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62 Arbeitsmarktverwaltung;Norm
AlVG 1977 §10 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Zens, Dr. Bayjones, Dr. Schick und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hanslik, über die Beschwerde der SS in L, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwälte in W, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom 19. April 2000, Zl. LGS NÖ/JUR/12181/2000, betreffend Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld gemäß § 10 AlVG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen, angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde ausgesprochen, dass die Beschwerdeführerin ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 13. September 1999 bis 24. Oktober 1999 verloren habe. Nach Wiedergabe der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin, Mutter zweier 1991 und 1993 geborenen Kinder, am 31. August 1999 vom Arbeitsmarktservice W. eine Teilnahme an einer Schulungsmaßnahme der Volkshilfe Niederösterreich, Projekt "Patchwork" (nach der Aktenlage ein Kurs zum Bewerbungstraining, der auch Berufsinformation und Berufsorientierung vermitteln soll), mit Kursort W. und Kursbeginn am 13. September 1999 angeboten worden sei. Dieses Projekt würde gemeinsam vom Arbeitsmarktservice W. und der Volkshilfe Niederösterreich für Frauen veranstaltet und richte sich an Wiedereinsteigerinnen. Die Dauer betrage 14 Wochen, die Kurszeiten seien von Montag bis Freitag ganztags konzipiert, könnten aber auch aufgrund des modularen Angebotes flexibel gestaltet werden, entweder vormittags, nachmittags oder ganztags.
Am 13. September 1999 habe die Kontaktperson dieses Projektes dem Arbeitsmarktservice mitgeteilt, dass die Beschwerdeführerin an der Schulungmaßnahme nicht teilnehme, sie strebe nur eine Teilzeitmaßnahme am Vormittag an, da sie nachmittags keine Kinderbetreuungsmöglichkeit habe. Zur Nichtteilnahme an der Schulungsmaßnahme befragt, habe die Beschwerdeführerin am 27. September 1999 niederschriftlich bei der regionalen Geschäftsstelle W. angegeben, dass sie nur vormittags einen Kurs besuchen wolle, da ihre Kinder vier Jahre lang von Tagesmüttern bzw. anders betreut worden seien und sie dies nun nicht mehr wolle. Außerdem habe sie sich beim Krankenhaus W. als Teilzeitkraft beworben.
Im Berufungsverfahren sei unter anderem festgestellt worden, dass die Entfernung vom Wohnort der Berufungswerberin L. zum Kursort W. 13 km betrage und mit ihrem PKW in ca. 30 Minuten zurückgelegt werden könne. Eine Abfrage beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger am 30. März 2000 habe ergeben, dass die Beschwerdeführerin am 3. Jänner 2000 ein Dienstverhältnis beim Allgemeinen Öffentlichen Krankenhaus in W. aufgenommen habe.
Rechtlich erwog die belangte Behörde, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Berufung geltend gemacht habe, dass die zugewiesene Schulungsmaßnahme deshalb nicht zumutbar gewesen sei, weil diese Maßnahme wochenweise auch nachmittags stattgefunden hätte, sie keine Betreuung für ihre minderjährigen Kinder zu dieser Zeit hätte und sie sich eine Kinderbetreuung finanziell nicht leisten könne. Hinsichtlich einer Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen vertrete der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht, dass bei Prüfung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung bzw. Maßnahme zu prüfen sei, ob hiedurch die Versorgung der Familienangehörigen, zu deren Unterhalt der Arbeitslose verpflichtet sei, nicht gefährdet werde. Voraussetzung hiefür sei demnach, dass deshalb, weil der Arbeitslose wegen dieser Beschäftigung bzw. Maßnahme nicht täglich an seinen Wohn- oder Aufenthaltsort zurückkehren könne oder weil ihm zwar eine solche Rückkehr möglich sei, er aber wegen der längeren Anfahrtszeiten im Verhältnis zu einer Beschäftigung bzw. Maßnahme am Wohnort in der Versorgung der Familienangehörigen beeinträchtigt sei, die Versorgung dieser Angehörigen gefährdet werde. Aufgrund des Anfahrtsweges von ca. 30 Minuten sei eine Gefährdung der Versorgung der Kinder im Verhältnis zu einer Beschäftigung am Wohnort nicht gegeben. Für die Beschwerdeführerin sei ein Betreuungsplan erstellt worden. Dabei werde bei der Vermittlung von Beschäftigungen Rücksicht auf Betreuungspflichten genommen. Die Beschwerdeführerin habe genügend Zeit gehabt, eine Kinderbetreuung zu organisieren, sodass diese Pflichten eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nicht länger verhinderten. Die Kurszeiten der Schulungsmaßnahme "Patchwork" würden flexibel gestaltet werden können, sie würden wöchentlich wechseln können, einmal vormittags, einmal nachmittags, was einer Teilzeitmaßnahme entspreche und die Versorgung der Kinder nicht gefährde. Die Kinder, die 1991 und 1993 geboren worden seien, bedürften auch keiner ständigen elterlichen Betreuung mehr, weshalb die Schulungsmaßnahme, die wochenweise auch nachmittags stattfinde, zumutbar sei. Die Beschwerdeführerin wisse um die Möglichkeit einer Kinderbetreuungsbeihilfe, wolle jedoch laut eigenen Angaben die Kinder nicht betreuen lassen. Die halbtags festgesetzten Kurszeiten würden die Versorgung der Kinder in keinster Weise gefährden, weshalb die von der regionalen Geschäftsstelle W. zugewiesene Schulungsmaßnahme beim Projekt "Patchwork" den Zumutbarkeitskriterien des § 9 AlVG entspreche. Der Ausschuss für Leistungsangelegenheiten der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich gelange daher zur Überzeugung, dass die Beschwerdeführerin den Tatbestand des § 10 Abs. 1 AlVG verwirklicht habe, der den Verlust des Arbeitslosengeldes für sechs Wochen rechtfertige.
Berücksichtigungswürdige Gründe für eine Nachsicht im Sinne des § 10 Abs. 2 AlVG (wie z.B. Arbeitsaufnahme innerhalb der Ausschlussfrist) würden nicht vorliegen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
In der Beschwerde wird unter anderem geltend gemacht, dass im konkreten Fall jede Begründung und jeder Nachweis dafür fehle, dass der Beschwerdeführerin durch die Teilnahme am Kurs "Patchwork" jene Fähigkeiten vermittelt worden wären, ohne die sie nicht in der Lage gewesen wäre, einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erlangen. Weder die belangte Behörde noch die Behörde erster Instanz hätten sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Der Nachweis der Notwendigkeit der Schulungsmaßnahme sei im vorliegenden Fall umso mehr erforderlich, als feststehe, dass die Beschwerdeführerin zuletzt vom 3. Juli 1989 bis 31. Mai 1999 in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden sei und sich das Projekt "Patchwork" an Wiedereinsteigerinnen richte. Bei der Beschwerdeführerin handle es sich um keine Wiedereinsteigerin. Aus dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde lasse sich daher nicht entnehmen, warum eine Teilnahme am Kurs "Patchwork" zwecks Wiedereingliederung der Beschwerdeführerin notwendig gewesen sei. Dass die Schulungsmaßnahme bei der Beschwerdeführerin nicht notwendig gewesen sei, zeige vor allem die Tatsache, dass sie zwischenzeitig - auch ohne Kursteilnahme - eine Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden hätte, welche ihr auch die Betreuung der Kinder am Nachmittag ermögliche. Im konkreten Fall habe die Behörde verlangt, dass sich die Beschwerdeführerin - obwohl sie keine Wiedereinsteigerin sei - einem Kurs für Wiedereinsteigerinnen von Mitte September bis Weihnachten 1999 unterziehe, welcher nicht nur dem AMS Kosten verursache, sondern auch der Beschwerdeführerin, die jede zweite Woche für die Nachmittagsbetreuung ihrer beiden minderjährigen Kinder zu sorgen gehabt hätte.
Die belangte Behörde hatte vorliegendenfalls das AlVG in der Fassung der Kundmachung BGBl. I Nr. 193/1999 anzuwenden.
Nach § 9 Abs. 1 AlVG gilt ein Arbeitsloser nur dann als arbeitswillig, wenn er bereit ist,
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eine durch die regionale Geschäftsstelle des AMS vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder
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sich zum Zwecke beruflicher Ausbildung nach- und umschulen zu lassen oder
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an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilzunehmen oder
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von einer sonst sich bietenden Arbeitsmöglichkeit Gebrauch zu machen und
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auch sonst alle gebotenen Anstrengungen von sich aus unternimmt, eine Beschäftigung zu erlangen, soweit ihm dies nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbar ist.
Gemäß § 10 Abs. 1 AlVG verliert ein Arbeitsloser, der ohne wichtigen Grund die Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verweigert oder den Erfolg der Maßnahme vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Diese Bestimmungen sind Ausdruck des dem gesamten Arbeitslosenversicherungsrecht zugrundeliegenden Gesetzeszwecks, den arbeitslos gewordenen Versicherten, der trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keinerlei Beschäftigung gefunden hat, möglichst wieder durch Vermittlung in eine ihm zumutbare Beschäftigung einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten. Wer eine Leistung der Versichertengemeinschaft der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nimmt, muss sich daher darauf einstellen, an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auch teilzunehmen (vgl. die zur Bereitschaft, eine vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen, ergangenen hg. Erkenntnisse vom 23. Februar 1984, Slg. Nr. 11.337/A, und vom 27. April 1993, Zl. 92/08/0219). Um sich durch die Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt arbeitswillig zu zeigen, bedarf es grundsätzlich einerseits eines auf die Teilnahme ausgerichteten aktiven Handelns des Arbeitslosen, andererseits aber auch der Unterlassung jedes Verhaltens, welches objektiv geeignet ist, den Erfolg der Maßnahme zu vereiteln.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinen Erkenntnissen vom 21. Dezember 1993, Zlen. 93/08/0215-0218, und vom 20. Dezember 1994, Zl. 93/08/0134, zur Rechtslage vor der Novelle BGBl. Nr. 502/1993 ausgeführt, es könne aus dem § 9 Abs. 1 und § 10 Abs. 1 AlVG nicht abgeleitet werden, dass es im freien Belieben des Arbeitsamtes stünde, einem Arbeitslosen (auch einem Langzeitarbeitslosen) entweder eine Arbeitsstelle zu vermitteln oder ihn zu einer Nach- oder Umschulung zuzuweisen. Eine solche Zuweisung vermöge sich insbesondere auch nicht auf die vom Arbeitslosen (auch wiederholt) an den Tag gelegte Arbeitsunwilligkeit, eine ihm durch das Arbeitsamt zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen, zu stützen. Für eine solche Maßnahme sei vielmehr Voraussetzung, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten des Arbeitslosen für die Vermittlung einer zumutbaren Beschäftigung nach Lage des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes nicht ausreichend seien. Das Arbeitsamt habe diese Voraussetzung zu ermitteln und das Ergebnis ihres Ermittlungsverfahrens dem Arbeitslosen - unter Hinweis auf die Rechtsfolgen einer Weigerung -
zur Kenntnis zu bringen. Von einer den Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld nach sich ziehenden ungerechtfertigten Weigerung des Arbeitslosen, an einer ihm zugewiesenen Nach- oder Umschulung teilzunehmen, könne demgemäß nur dann gesprochen werden, wenn diese Zuweisung sich konkret auf eine solche Maßnahme beziehe und in objektiver Kenntnis des Inhaltes und der Zumutbarkeit sowie Erforderlichkeit einer solchen Maßnahme erfolge.
Demgemäß liegt eine ungerechtfertigte Weigerung eines Arbeitslosen, an einer solchen Maßnahme teilzunehmen, nur dann vor, wenn es sich überhaupt um eine solche Maßnahme handelt, wenn feststeht, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten des Arbeitslosen für die Vermittlung einer zumutbaren Beschäftigung nach Lage des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes nicht ausreichend sind und es deshalb solcher Maßnahmen bedarf, und wenn schließlich das Arbeitsamt das Ergebnis des diesbezüglichen Ermittlungsverfahrens dem Arbeitslosen - unter Hinweis auf die Rechtsfolgen einer Weigerung - zur Kenntnis gebracht hat und der Arbeitslose dennoch ohne wichtigen Grund die Teilnahme an dieser Maßnahme ablehnt (vgl. das zu analog zu behandelnden Wiedereingliederungsmaßnahmen ergangene hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2000, Zl. 99/03/0132, im Anschluss an das hg. Erkenntnis vom 5. September 1995, Zl. 94/08/0246).
Ausgehend von der oben wiedergegebenen Rechtsprechung wäre für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides zunächst erforderlich, dass die objektive Notwendigkeit der gegenständlichen Maßnahme im Sinne der oben wiedergegebenen Vorjudikatur bestanden hat. Die belangte Behörde hat jedoch keinerlei Feststellung dahingehend getroffen, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten der Beschwerdeführerin für die Vermittlung einer zumutbaren Beschäftigung nach Lage eines in Betracht kommenden Arbeitsmarktes nicht ausreichend seien und es deshalb der zugewiesenen Maßnahme bedürfe. Solche Feststellungen sind amtswegig zu treffen, auch wenn der Arbeitslose die Frage der Notwendigkeit der Schulungsmaßnahme im Verwaltungsverfahren nicht von sich aus releviert. Ebenso wenig wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin die Notwendigkeit der Maßnahme anlässlich einer vor dem 13. September 1999 erfolgten definitiven Zuweisung erläutert worden wäre und sie schon aus diesem Anlass auf die Rechtsfolgen des § 10 AlVG hingewiesen worden wäre.
Da die Bescheidfeststellungen daher nicht geeignet waren, dessen Spruch zu tragen, war der angefochtene Bescheid schon aus diesen Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 19. Dezember 2000
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:2000190089.X00Im RIS seit
18.10.2001