach § 538 ZPO mangels eines gesetzlichen Wiederaufnahmsgrundes zurück. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Neue Tatsachen seien nur dann ein Wiederaufnahmsgrund, wenn sie schon vor Schluss der mündlichen Streitverhandlung erster Instanz entstanden gewesen seien. Die nach Schluss der Verhandlung erster Instanz stattgefundene Operation und alle im Zusammenhang mit dieser von wem immer gemachten Wahrnehmungen seien daher kein tauglicher Wiederaufnahmsgrund. Weiters könne die Wiederaufnahmsklage nicht auf Tatsachen und Beweise gestützt werden, die wegen Verschleppungsabsicht zurückgewiesen worden seien. Das Vorbringen des Klägers, eine Schaftlockerung sei nicht erkannt worden, sei ebenso wie die dazu beantragten Beweismittel im Vorprozess wegen Verschleppungsabsicht zurückgewiesen worden und könne daher nicht als Wiederaufnahmsgrund geltend gemacht werden. Soweit die dem Kläger nachteiligen Urteilsfeststellungen im Vorprozess aus einem Sachverständigengutachten gewonnen worden seien, könne eine Wiederaufnahmsklage nicht auf nachträgliche Umstände gestützt werden, aus denen sich die Unrichtigkeit des Gutachtens ergebe. Dass die Tatsachengrundlage des Sachverständigengutachtens im Vorprozess unrichtig oder unvollständig gewesen wäre, sei, lasse man die nachträgliche Operation außer Acht, nicht richtig. Das Erstgericht habe daher zutreffend erkannt, dass die Klage auf keinen gesetzlich zulässigen Wiederaufnahmsgrund gestützt sei.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und dass der ordentliche Revisionsrekurs nach § 528 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei, weil es lediglich die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auf den Einzelfall angewendet habe.
Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers, der unrichtige rechtliche Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend macht und beantragt, die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens über die Wiederaufnahmsklage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.
Die Beklagte stellt in der ihr freigestellten Revisionsrekursbeantwortung den Antrag, das außerordentliche Rechtsmittel ihres Prozessgegners entweder als unzulässig zurück- oder mangels Berechtigung abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts ist der Revisionsrekurs im Hinblick auf jüngere oberstgerichtliche Judikatur zur Problematik der Unvollständigkeit der Grundlagen eines im Vorprozess eingeholten Sachverständigengutachtens zulässig und auch berechtigt.
Der vom Kläger geltend gemachte Wiederaufnahmsgrund der Auffindung neuer Tatsachen und Beweismittel (§ 530 Abs 1 Z 7 ZPO) soll der materiellen Wahrheit in jenen Fällen zum Durchbruch verhelfen, in denen die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen (Urteilstatbestand) unrichtig oder unvollständig waren (10 ObS 169/93f mwN). Zwar hat der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass etwa ein nachträglich beigebrachtes Gutachten ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine neue Tatsache und auch kein neues Beweismittel darstellt, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt war (RIS-Justiz RS0044834). Die gegenteilige Ansicht hätte nämlich zur Folge, dass Prozesse, in denen ein Sachverständigenbeweis beantragt hätte werden können, wiederaufgenommen werden müssten, wenn die unterlegene Partei nachträglich ein ihrem Standpunkt günstiges Gutachten vorlegen kann, aber auch Prozesse, in denen ein Sachverständigenbeweis bereits durchgeführt wurde, wiederaufgenommen werden müssten, wenn die unterlegene Partei ein Gutachten vorlegt, das von dem des bestellten Sachverständigen abweicht (9 Ob 7/05b ua). Beruht ein im Vorprozess erstattetes Sachverständigengutachten jedoch auf einer unzulänglichen Grundlage, war somit die Entscheidungsgrundlage noch nicht vollständig, kann auch Umständen (etwa einem nachträglich erstatteten Gutachten), durch welche die Urteilsgrundlage vervollständigt wird, die Eignung als Wiederaufnahmsgrund nicht von vornherein abgesprochen werden (10 ObS 169/03f; 9 Ob 7/05b). Nur die neu aufgefundenen Tatsachen (§ 530 Z 7 ZPO), nicht aber auch die neuen Beweismittel müssen bereits bei Schluss der mündlichen Verhandlung des Hauptprozesses vorhanden gewesen sein (RIS-Justiz RS0044441; Jelinek in Fasching/Konecny2 IV/1 § 530 ZPO Rz 162 mwN).
Im vorliegenden Fall standen dem im Vorverfahren beigezogenen medizinischen Sachverständigen zur Beurteilung der Frage, ob die Titancerclagen ordnungsgemäß angebracht wurden und als Schmerzursache in Betracht kommen, nur die radiologische Befundung (mittels Röntgen) zur Verfügung. Dass die Beurteilungsgrundlage damit unvollständig sein und durch die Operation vom 19. 11. 2008 geändert und auch verbessert werden konnte, liegt auf der Hand. Nicht diese Operation selbst, sondern die dadurch erkennbare, bereits vor Schluss der Verhandlung erster Instanz im Vorprozess bestehende, Situierung (unsachgemäße Implantierung) der Cerclagen stellt eine „neue Tatsache" im Sinn des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO dar, deren Benützung im früheren Verfahren möglicherweise eine dem Kläger günstigere Entscheidung herbeiführen hätte können. Seiner Wiederaufnahmsklage kann somit die Geltendmachung eines abstrakt geeigneten Wiederaufnahmsgrundes nicht abgesprochen werden.
Anders verhält es sich mit dem vom Kläger als weiteren Wiederaufnahmsgrund gegen die Ärzte der Beklagten erhobenen Vorwurf, sie hätten eine Schaftlockerung nicht erkannt. Das bereits im Vorprozess erstattete betreffende Vorbringen des Klägers wurde von den Vorinstanzen wegen Verschleppungsabsicht zurückgewiesen. Wie schon das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, kann eine Wiederaufnahmsklage nicht auf Tatsachenvorbringen und Beweise gestützt werden, die wegen Verschleppungsabsicht zurückgewiesen wurden (2 Ob 68/26 SZ 8/45, RIS-Justiz RS0044952). Ob Verschleppungsabsicht oder grob schuldhafte Verspätung den Zurückweisungsgrund bildet, ist unerheblich: Ausschlaggebend ist, dass die präkludierten Tatsachen und Beweismittel nicht „neu" sind (Jelinek in Fasching/Konecny2 § 530 ZPO Rz 167).
Auf den Einwand einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens, die vom Kläger darin erblickt wird, dass die Vorinstanzen über ein im Wiederaufnahmsverfahren auch noch erhobenes Eventualbegehren nicht abgesprochen haben, muss nicht mehr eingegangen werden.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
Textnummer
E92487European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0070OB00183.09A.1118.000Im RIS seit
18.12.2009Zuletzt aktualisiert am
09.12.2010