Index
41 Innere AngelegenheitenNorm
EMRK Art3Leitsatz
Verletzung im Recht auf Unterlassung unmenschlicher odererniedrigender Behandlung durch Zurückweisung von Asylanträgen undAusweisung einer allein stehenden afghanischen Mutter mit ihrenminderjährigen Kindern unter Hinweis auf die ZuständigkeitGriechenlands im Sinne der Dublin II-Verordnung; keine ausreichendeWürdigung der Frage der Verpflichtung Österreichs zum Selbsteintrittbei besonders schutzwürdigen PersonenSpruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, gemäß Art3 EMRK verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.000,-
bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Die Erstbeschwerdeführerin (geboren am 1. Jänner 1969), reiste mit ihren minderjährigen Kindern, der Zweitbeschwerdeführerin (geboren am 1. Jänner 1994), dem Drittbeschwerdeführer (geboren am 1. Jänner 2004), der Viertbeschwerdeführerin (geboren am 1. Jänner 2003) und der Fünftbeschwerdeführerin (geboren am 1. Jänner 1998), alle Staatsangehörige Afghanistans, illegal nach Griechenland ein. Nach ungefähr einwöchigem Aufenthalt in Griechenland, wo ihnen die Fingerabdrücke abgenommen wurden, reisten die Beschwerdeführer, ohne einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, am 14. August 2009 nach Österreich ein und stellten am selben Tag Anträge auf internationalen Schutz.
1.1. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gaben die Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass sie Afghanistan verlassen hätten, da die Erstbeschwerdeführerin von ihrem Ehemann und ihrem Schwiegervater schlecht behandelt worden sei. Zudem hätte ihre älteste Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin, gegen ihren Willen verheiratet werden sollen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte sie, dass sie alle getötet würden.
1.2. Nachdem das vom Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) am 20. August 2009 an die griechischen Behörden gerichtete Aufnahmeersuchen gemäß Art10 Abs1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. 2003 L 50, S 1 (im Folgenden: Dublin II-VO), unbeantwortet blieb, wurde Griechenland gemäß Art18 Abs7 Dublin II-VO zur Prüfung der Asylanträge zuständig.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BAA am 27. Oktober 2009 erklärten die Beschwerdeführer mit näherer Begründung, dass sie nicht mehr nach Griechenland zurück wollten.
1.3. Mit Bescheiden vom 1. Dezember 2009 wies das BAA die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß §5 Abs1 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100/2005 (im Folgenden: AsylG 2005), als unzulässig zurück und stellte fest, dass zur Prüfung der Asylanträge gemäß Art18 Abs7 Dublin II-VO Griechenland zuständig sei. Ferner wies das BAA die Beschwerdeführer gemäß §10 Abs1 Z1 AsylG 2005 nach Griechenland aus und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführer nach Griechenland gemäß §10 Abs4 AsylG 2005 für zulässig.
2. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 20. Jänner 2010 wies der Asylgerichtshof (im Folgenden: AsylGH) die Beschwerde der Beschwerdeführer gegen die Bescheide des BAA vom 1. Dezember 2009 gemäß §§5 und 10 AsylG 2005 als unbegründet ab. Die Zuständigkeit Griechenlands zur Prüfung der Asylanträge der Beschwerdeführer ergebe sich gemäß Art10 Abs1 iVm Art18 Abs7 Dublin II-VO. Die Verpflichtung zum Selbsteintritt Österreichs (Art3 Abs2 Dublin II-VO) verneinte der Asylgerichtshof. Da zu dem in Österreich lebenden Cousin der Erstbeschwerdeführerin kein besonderes Abhängigkeits-, Pflege- oder Naheverhältnis bestehe, der Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich erst sehr kurz sei und ein niedriger Integrationsgrad bestehe, liege im Falle der Rücküberstellung der Beschwerdeführer nach Griechenland keine Verletzung des Art8 EMRK vor.
Ebenso wenig bestehe die Gefahr der Verletzung des Art3 EMRK im Falle der Rücküberstellung der Beschwerdeführer nach Griechenland. Asylwerber, die gemäß der Dublin II-VO nach Griechenland rücküberstellt werden, hätten die Möglichkeit, am Flughafen in Griechenland einen Asylantrag zu stellen und die "rosa Karte" zu erhalten, die ihnen ein Recht auf Unterkunft und Verpflegung, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zur Gesundheitsversorgung in Griechenland gewähre. Es gebe zwar Engpässe bei der Unterbringung und bestehende Versorgungsprobleme, jedoch würden vulnerable Personen (wie kranke Kleinstkinder und Säuglinge) bzw. "sensible Fälle" prioritär behandelt. Bei den Beschwerdeführern handle es sich jedoch nicht um besonders vulnerable Personen, sondern um eine junge, gesunde Frau mit vier, dem Kleinstkindalter entwachsenen, gesunden Kindern, denen eine allenfalls vorübergehend ungewisse Unterbringungslage zumutbar wäre.
3. In der gegen die Entscheidung des AsylGH gemäß Art144a B-VG erhobenen Beschwerde wird die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Art3 EMRK sowie Gleichbehandlung von Fremden untereinander) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt. Begründend wird u.a. ausgeführt, dass aufgrund der einschlägig und notorisch bekannten Tatsachen über den Zustand des Asylverfahrens in Griechenland weder mit einem fairen Verfahren, noch mit staatlicher Unterstützung zu rechnen sei. Es gebe so gut wie keine Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende. Durch die Vollziehung der Ausweisung und der Abschiebung nach Griechenland bestehe für die Beschwerdeführer ein "real risk" in ihren Grundrechten, insbesondere nach Art3 EMRK, verletzt zu werden.
4. Der AsylGH legte die Verwaltungsakten des BAA sowie die Gerichtsakten vor, erstatte eine Gegenschrift und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wird durch eine Entscheidung des AsylGH verletzt, wenn er eine Verletzung desselben nicht wahrnimmt. Ein solcher verfassungswidriger Eingriff liegt aber auch vor, wenn die Entscheidung in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn er auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn der Behörde grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (zB VfSlg. 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998 und 16.384/2001).
2. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:
2.1. Wie der AsylGH selbst geschildert hat, gibt es bestehende Versorgungsprobleme und Engpässe bei der Unterbringung von Asylwerbern in Griechenland. Den in den Verwaltungsakten beiliegenden Bescheiden des BAA ist weiters zu entnehmen, dass Familien nach ihrer Rückkehr auf eine Warteliste für die Unterbringung in Aufnahmezentren gesetzt würden. Staatliche Unterstützung gebe es nicht, jedoch Informationen darüber, welche Organisationen Hilfe zur Verfügung stellen würden. Es gebe drei staatliche Aufnahmezentren, in welche speziell Familien aufgenommen würden; die durchschnittliche Wartezeit für die Aufnahme in diese Zentren betrage allerdings etwa zwei Monate. Selbst wenn der AsylGH feststellt, dass es sich bei den Beschwerdeführern nicht um besonders vulnerable Personen, sondern "um eine junge, gesunde Frau mit vier, dem Kleinstkindalter entwachsenen, gesunden Kindern" handle, ist dennoch von einer speziellen Schutzbedürftigkeit dieser Familie auszugehen; einer alleinstehenden Mutter mit mehreren minderjährigen Kindern kann eine allenfalls vorübergehend ungewisse Unterbringungslage mit einer möglichen mehrmonatigen Wartezeit für die Aufnahme in ein Quartier nicht zugemutet werden, da diesfalls eine Rücküberstellung nach Griechenland in Widerspruch zu Art3 EMRK stehen würde.
2.2. Der AsylGH hat im vorliegenden Fall - in Kenntnis um die allgemeine Situation von Asylsuchenden in Griechenland und speziell um die Aufnahmesituation von Familien - keine ergänzenden Erhebungen veranlasst, um gewährleisten zu können, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rücküberstellung nach Griechenland durch eine mangelnde Versorgung nicht in ihren nach Art3 EMRK garantierten Rechten verletzt werden.
Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 7. Oktober 2010, U694/10, ausgesprochen hat, bedarf es im Hinblick auf Art3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen einer individualisierten Versorgungszusage durch griechische Behörden. Eine solche wurde in den vorliegenden Fällen vom AsylGH aber nicht eingeholt.
2.3. Dadurch, dass der AsylGH diese, zur Beurteilung der Frage, ob Österreich zum Selbsteintritt gemäß Art3 Abs2 Dublin II-VO verpflichtet wäre, unabdingbare Prämisse nicht hinreichend bzw. zutreffend gewürdigt hat, wurden die Beschwerdeführer in ihrem Recht gemäß Art3 EMRK verletzt.
III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Die Entscheidung war daher aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88a iVm §88 VfGG. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, war der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen (vgl. VfGH 26.6.1998, B259/96). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 500,-
enthalten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Asylrecht, BehördenzuständigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2011:U223.2010Zuletzt aktualisiert am
20.09.2012