D7 319121-1/2008/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. STARK als Vorsitzende und die Richterin Mag. SCHERZ als Beisitzer über die Beschwerde der XXXX, Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.04.2008, Zahl 08 00.697-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.07.2011 zu Recht erkannt:
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides wird gemäß
§ 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG), in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005), als unbegründet abgewiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I. Verfahrensgang
I.1. Die (nunmehrige) Beschwerdeführerin wurde am XXXX in Österreich geboren und die gesetzliche Vertretung der Beschwerdeführerin stellte am 17.01.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz für die Beschwerdeführerin.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.04.2008, Zahl 08 00.697-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 17.01.2008 in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen und der Beschwerdeführerin der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt. In Spruchpunkt II. wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 leg. cit. der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und der Beschwerdeführerin in Spruchpunkt III. gemäß
§ 8 Abs. 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.04.2009 erteilt.
I.2. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 15.04.2008, Zahl 08 00.697-BAT, zugestellt am 19.04.2008, richtet sich gegenständliche fristgerecht am 30.04.2008 eingebrachte Berufung (nunmehr Beschwerde).
I.3. Mit 01.07.2008 wurde die ursprünglich zuständige Berufungsbehörde, der Unabhängige Bundesasylsenat, aufgelöst und an seine Stelle trat der neu eingerichtete Asylgerichtshof. Nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes wurde gegenständlicher Verwaltungsakt einer Gerichtsabteilung zur Weiterführung des Beschwerdeverfahrens zugewiesen.
I.4. Gegenständlicher Verwaltungsakt wurde am 19.01.2009 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zur Weiterführung des Beschwerdeverfahrens zugewiesen.
I.5. Für den 05.07.2011 wurde zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem zur Entscheidung berufenen Senat des Asylgerichtshofes anberaumt, an welcher die Eltern der Beschwerdeführerin mit ihrem rechtsfreundlichen Vertreter teilnahmen. Das Bundesasylamt wurde ordnungsgemäß geladen, teilte jedoch mit Schreiben vom 10.05.2011 mit, dass die Teilnahme eines Vertreters aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei und beantragte zugleich die Abweisung gegenständlicher Beschwerde.
In der Verhandlung brachte der Vater der Beschwerdeführerin einen Befund von Dr. med. XXXX, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vom 07.06.2011 in Vorlage und wurden nach ausführlicher Erörterung des Vorbringens der Eltern der Beschwerdeführerin die im Verfahren herangezogenen Erkenntnisquellen zur Kenntnis gebracht und nach Schluss des Beweisverfahrens auch die Verhandlung geschlossen. Die Verkündung des Erkenntnisses entfiel und es wurde angekündigt, dass den Parteien eine schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses zugestellt werden würde.
II. Der Asylgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:
II.1. Gemäß § 28 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG), Art. 1 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz, BGBl. I Nr. 4/2008, tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den Unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 100/2005, außer Kraft.
Gemäß § 28 Abs. 5 AsylGHG, in der Fassung BGBl. I Nr. 147/2008, treten in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 147/2008 in Kraft:
das Inhaltsverzeichnis, § 13 Abs. 2 und Abs. 4 letzter Satz, § 14 Abs. 3, § 17 Abs. 5, § 23 und § 29 Abs. 6 mit 1. Juli 2008;
§ 24 mit Ablauf des Tages der Kundmachung dieses Bundesgesetzes. Auf vor diesem Zeitpunkt ergangene, zu vollstreckende Entscheidungen Abs. 2 dieser Bestimmung mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass der Asylgerichtshof mit Beschluss nachträglich eine Vollstreckungsbehörde bestimmen kann.
Gemäß § 22 Abs. 1 Asylgesetz 2005, Art. 2 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005), in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, ergehen Entscheidungen des Asylgerichtshofes in der Sache selbst in Form eines Erkenntnisses, alle anderen in Form eines Beschlusses. Die Entscheidungen des Bundesasylamtes und des Asylgerichtshofes haben den Spruch und die Rechtsmittelbelehrung auch in einer dem Asylwerber verständlichen Sprache zu enthalten.
II.2. Gemäß § 23 Abs. 1 AsylGHG, in der Fassung BGBl. I Nr. 147/2008, sind, soweit sich aus dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
Gemäß § 23 Abs. 2 AsylGHG, in der Fassung BGBl. I Nr. 147/2008, sind die Erkenntnisse im Namen der Republik zu verkünden und auszufertigen.
Gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 51/1991 (AVG), hat die Berufungsbehörde außer in dem in Abs. 2 erwähnten Fall, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung (§ 60) ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.
Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG 2005 tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Jänner 2006 in Kraft.
Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 1997 - AsylG), BGBl. I Nr. 76/1997 tritt mit Ausnahme des § 42 Abs. 1 mit Ablauf des 31. Dezember 2005 außer Kraft (§ 73 Abs. 2 AsylG 2005).
Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 17.01.2008 gestellt, weshalb das Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005, in der jeweils geltenden Fassung, anzuwenden ist.
II.3. Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsicht in den dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesasylamtes, in das im Rahmen des Beschwerdeverfahrens in Vorlage gebrachte Beweismittel, Befragung der Eltern der Beschwerdeführerin in der am 05.07.2011 durchgeführten mündlichen Verhandlung und Erörterung der in der Verhandlung eingeführten Länderdokumente.
Der Asylgerichtshof geht von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:
II.3.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an. Die Beschwerdeführerin ist die Tochter der Beschwerdeführerin zu D7 265420-2/2008 und der Beschwerdeführerin zu
D7 265421-2/2008, deren Asylanträge jeweils abgewiesen und denen subsidiärer Schutz gewährt wurde.
II.3.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.04.2008, Zahl 08 00.697-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 17.01.2008 in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen und der Beschwerdeführerin der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt. In Spruchpunkt II. wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 leg. cit. der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und der Beschwerdeführerin in Spruchpunkt III. gemäß § 8 Abs. 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.04.2009 erteilt.
II.3.3. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 15.04.2008, Zahl 08 00.697-BAT, wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.
II.3.4. Die gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesasylamtes im Verfahren der Eltern des Beschwerdeführers eingebrachte Beschwerde wurde jeweils mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag als unbegründet abgewiesen.
II.3.5. Für die minderjährige Beschwerdeführerin wurden keine eigenen Verfolgungsgründe geltend gemacht und konnten auch keine von Amts wegen festgestellt werden.
II.3.6. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.04.2008, Zahl 08 00.697-BAT, wurde in Spruchpunkt II. der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und in Spruchpunkt III. gemäß § 8 Abs. 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.04.2009 erteilt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde vom Bundesasylamt verlängert und ist aktuell gültig.
II.3.7. Zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation wird festgestellt:
Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.
In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.
Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut. Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.
Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten.
Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".
Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.
(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:
Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010)
2. Allgemeine Sicherheitssituation
Präsident Ramzan Kadyrow hat in Tschetschenien ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheitsals auch bei der Menschenrechtslage hatte sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wurde von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben. Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs reagierten die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Die Entführungszahlen stiegen wieder an: Memorial hat 74 Entführungsfälle für die erste Jahreshälfte 2009 registriert (im Gesamtjahr 2008 waren es im Vergleich 42). Die Entführungen wurden größtenteils den (vor allem republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden (nach Informationen von Memorial) - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)
Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.
Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.
(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)
Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.
Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)
Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.
Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet werden. Dadurch konnte die Sicherheitslage in Tschetschenien weitgehend stabilisiert werden. Andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5)
3. Verfolgungsgefahr
Zivilbevölkerung
Glaubwürdigen Berichten von NROs, internationalen Organisationen und der Presse zufolge haben sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)
Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:
Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.
In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)
Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Bisher gibt es nur sehr wenige Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Im Juni 2007 verhängte dasselbe Gericht in der "Sache Ulman" Haftstrafen zwischen neun und 14 Jahren gegen vier Offiziere wegen der Erschießung von sechs tschetschenischen Zivilisten im Dezember 2002. Ulman und Mittäter waren zuvor zwischen 2002 und 2005 zweimal von Geschworenengerichten freigesprochen worden, bis der russische Verfassungsgerichtshof diese Freisprüche kassierte und eine erneute gerichtliche Prüfung des Falls anordnete. Drei der Verurteilten sind allerdings untergetaucht. Für Aufsehen sorgte die vorzeitige Entlassung von Ex-Oberst Budanow. Er war 2003 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er im Jahr 2000 eine 18-jährige Tschetschenin getötet hatte, und ist im Januar 2009 vorzeitig aus der Haft entlassen worden.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19)
Eine Gefahr für Zivilisten stellen nicht nur die Kämpfe zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften dar, sondern auch die in der Republik verbreiteten Anti-Personenminen. Rund 14.000 Hektar, etwa 1% des gesamten Territoriums sollen weiterhin vermint sein. 2008 starben 39 Personen, zwischen 2005 und 2008 insgesamt 171 Personen durch Anti-Personenminen und Blindgänger. Die Zahl der Todesfälle ging in diesen drei Jahren mit jedem Jahr zurück. Des Problems der Minen ist man sich bewusst, zuletzt sprach sich Präsident Medwedew im August 2010 für weitere Minenräumungen in Tschetschenien aus. (Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 19-20)
Rebellen und deren Familienangehörige
Innerhalb der Rebellen ist es zu einer Spaltung in zwei Gruppen gekommen. Während einige Gruppierungen nach wie vor am Ziel der Ausrufung der tschetschenischen Republik Itschkerien festhalten, haben zwischenzeitig eindeutig radikalislamistische Kräfte die Oberhand gewonnen. Trotzdem gehen immer wieder vor allem Jugendliche, auch aus Rache und Verzweiflung, in die Wälder, um sich den Rebellen anzuschließen. Nach dem Tod zahlreicher Anführer (z.B. Shamil Bassajew), der Flucht bzw. dem Überwechseln von Kämpfern auf die Seite Kadyrows ist es einerseits zu einer Schwächung und anderseits zu einer Verjüngung der Kämpfer gekommen. Die Zahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 70 - 1500. Der ehemalige Präsident der "Tschetschenischen Republik Itschkeria" rief 2007 das "Nordkaukasische Emirat" bestehend aus Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien und dem Gebiet Stawropol aus und ernannte sich selbst zu dessen Emir. Die Zelle des "Emir" Doku Umarow umfasst jedoch lediglich nur mehr 25-50 Kämpfer.
Nach wie vor sind die Rebellen bzw. Personen, die für Rebellen oder deren Sympathisanten gehalten werden, einem sehr hohen Risiko ausgesetzt, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu geraten, festgenommen, verschleppt, verhört, gefoltert und ermordet zu werden.
Eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien ist somit noch nicht eingetreten. Die Aktivitäten der Sicherheitskräfte gegen die Rebellen, insbesondere in den tschetschenischen Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken, wurden auch 2009 fortgesetzt.
Seit 1999 forderte der Konflikt erhebliche Opfer: 10.000-20.000 getötete Zivilisten (Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial"), 5.000 bis 7.000 getötete und ca. 18.000 verletzte Angehörige der Sicherheitskräfte (Zahlen des Verteidigungsministeriums, die teilweise widersprüchlich sind).
Die Rebellen und ihre Unterstützer werden im Zuge von Spezialoperationen "neutralisiert", die von den unter direktem Befehl von Ramzan Kadyrow stehenden Sicherheitskräften sowohl in den Bergregionen, als auch in städtischen Gebieten durchgeführt werden. In der Zeit um den Jahreswechsel 2007-2008 wurden bei solchen Operationen mindestens 16 Rebellen und Sicherheitskräfte getötet, mindestens 49 Personen in Grosny verhaftet, zwei sind verschwunden. Es kam zu sechs bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Rebellen und Sicherheitskräften sowie zu Anschlägen auf letztere.
Im gesamten Jahr 2007 wurden laut tschetschenischem Innenministerium über 70 Rebellen getötet und 325 verhaftet, 139 Bandenmitglieder haben sich freiwillig ergeben, und die Zahl der Anschläge hat sich um 72 % reduziert. Das Innenministerium hat 82 seiner Mitarbeiter verloren.
Nach Beobachtungen des Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine neue besorgniserregende Entwicklung.
Ende 2008 hatten hochrangige tschetschenische Regierungsvertreter öffentlich bekundet, dass Familien von Aufständischen mit Bestrafung zu rechnen haben, wenn sie nicht ihre Verwandten zur Aufgabe bewegen. Präsident Kadyrow sagte im August 2008 ausdrücklich im Fernsehen, dass Familienmitglieder der Rebellen, die diese unterstützen würden, "Terroristen, Extremisten, Wahhabiten und Teufel" seien. Er wies die Polizei und Verwaltung an "in diese Richtung zu arbeiten", womit er die Sicherheitskräfte zumindest ermutigt hat, hart gegen Familienangehörige von (aktiven) Kämpfern vorzugehen.
Es ist zumindest unwahrscheinlich, dass Personen, die während des ersten Krieges Kämpfern nichtmilitärischen Beistand geleistet haben, gegenwärtig aufgrund dieser Unterstützung noch Verfolgung ausgesetzt sind.
Am 22. September 2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13. Dezember 1999 und dem 23. September 2006 im Nordkaukasus (Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien, Gebiet Stawropol) begangen wurden. De facto wurde die Amnestie jedoch durch Präsident Kadyrow bis zum 15. Juni 2007 verlängert. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen ("Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen", sofern sie bis zum 15. Jänner 2007 die Waffen niederlegen) als auch für Soldaten, erfasst aber keine schweren Verbrechen (u.a. nicht Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub; für Soldaten: Verkauf von Waffen an Rebellen). Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees haben sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben. Es handelt sich jedoch um keine Amnestie im westeuropäischen Verständnis. Die Leute ergeben sich alle aus mehr oder minder großem Zwang, aber nicht, weil es Bemühungen um Versöhnung und Reintegration gibt.
Anderseits haben Ramsan (und auch schon sein Vater Achmad) Kadyrow jahrelang Kämpfer (gleichgültig mit welcher "Vergangenheit"), die zu ihm übergelaufen sind, begnadigt, insgesamt ca. 7.000 Personen. Er verfolgte damit die Strategie, die Rebellenbewegung zu teilen, jene die überzeugt oder gekauft werden konnten, werden amnestiert und erhalten (meist) einen Arbeitsplatz als tschetschenische Sicherheitskräfte, jene, die nicht dazu bereit sind, werden weiter verfolgt.
UNHCR sieht derzeit insbesondere (ehem.) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben und unter besonderen Umständen Frauen und Kinder, als besonders gefährdet an.
(Quellen: Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien-Gefährdungseinschätzung vom 09.09.2009; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage, 25.11.2009; Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, einschließlich Tschetschenien, vom 30.07.2009; Hinweise des UNHCR zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Asylsuchender aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien vom 7.4.2009 samt Ergänzungsbrief vom 11.11.2009; Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat/Blutrache vom 05.11.2009)
4. Rückkehrer
Derzeitige Situation von Rückkehrern
Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Ebenso liegen dem Auswärtigen Amt keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob Russen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst ist, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren.
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen hat etwas abgenommen, wenngleich russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit berichten. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden statt, haben aber an Intensität abgenommen. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes sind keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt. Kontrollen von kaukasisch aussehenden oder aus Zentralasien stammenden Personen erfolgen seit Jahresbeginn 2007 zumeist im Rahmen des verstärkten Kampfes der Behörden gegen illegale Migration und Schwarzarbeit. Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen wirken sich im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung besonders stark auf die Möglichkeit von aus anderen Staaten zurückgeführten Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird von Regierungsseite nahegelegt.
Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u.a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 30 und 31)
Mittlerweile sind von den nach Kriegsausbruch weit über 200.000 Flüchtlingen, die vor allem nach Inguschetien geflüchtet waren, die meisten nach Tschetschenien zurückgekehrt. Auch von den innerhalb Tschetscheniens vertriebenen Personen sind die meisten wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Laut UNHCR konnten seit dem Jahr 2002 zehntausende Binnenflüchtlinge aufgrund der Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage und der bereits erfolgten und laufenden Wiederaufbauprogramme in ihre Häuser zurückkehren. Anfang 2009 schätzte das Flüchtlingshochkommissariat die Zahl der weiterhin Binnenvertriebenen auf 79.000.
Auch ein Anstieg der Anzahl freiwilliger Rückkehrer aus Österreich in die Russische Föderation ist festzustellen. 2008 kehrten in den ersten zehn Monaten 1.196 Personen aus Europa in die Russische Föderation zurück (hiervon 173 aus Österreich). Zwischen 2003 und 2007 kehrten insgesamt 1.485 Personen zurück. Hierbei handelt es sich allerdings nur um mit der Unterstützung der IOM (International Organisation for Migration) zurückgekehrte Personen, die tatsächliche Gesamtzahl liegt vermutlich höher. 75% der (durch IOM unterstützten) Rückkehrer in die Russische Föderation kehrten 2008 nach Tschetschenien zurück, 17% gingen nach Dagestan, 3% nach Inguschetien. Tschetschenen kehren derzeit auch aus Moskau und anderen Teilen der Russischen Föderation nach Tschetschenien zurück. Mit Unterstützung von IOM kehrten 2009 insgesamt 918 Personen aus Österreich in die Russische Föderation zurück. Aus Österreich kehrten darunter mit Unterstützung des VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) 2008 69 Personen, 2009 303, und in den ersten vier Monaten des Jahres 2010 64 Personen nach Tschetschenien zurück.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010)
II.4.1. Die Staatsangehörigkeit und das Verwandtschaftsverhältnis der Beschwerdeführerin (II.3.1.) konnten auf Grund der übereinstimmenden Angaben der Eltern der Beschwerdeführerin und der Vorlage einer österreichischen Geburtsurkunde festgestellt werden. Der Verfahrensgang im Asylverfahren der Eltern der Beschwerdeführerin (II.3.1. und II.3.4.) und der Verfahrensgang im Asylverfahren der Beschwerdeführerin (II.3.2. und II.3.3.) ergeben sich aus den Akten des Bundesasylamtes, Zahlen 05 05.995-BAT, 05 05.997-BAT und 08 00.697-BAT, und des Asylgerichtshofes, Zahlen D7 402605-1/2008, D7 305606-1/2008 und D7 319121-1/2008.
II.4.2. Die Feststellung, dass für die minderjährige Beschwerdeführerin keine eigenen Verfolgungsgründe geltend gemacht wurden (II.3.5.), beruht auf den Angaben der Eltern der Beschwerdeführerin. Im Verfahren der Eltern der Beschwerdeführerin gelangte der erkennende Senat des Asylgerichtshofes nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung zu der Ansicht, dass die Angaben der Eltern der Beschwerdeführerin unglaubwürdig waren. Der Vater der Beschwerdeführerin veränderte sein Vorbringen dermaßen, dass diesem keinerlei Glaubwürdigkeit zugebilligt werden konnte, ebenso wenig wie dem späten Vorbringen ihrer Mutter (siehe dazu Erkenntnisse des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag im Verfahren der Eltern der Beschwerdeführerin). Daher konnte auch keinerlei Gefährdung der Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation glaubhaft gemacht oder von Amts wegen festgestellt werden.
II.4.3. Die Feststellung zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten durch das Bundesasylamt (II.3.6.) ergibt sich aus dem Verwaltungsakt des Bundesasylamtes.
II.4.4. Die Feststellungen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin (II.3.7.) beruhen auf dem in der Beschwerdeverhandlung vom 05.07.2011 zitierten Dokumentationsmaterial (Verhandlungsschrift vom 05.07.2011, Seiten 16 bis 19).
Die Parteien des Beschwerdeverfahrens haben keinen Einwand gegen die Heranziehung der ihnen in der Verhandlung vor dem zur Entscheidung berufenen Senat des Asylgerichtshofes zur Kenntnis gebrachten Informationsquellen erhoben. Die herangezogenen Berichte und Informationsquellen stammen großteils von staatlichen Institutionen oder diesen nahestehenden Einrichtungen und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, Zweifel an deren Objektivität und Unparteilichkeit aufkommen zu lassen. Die inhaltlich übereinstimmenden Länderberichte befassen sich mit der aktuellen Lage für Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen in der Russischen Föderation.
II.5. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 135/2009, ist im Sinne dieses Bundesgesetzes Familienangehöriger:
wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.
Stellt gemäß § 34 Abs. 1 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 29/2009, ein Familienangehöriger (§ 2 Abs. 1 Z 22) von
einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;
einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder
einem Asylwerber
einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen (§ 34 Abs. 4 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009).
Die Bestimmungen des Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Asylgerichtshof (§ 34 Abs. 5 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008).
II.6. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des
Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Abs. 1 bezeichnet die Voraussetzungen, unter denen einem Fremden des Status des Asylberechtigten zuerkannt wird. Dies sind einerseits der Antrag auf internationalen Schutz und andererseits, dass glaubhaft ist, dass die Voraussetzungen des
Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen (1. RV 952 XXII.GP).
Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert, dass als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich infolge von vor dem 01. Jänner 1951 eingetretenen Ereignissen aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 19.04.2001, 99/20/0273).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Die Angaben der Eltern der Beschwerdeführerin zu den Gründen, weshalb sie die Russische Föderation verlassen haben sollen, waren unglaubwürdig. Die Eltern der Beschwerdeführerin konnten eine aktuelle Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft machen. Wenn der Antrag der Eltern der Beschwerdeführerin abgewiesen werden musste, sind deren Fluchtgründe auch nicht geeignet, eine Verfolgung für die Beschwerdeführerin zu begründen. Nachdem die Eltern der Beschwerdeführerin keiner aktuellen Gefährdung bzw. Verfolgung in ihrer Heimat ausgesetzt sind, kann mangels weiterer Fluchtgründe auch nicht von einer Verfolgung der Beschwerdeführerin ausgegangen werden. Auch von Amts wegen sind keine Anhaltspunkte für (eigene) Fluchtgründe der Beschwerdeführerin bzw. für deren Verfolgung in der Russischen Föderation hervorgekommen.
Da die Eltern der Beschwerdeführerin weder glaubhaft machen konnten, noch aufgrund des Ermittlungsverfahrens hervorgekommen wäre, dass ihr asylrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 droht, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes abzuweisen.