Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien hat durch sein Mitglied Mag. Schmied über die Berufung des Herrn F. Ercetin gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien, Fremdenpolizeiliches Büro, vom 13.5.2011, Zl. III-850.946/ FrB/11, mit welchem der Antrag gemäß § 65 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz vom 26.1.2011 auf Aufhebung des Bescheides der Bundespolizeidirektion Wien vom 8.1.2008, Zl. III-850946/FrB/08, mit welchem gegen Herrn F. Ercetin ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden war, abgewiesen wurde, entschieden:
Gemäß § 66 Abs 4 AVG wird der Berufung Folge gegeben und in Entsprechung des Antrags vom 26.1.2011 das mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 8.1.2008, AZ: III- 850946/FrB/08, gegen Herrn F. Ercetin gerichtete unbefristete Aufenthaltsverbot ersatzlos behoben.
Mit Bescheid vom 8.1.2011 hat die Bundespolizeidirektion Wien gegen den türkischen Staatsangehörigen Ercetin F., geb. 1976, ein unbefristetes Aufenthaltsverbot verhängt. Begründend wird ausgeführt, Herr F. sei bereits im Alter von etwa 10 Monaten aus der Türkei nach Österreich zugezogen. 1993 sei er ? noch als Jugendlicher ? erstmals straffällig geworden und in der Folge mehrfach wegen Raub, Suchtgiftdelikten und unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen strafgerichtlich verurteilt worden. Der letzten Verurteilung liege zu Grunde, dass der Berufungswerber Suchtgift in großen Mengen gewerbsmäßig in Verkehr gesetzt habe, weswegen er vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu einer unbedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt worden sei. Aufgrund der Vielzahl und Schwere der dem Berufungswerber zur Last liegenden Straftaten seien die öffentlichen Sicherheitsinteressen an der Verhängung aufenthaltsbeendender Maßnahmen höher zu bewerten als die zweifellos gegebenen starken familiären Bindungen des Berufungswerbers zum Bundesgebiet, in welchem er von klein auf aufgewachsen sei und wo seine Eltern, seine 3 Kinder und seine geschiedene Frau lebten.
Die dagegen erhobene Berufung wurde vom Unabhängigen Verwaltungssenat Wien mit Berufungsbescheid vom 30.6.2009 als verspätet zurückgewiesen. Nach Erlassung des Aufenthaltsverbots wurde der Berufungswerber wegen schweren Raubes unter Verwendung einer Waffe (der drogenabhängige Berufungswerber hatte gemeinsam mit zwei weiteren Drogenkosumenten einen schwarzafrikanischen Drogenhändler beraubt, indem er ihn unter Verwendung eines Messers zur Herausgabe von acht Kugeln Heroin und zwei Mobiltelefonen genötigt hatte) vom Landesgericht für Strafsachen Wien vom 20.1.2010 zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Am 26.1.2011 stellte der Berufungswerber, der in der Justizstrafanstalt Stein eine mehrjährige Haftstrafe verbüsst, gemäß § 65 Abs 1 FPG einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots.
Über diesen Antrag hat die Bundespolizeidirektion Wien Bescheid vom 13.5.2011 abschlägig entschieden. Der Bescheid wurde dem Berufungswerber laut Rückschein am 24.5.2011 rechtswirksam zugestellt. An diesem Tag begann die mit zwei Wochen bemessene Rechtsmittelfrist zu laufen. Sie endete am 7.6.2011. Die dagegen gerichtete Berufung übergab der in der Justizanstalt Stein angehaltene Rechtsmittelwerber laut Auskunft der Anstaltsleitung am 31.5.2011 - somit fristgerecht - an die Anstaltsorgane. Von der Poststelle der Anstalt wurde das Rechtsmittel wegen unzureichender Frankierung allerdings nicht sofort, sondern erst am 14.6.2011 - zu diesem Zeitpunkt war die Berufungsfrist bereits abgelaufen - versendet. Mit Schreiben vom 12.7.2011 hat die erstinstanzliche Behörde das Rechtsmittel dem Unabhängigen Verwaltungssenat mit dem Vermerk vorgelegt, dass die Berufung nach ihrer Ansicht verspätet erhoben worden sei.
Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien hat erwogen:
Zur Wahrung der Berufungsfrist:
Nach der höchstgerichtlichen Judikatur sind hinsichtlich der Übergabe von Briefsendungen von Häftlingen als Absender die Anstaltsorgane der Gefangenenhausleitung als verlängerter Arm der Post anzusehen. Für die Wahrung der Rechtsmittelfrist ist daher der Tag der Abgabe an die Anstaltsorgane maßgeblich (siehe VwGH vom 9.9.1993, Zl. 93/01/0151). Es kommt somit bei einem Strafgefangenen hinsichtlich der Wahrung der Rechtsmittelfrist nicht auf den Poststempel, sondern auf die Übergabe an die Anstaltsorgane an. Zumal der Berufungswerber gegenständlich die Berufung am 31.5.2011, somit fristgerecht an die Anstaltsorgane übergeben hat, war vor dem Hintergrund der zitierten Judikatur die Berufung als fristgerecht zu werten und in der Sache in Behandlung zu nehmen. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass das Kuvert mit dem gegenständlichen Rechtsmittel zunächst mangelhaft frankiert war, ist doch nach der höchstgerichtlichen Rechtssprechung ein Rechtsmittel nicht schon deshalb als verspätet eingebracht zu betrachten, weil die zuständige Einbringungsstelle wegen mangelhafter Frankierung die Annahme verweigert (siehe VwGH vom 18.5.1995, Zl. 94/19/0470). Nichts anderes kann gelten, wenn die Poststelle einer Justizanstalt die Sendung wegen mangelhafter Frankierung bis zur Sanierung dieses Mangels gar nicht erst zur Beförderung weiterleitet.
Zur Sache:
Aufgrund der Aktenlage wird als erwiesen festgestellt, dass der Berufungswerber bereits im Alter von ca. 10 Monaten aus der Türkei nach Österreich zugezogen ist. Laut der im Akt einliegenden Meldebestätigung vom 20.3.2007 und weiteren aktenkundigen Meldeauskünften ist er vom 10.1.1977 bis 26.11.1998 durchgehend in Österreich gemeldet gewesen. Seit 11.5.2001 liegen wieder ? abgesehen von ein paar Monaten in den Jahren 2003 und 2004 ? durchgehende Meldungen im Bundesgebiet vor. In Ermangelung anderer Anhaltspunkte im Akt, der keinen Hinweis auf längere Auslandsaufenthalte des Berufungswerbers bietet, ist vor diesem melderechtlichen Hintergrund den Ausführungen des Berufungswerbers im Aufhebungsantrag zu folgen, wonach selbiger seit seinem ersten Lebensjahr nahezu durchgehend in Österreich aufhältig war und jedenfalls von klein auf hier aufgewachsen ist. Dass der Berufungswerber ? wie von ihm selbst ausgeführt wird ? auch in jenem Zeitraum, für den keine Meldung nach den Vorschriften des Meldegesetzes vorliegt (1999 bis 2001), in Österreich aufhältig war, zeigt sich auch daran, dass er im Jahr 2000 wegen eines Suchtgiftdelikts vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu drei Monaten Haft verurteilt wurde.
Zuletzt verfügte der Berufungswerber über einen ihm am 17.8.1998 erteilten und bis 13.2.2013 gültigen Aufenthaltstitel ?Familiengemeinschaft mit Österreicher?. Der Berufungswerber ist somit nicht nur von klein auf im Bundesgebiet aufgewachsen, sondern hier auch langjährig rechtmäßig niedergelassen. Gemäß 69 Abs 2 Fremdenpolizeigesetz ? FPG, BGBl I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2011 (FrÄG 2011), sind eine Ausweisung und ein Aufenthaltsverbot auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe die zu ihrer Erlassung geführt haben, weggefallen sind.
Bei der Entscheidung über die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes sind nach der ständigen höchstgerichtlichen Judikatur nicht nur wesentliche Änderungen des für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes maßgeblichen Sachverhaltes zu berücksichtigen, sondern auch wesentliche Änderungen der insoweit maßgeblichen Rechtslage haben zur Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes zu führen (vgl. die zur inhaltsgleichen Vorgängerbestimmung des § 26 FrG ergangenen Erkenntnisse vom 27. November 1998, Zl. 98/21/0342 und vom 23. März 1999, Zl. 95/21/0374, m.w.N.). Gegenständlich ist - wie im Folgenden dargestellt wird - eine maßgebliche Änderung der Rechtslage eingetreten, die zwingend die Behebung des über den Berufungswerber verhängten Aufenthaltsverbots zur Folge hat.
Nach der historischen Rechtslage, also nach § 61 Z 4 FPG idF vor dem FrÄG 2011 war die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen einen Fremden, der von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig niedergelassen ist, zulässig, wenn der Fremde wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung zu mehr als einer unbedingten zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt oder einen der ? gegenständlich nicht
interessierenden - Tatbestände des § 60 Abs 2 Z 12 bis 14 FPG verwirklicht hatte.
Nach geltendem Recht, also nach § 64 Abs 1 Z 2 FPG idF BGBl. I Nr. 38/2011 (FrÄG 2011) darf ein Aufenthaltsverbot gegen einen Fremden, der von klein auf im Bundesgebiet aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen war, überhaupt nicht verhängt werden. Das bedeutet, dass gegenwärtig auch bei noch so vielen bzw. noch so schwerwiegenden Straftaten, ja selbst bei unmittelbar drohender, massiver Gefährdung von Sicherheitsinteressen gegen einen dermaßen aufenthaltsverfestigten Fremden wie den Berufungswerber ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden darf.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund war - unbeschadet der schweren strafrechtlichen Verfehlungen, die dem Berufungswerber zur Last liegen und die ohne jeden Zweifel eine massive Beeinträchtigung öffentlicher Sicherheitsinteressen durch seinen Verbleib im Bundesgebiet befürchten lassen, wobei insbesondere auf die extrem hohe Rückfallswahrscheinlichkeit im Bereich der Suchtgift- und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität hinzuweisen ist ? dem Antrag des Berufungswerbers zu entsprechen und das über ihn verhängte Aufenthaltsverbot spruchgemäß zu beheben.