D6 262911-2/2010/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Vorsitzenden und den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Beisitzer über den Antrag des XXXX alias XXXX, StA. Ukraine alias Russische Föderation, betreffend Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24.2.2010 zu Zl. D8 262911-0/2008/4E rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Dem Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24.2.2010, Zl. D8 262911-0/2008/4E, rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens wird hinsichtlich der Entscheidung über die Ausweisung gemäß § 69 Abs. 1 AVG stattgegeben. Das Verfahren hinsichtlich der Ausweisungsentscheidung ist durch das Bundesasylamt fortzusetzen.
Entscheidungsgründe:
I. Der Wiederaufnahmewerber stellte am 11.3.2003 einen Antrag auf Gewährung von Asyl. Im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 12.1.2004 gab der Wiederaufnahmewerber an, den Namen I. M. zu führen, in XXXX geboren worden und Staatsangehöriger der Russischen Föderation zu sein sowie der russischen Ethnie anzugehören. Auf die Frage nach den Gründen seiner Ausreise aus der Russischen Föderation führte er im Wesentlichen aus, "überall verfolgt" und nirgendwo akzeptiert worden zu sein. Es sei ihm auch zum Vorwurf gemacht worden, in XXXX geboren worden zu sein. Wenn ein Terroranschlag verübt worden sei, hätten ihn die Nachbarn verdächtigt. Das unmittelbar fluchtauslösende Ereignis sei der Krieg in Tschetschenien und die Terroranschläge gewesen. Er sei zwar Russe, man habe ihn jedoch trotzdem in Russland als Tschetschene verfolgt, da er in Tschetschenien geboren sei. Zwei Mal sei er nach einem Terroranschlag von der Miliz aufgesucht worden. Er sei wegen seiner Geburt in Tschetschenien trotz seiner russischen Volksgruppenzugehörigkeit in der Russischen Föderation (außerhalb Tschetscheniens) verfolgt worden.
1. Einem (vom Bundesasylamt eingeholten) linguistischen Gutachten vom 6.7.2005 ist zu entnehmen, dass der Wiederaufnahmewerber - mangels elementarster landeskundlich-kultureller Kenntnisse über Tschetschenien und seine (behauptete) Geburtsstadt XXXX - eindeutig nicht in Tschetschenien sozialisiert ist und keinem tschetschenischen, sondern einem russischsprachigen Milieu angehört.
2. Mit Bescheid vom 15.7.2005 wies das Bundesasylamt den Antrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I 76, ab (Spruchpunkt I.) und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl. I 76 idF BGBl. I 101/2003 (im Folgenden: AsylG 1997), zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 wurde der Wiederaufnahmewerber aus dem österreichischen Bundesgebiet - ohne Zielstaatsbezogenheit - ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
3. Gegen diesen Bescheid erhob der Wiederaufnahmewerber fristgerecht (eine als Berufung bezeichnete) Beschwerde und führte - unter Aufrechterhaltung seines bisherigen Vorbringens - insbesondere aus, dass die belangte Behörde mit keinem Wort auf seine spezifische Situation als Russe, der in Tschetschenien geboren wurde, eingegangen sei.
4. Am 21. Jänner 2010 führte der Asylgerichtshof unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Wiederaufnahmewerber teilnahm. Das Bundesasylamt hatte auf die Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.
In der Beschwerdeverhandlung wiederholte der Wiederaufnahmewerber erneut seine bereits gegenüber dem Bundesasylamt gemachten Angaben zu seiner Identität, Nationalität und Volksgruppenzugehörigkeit, um dann nach mehrmaliger Nachfrage sowie nach Vorhalt der Ergebnisse des linguistischen Gutachtens zu konzedieren, "jetzt bei der Wahrheit bleiben" zu wollen: Er sei - so der Wiederaufnahmewerber - russischer Staatsangehöriger der russischen Ethnie. Seine (ebenfalls russischen) Eltern seien bereits verstorben, weitere Verwandte habe er in der Russischen Föderation nicht. Er sei in K. (in der Russischen Föderation) geboren und habe bis zu seiner Ausreise dort gelebt. Um seine schlechte wirtschaftliche Situation zu verbessern, habe er sich an einen Schlepper gewandt. Dieser habe ihn nach Österreich gebracht und ihm mitgeteilt, welche Angaben er zwecks Asylerlangung tätigen solle. Dies habe er dann auch gemacht, die Angaben (zu den Ausreisegründen) würden jedoch nicht der Wahrheit entsprechen, da er in der Russischen Föderation nicht verfolgt worden sei.
In der Verhandlung zog der Wiederaufnahmewerber seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 15.7.2005 zurück, sodass diese Spruchpunkte in Rechtskraft erwuchsen.
5. Mit Erkenntnis vom 24.2.2010, D8 262911-0/2008/4E, gab der Asylgerichtshof der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides gemäß § 10 Abs. 2 iVm § 10 Abs. 5 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100 (im Folgenden: AsylG 2005), statt und erklärte die Ausweisung des Wiederaufnahmewerbers aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation als auf Dauer unzulässig. In seinen Entscheidungsgründen vertrat der Gerichtshof die Ansicht, dass die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotene Interessenabwägung zugunsten der privaten Interessen des Wiederaufnahmewerbers am Verbleib in Österreich ausgehe. In seiner Begründung trug der Senat - neben der sozialen Integration des Wiederaufnahmewerbers in Österreich aufgrund seines siebenjährigen Aufenthaltes - u.a. auch dem Umstand Rechnung, dass der Wiederaufnahmewerber in der Russischen Föderation über keine Verwandten mehr verfüge und im Falle seiner Rückkehr dort kein "soziales Netzwerk" vorfände.
Dieses Erkenntnis wurde dem Wiederaufnahmewerber am 27.2.2010 durch Hinterlegung rechtswirksam zugestellt.
6. Am 12.11.2010 stellte der Wiederaufnahmewerber den vorliegenden Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 69 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. I 51 idgF (im Folgenden: AVG), den er im Wesentlichen damit begründete, zwar seinen Asylantrag vom 11.3.2003 unter dem Namen I. M. als russischer Staatsangehöriger gestellt zu haben, in Wahrheit aber I. K. zu heißen und ukrainischer Staatsangehöriger zu sein. Er habe sich - so die Begründung des Antrages weiter - um einen ukrainischen Reisepass bemüht und aus diesem Grund die ukrainische Botschaft aufgesucht, wo ihm jedoch mitgeteilt worden sei, dass ihm kein neuer Pass ausgestellt werden könne, sondern er für eine Passausstellung persönlich in die Ukraine reisen müsse. Nach Überprüfung seiner Angaben habe ihm die Botschaft am 5.11.2010 jedoch ein Heimreisezertifikat ausgestellt, mit welchem er nun seine wahre Identität beweisen könne. Da seine Identität und seine Staatsangehörigkeit im Erkenntnis des Asylgerichtshofes nicht korrekt wiedergegeben, diese Inhalte jedoch wesentlich seien, beantrage er die dahingehende "Änderung" des Erkenntnisses. Die Unzulässigkeit seiner Ausweisung müsse jedoch bestehen bleiben, da "die maßgeblichen Voraussetzungen hierzu inhaltlich völlig identisch mit jenen im Zeitpunkt der Entscheidung" seien. Sein soziales Engagement, das hohe Maß an Integration und seine dahingehenden Bemühungen sowie sein weitreichendes sonstiges Privatleben seien identisch; lediglich sein Name und seine Staatsangehörigkeit seien nicht korrekt. Das Maß an Integration sei jedoch nicht unmittelbar mit diesen Daten verknüpft, sondern eben mit jenen Umständen, welche bereits durch den Asylgerichtshof ausführlich ermittelt worden seien.
Seine falschen Identitätsangaben begründete der Wiederaufnahmewerber mit seiner Angst vor einer Abschiebung sowie mit dem Rat vieler Asylwerber, zwecks Verhinderung einer Abschiebung unter keinen Umständen seine wahre Identität preiszugeben. Erst nachdem er das Erkenntnis des Asylgerichtshofes erhalten habe, welches ihm einen Verbleib in Österreich ermögliche, sei ihm sein Fehler bewusst geworden weshalb er sich bemüht habe, seine Identität zu beweisen.
II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
1. Gemäß § 23 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I 4/2008 idF BGBl. I 147/2008; im Folgenden: AsylGHG) sind - soweit sich aus dem AsylG 2005 nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
2. Gemäß § 69 Abs. 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonst wie erschlichen worden ist oder neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder der Bescheid gemäß § 38 von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde.
Gemäß § 69 Abs. 2 AVG ist der Antrag auf Wiederaufnahme binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.
Gemäß § 69 Abs. 4 AVG steht die Entscheidung über die Wiederaufnahme der Behörde zu, die den Bescheid in letzter Instanz erlassen hat, wenn jedoch in der betreffenden Sache ein unabhängiger Verwaltungssenat entschieden hat, diesem.
Gemäß § 23 Abs. 1 AsylGHG iVm § 69 Abs. 4 AVG ist daher der Asylgerichtshof zur Entscheidung über den gegenständlichen Antrag zuständig.
3. Der Wiederaufnahmewerber begehrt die Wiederaufnahme seines rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens mit der Begründung, dass seine Identität sowie seine Staatsangehörigkeit im Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24.2.2010 unrichtig wiedergegeben seien.
Damit macht der Wiederaufnahmewerber einen tauglichen Wiederaufnahmegrund geltend, wobei dahingestellt bleiben kann, ob im gegenständlichen Fall der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG verwirklicht ist, wie es der Wiederaufnahmewerber im Hinblick auf seine Angst vor einer Abschiebung behauptet, oder ob durch die Angabe einer falschen Identität und Staatsangehörigkeit der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG erfüllt ist: Beide Tatbestände führen zur Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Identitäts- und Nationalitätsangaben eines Asylwerbers sind bei der Entscheidung im Spruchpunkt III. insofern von wesentlicher Bedeutung, als die Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK - wie auch im vorliegenden Fall - notwendiger Weise eine Berücksichtigung der Bindungen zum Herkunftsstaat erfordert (vgl. auch ausdrücklich § 10 Abs. 2 Z 2 lit e AsylG 2005).
Das Verfahren wird somit im Umfang der Ausweisungsentscheidung wiederaufgenommen. Die - aufgrund der Zurückziehung der Beschwerde - in Rechtskraft erwachsenen Spruchpunkte I. und II. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 15.7.2005 sind von der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht umfasst.
4. Gemäß § 70 Abs. 1 AVG iVm § 23 Abs. 1 AsylGHG ist in der die Wiederaufnahme bewilligenden oder verfügenden Entscheidung - sofern nicht schon auf Grund der vorliegenden Akten ein neuer Bescheid erlassen werden kann - auszusprechen, inwieweit und in welcher Instanz das Verfahren wieder aufzunehmen ist.
Im wiederaufgenommenen Verfahren wird das Bundesasylamt die sozialen, sprachlichen und familiären Bindungen des Wiederaufnahmewerbers zur Ukraine zu erörtern sowie eine neuerliche Interessenabwägung (unter Berücksichtigung der neuen Angaben des Wiederaufnahmewerbers sowie seiner falsche Identitäts- und Nationalitätsangaben) durchzuführen haben.
5. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung war gemäß § 41 Abs. 7 AsylG 2005 iVm § 67d AVG nicht erforderlich, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit dem gegenständlichen Antrag auf Wiederaufnahme geklärt erscheint.