TE AsylGH Erkenntnis 2011/10/31 S4 422020-1/2011

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Veröffentlicht am 31.10.2011
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Spruch

S4 422.020-1/2011/5E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Huber als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX, StA. von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.10.2011, Zl. 11 10 025 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG stattgegeben, der Asylantrag zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und - laut eigener Angaben vor der Polizeiinspektion Kittsee - von Afghanistan etwa Anfang Juni 2011 über Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland letztlich auf dem Landweg nach Österreich eingereist. Vor der Polizeiinspektion Nickelsdorf erklärte der Beschwerdeführer zudem, dass er die Grenze von Serbien nach Ungarn gemeinsam mit anderen Afghanen zu Fuß überschritten habe. Danach seien alle in einen gelben Kastenwagen eingestiegen und sei ihnen gesagt worden, dass sie von dort nach Wien gebracht werden würden. Der Beschwerdeführer wurde am 3.9.2011 im Zuge eines Massenaufgriffs illegaler Einwanderer in 2425 Nickelsdorf, A 4 Ostautobahn, Parkplatz Nickelsdorf angehalten und festgenommen. Am selben Tag stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Im Rahmen seiner Einvernahme vor der EAST West am 6.10.2011 erklärte der Beschwerdeführer hingegen, dass er nicht wisse, ob er über Ungarn ins Bundesgebiet eingereist sei. Sein Ziel sei Österreich gewesen, er wisse nicht, durch welche Länder er gefahren sei, sei aber der Meinung, niemals in Ungarn gewesen zu sein.

 

Das Bundesasylamt hat Ungarn mit E-Mail via DubliNet vom 7.9.2011 ersucht, den Beschwerdeführer wieder aufzunehmen, wobei Ungarn unter anderem mitgeteilt worden ist, dass der Beschwerdeführer zuvor in Griechenland eingereist ist, bevor er sich mit Schlepperhilfe weiter bis nach Österreich begeben hat. Ungarn hat sich mit Schreiben vom 20.9.2011 bereit erklärt, den Asylwerber auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II) wieder aufzunehmen und seinen Asylantrag zu prüfen.

 

Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 10.10.2011, Zl.: 11 10.025, den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz im Bundesgebiet gem. §§ 5, 10 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 AsylG zurückgewiesen, und den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen.

 

Zum ungarischen Asylverfahren sowie zur Situation von im Rahmen der Dublin II VO nach Ungarn zurückkehrenden Asylwerbern hat das Bundesasylamt im angefochtenen Bescheid Folgende Feststellungen getroffen:

 

"Allgemeines zum ungarischen Asylverfahren:

 

Das neue ungarische Asylgesetz wurde im Juni 2007 verabschiedet und trat mit 1. Jänner 2008 in Kraft.

 

(Act LXXX of 2007 on Asylum, 25.6.2007, http://www.unhcr.org/refworld/docid/4979cc072.html, Zugriff 12.7.2011, § 90 (folgend: Act LXXX of 2007 on Asylum)

 

Mit diesem Gesetz wurde seitens Ungarns die EU-Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EU in nationales Recht übergeführt und hatte große Auswirkungen auf das Asylverfahren: das vormals uniforme Verfahren wurde durch dieses Gesetz in zwei Phasen aufgeteilt - in ein Zulassungs- bzw. Ermittlungsverfahren.

 

(Hungarian Helsinki Committee: Asylum Seekers' Access to Territory and to the Asylum Procedure in the Republic of Hungary, December 2008, S. 13,

 

 

http://helsinki.webdialog.hu/dokumentum/Border_Monitoring_Report_2007_ENG_FINAL.pdf, Zugriff 12.7.2011)

 

§§ 3 und 4 des ungarischen Asylgesetzes regeln die materiellen Voraussetzungen der Asylgewährung, wobei das Gesetz in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll als auch mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte anzuwenden ist.

 

Das ungarische Asylgesetz kennt drei Formen des Schutzes, nämlich, anerkannter Flüchtling, subsidiärer Schutz und den sog. vorübergehenden Aufenthalt (temporary protection).

 

(Act LXXX of 2007 on Asylum)

 

Dublin II Rückkehrer:

 

Asylwerber werden nach einer Rücküberstellung im Rahmen des Dublins Verfahrens gefragt, ob Interesse besteht, dass das Verfahren fortgesetzt wird. Sollte dies bejaht werden, wird das Vorbringen einer inhaltlichen Prüfung unterzogen. Eine Abschiebung des Asylwerbers ins Herkunftsland wird nur nach Abschluss des Verfahrens und nach einer eingehender "Non-Refoulement"- Prüfung der Asylbehörde vollzogen.

 

(Dr. Daniel Horvath, Ministry of the Interior Hungary: Anfragebeantwortung vom 02.02.2006)

 

Sollte ein Asylwerber im Rahmen eines Dublin Verfahrens rücküberstellt werden, ist es in jedem Fall für ihn möglich, ein faires Asylverfahren inklusive einer inhaltlichen Prüfung zu erhalten.

 

(Agnes Ambrus, UNHCR Officer Budapest: Anfragebeantwortung vom 07.02.2006)"

 

Zur ungarischen Rechtslage und Praxis in Bezug auf mögliche Verhängung der Schubhaft, ihrer Dauer und der Haftbedingungen, sowie der ungarischen Vorgangsweise in Bezug auf Asylwerber, die von Serbien nach Ungarn eingereist sind, wurden keine Feststellungen getroffen.

 

Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben und hiebei im Wesentlichen geltend gemacht, dass er nicht nach Ungarn verbracht werden wolle, er habe einen Cousin hier.

 

Mittlerweile liegt dem Asylgerichtshof ein Schreiben des UNHCR vom 17.10.2011 zur "Situation von Asylsuchenden in Ungarn" mit folgendem Wortlaut vor:

 

"1) Gefahr der Inhaftierung in Ungarn nach Dublin-Überstellung

 

Wegen irregulärer Einreise oder irregulären Aufenthalts aufgegriffene Asylsuchende werden von der ungarischen Polizei unmittelbar in Haft genommen, auch wenn sie sofort einen Asylantrag stellen. Auch Asylsuchende, die aufgrund der Dublin-IIVerordnung nach Ungarn (rück-)überstellt werden, werden inhaftiert. Lediglich unbegleitete Minderjährige, deren Minderjährigkeit nicht angezweifelt wird, kommen nicht ins Gefängnis.

 

Die generelle Inhaftierung von Asylsuchenden wird bereits seit April 2010 verstärkt praktiziert. Gemäß der Gesetzesänderungen vom Dezember 2010 kann Haft auch nach Ende des Vorverfahrens (Feststellung der Dublin-Zuständigkeit oder Prüfung der Einreise aus einem sicheren Drittstaat) und während der inhaltlichen Prüfung eines Asylantrags verhängt werden und bis zu zwölf Monate dauern. Familien mit Kindern können nur in Ausnahmefällen, und dies für höchstens 30 Tage, angehalten werden. Ob entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen bei Familien Haft nur ausnahmsweise eingesetzt wird, bedarf weiterer Prüfung. Laut UNHCRErkenntnissen wurde in den ersten viereinhalb Monaten seit Inkrafttreten der Regelung nur in einem Fall keine Haft angeordnet.

 

Entscheidungen der Behörden über Inhaftierungen müssen gerichtlich bestätigt werden. Diese gerichtliche Untersuchung ist nach Einschätzung von UNHCR allerdings eine bloße Formalität und führt zu keiner inhaltlichen Überprüfung der Haftgründe.

 

Unbegleitete Minderjährige sollen gar nicht in Haft genommen sondern in einer speziellen Einrichtung für unbegleitete Minderjährige in Bicske untergebracht werden. Allerdings werden unbegleitete Minderjährige, bei denen die Altersangabe angezweifelt wird, durchaus inhaftiert, wie Recherchen von UNHCR in den Hafteinrichtungen gezeigt haben. Dabei erfolgt die Altersfeststellung in Ungarn in der Regel lediglich anhand einer Inaugenscheinnahme des Antragstellers ohne jede weitere Untersuchung. Die Feststellung des Alters anhand des Augenscheins erfolgt auch dann, wenn in einem anderen EU-Mitgliedstaat - etwa im Zusammenhang mit dem Dublin-Verfahren - eine methodisch fundierte Alterseinschätzung stattgefunden hat.

 

2) Haftbedingungen

 

Die im vergangenen Jahr häufig für die längerfristige Inhaftierung von Asylsuchenden benutzten provisorischen Hafteinrichtungen, die nur für einen Aufenthalt von bis zu 72 Stunden im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen ausgelegt und somit für eine längerfristige Unterbringung ungeeignet sind, werden seit Beginn dieses Jahres nicht mehr für die Inhaftierung von Asylsuchenden verwendet. Die nunmehr eingesetzten Hafteinrichtungen unterliegen zum Teil einem strengen Gefängnisregime (etwa im Hinblick auf fixiertes Mobiliar, Vergitterung, Besuchsregelungen). Dabei gibt es allerdings je nach Einrichtung auch Lockerungen im Vollzug, wie die auf die Nacht begrenzte Einschließung in Zellen sowie Verbesserungen im Hinblick auf den Zugang zu Aktivitäten im Freien und zu den Sanitäreinrichtungen sowie die Nutzung von Gemeinschaftsräumen. Auch wurden Sozialarbeiter für die betreffenden Einrichtungen eingestellt und Internetzugang zur Verfügung gestellt.

 

Das Hauptproblem, das bei Befragungen von Inhaftierten durch UNHCR im September 2011 festgestellt wurde, betraf Misshandlungen durch Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen. Demnach hat es den Anschein, dass Misshandlungen und Belästigungen durch die Polizisten alltäglich vorkommen. Ein syrischer Antragsteller war am Tag eines UNHCR-Recherchebesuchs zusammengeschlagen worden, ein anderer nur ein paar Tage zuvor. Alle interviewten Asylantragsteller beschwerten sich über die Brutalität der Polizei. Demnach gingen zwar nicht alle Polizisten brutal vor, aber einige Beamte provozierten zunächst die Inhaftierten, um sie dann zusammenzuschlagen und verbal zu belästigen. Inhaftierte Asylsuchende haben auch berichtet, dass ihnen systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel verabreicht wurden, was zum Teil zur Abhängigkeit geführt hat. Diese Information wurde von Mitarbeitern der Aufnahmeeinrichtungen bestätigt, wo Asylsuchende nach Ende einer Inhaftierung hinkamen. Zudem müssen inhaftierte Asylsuchende Behördengänge in Handschellen absolvieren, obwohl sie nur wegen irregulärer Einreise oder irregulären Aufenthalts im Gefängnis sind.

 

3) Gefahr der Rückführung nach Serbien und Griechenland

 

Die ungarische Asylbehörde sieht Serbien entgegen der Auffassung von UNHCR nach wie vor als sicheren Drittstaat für Asylsuchende an und schickt jene, die über Serbien eingereist sind, ohne vorherige Prüfung ihres Asylantrags in der Sache nach Serbien zurück. Dies gilt auch für Verfahren, in denen der Antragsteller zuvor aufgrund des Dublin-Systems nach Ungarn rücküberstellt wurde. In nur rund 20% aller Asylverfahren wird eine inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe durchgeführt.

 

Die Entscheidungspraxis der ungarischen Gerichte bei eingelegten Rechtsmitteln ist höchst unterschiedlich: Während das Gericht in Budapest in mehreren Fällen in Übereinstimmung mit der UNHCR-Position die Asylbehörde zu einer inhaltlichen Prüfung des Asylantrags verpflichtet hat, werden die Entscheidungen der Behörde vom Gericht in Szeged, das für die meisten Fälle der über Serbien eingereisten Personen zuständig ist, ohne eingehende Prüfung bestätigt.

 

Nach den UNHCR vorliegenden Informationen finden derzeit keine Rückführungen von Ungarn nach Griechenland statt.

 

4) Prüfung des Asylantrags nach der Dublin-Überstellung

 

Ungarn betrachtet gemäß der Dublin-II-Verordnung rückübernommene Asylsuchende als Folgeantragsteller. Dies führt dazu, dass Rechtsmitteln gegen negative Entscheidungen keine automatische aufschiebende Wirkung zuerkannt wird und Leistungen betreffend die Aufnahme im Vergleich zu Erstantragstellern deutlich eingeschränkt sind."

 

Zudem ergibt sich aus dem Bericht "Report based on the Hungarian Helsinki Committee's field mission to Serbia (8-10 June 2011)" vom September 2011 auszugsweise Folgendes in Bezug auf den Umstand, dass Ungarn Serbien als sicheren Drittstaat ansieht:

 

"Conclusions

 

The information gathered by the Hungarian Helsinki Committee from a variety of reliable sources demonstrate that the current Serbian asylum system is not sufficiently functional and is neither able to ensure the proper determination of international protection needs for an increasing number of asylum seekers, nor does it provide effective protection for those qualifying for refugee status. In light of this, Hungarian asylum authorities wrongly consider Serbia as a safe third country in their daily practice and wrongly exclude asylum seekers arriving in Hungary through Serbia from an in-merit determination of their protection needs.

 

[ ... ]

 

Practice shows that when establishing that Serbia is a safe third country for asylum seekers, Hungary does not go beyond the examination of the mere existence of Serbia's international obligations and legislative provisions and Hungarian authorities systematically fail to check the actual practice in that country. By disregarding Serbia's list of safe third countries and failing to examine the availability of an effective protection mechanism in Serbia, Hungary is in breach of Article 3 of the ECHR by exposing asylum seekers to the risk of refoulement from Serbia to other unsafe countries."

 

Mit ho. Beschluss vom 27.10.2011, Zl. S4 422.020-1/2011/4Z, wurde der Beschwerde gem. § 37 Abs. 1 und 2 AsylG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Mit 1.7.2008 ist das Asylgerichtshofgesetz (AsylGHG) in Kraft getreten.

 

Mit 1.1.2006 ist das Asylgesetz 2005 (AsylG) in Kraft getreten.

 

§ 61 AsylG 2005 lautet wie folgt:

 

(1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

(2) Beschwerden gemäß Abs. 1 Z 2 sind beim Asylgerichtshof einzubringen. Im Fall der Verletzung der Entscheidungspflicht geht die Entscheidung auf den Asylgerichtshof über. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesasylamtes zurückzuführen ist.

 

(3) Der Asylgerichtshof entscheidet durch Einzelrichter über Beschwerden gegen

 

1. zurückweisende Bescheide

 

a) wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4;

 

b) wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5

 

c) wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG, und

 

2. die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung

 

(3a) Der Asylgerichtshof entscheidet weiters durch Einzelrichter über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes im Rahmen der Überprüfung gemäß § 41a.

 

(4) Über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde entscheidet der für die Behandlung der Beschwerde zuständige Einzelrichter oder Senatsvorsitzende.

 

Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.

 

Gemäß § 5 Abs. 2 AsylG ist auch nach Abs. 1 vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

 

Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesasylamt oder beim Asylgerichtshof offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Gemäß § 41 (3) AsylG ist in einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

 

Artikel 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates lautet:

 

Abweichend von Abs. 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.

 

Gemäß der - mittlerweile ständigen - Rechtssprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes (VfGH vom 8.3.2001, G 117/00 u. a., VfSlG 16.122; VwGH vom 23.1.2003, Zl. 2000/01/0498) ist auf Kriterien der Art. 3 und 8 EMRK bei Entscheidungen gemäß § 5 AsylG, ungeachtet des Fehlens einer diesbezüglichen Anordnung in der Bestimmung selbst, Bedacht zu nehmen.

 

Sohin ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführer im Falle der Zurückweisung seines Asylantrages und seiner Ausweisung nach Ungarn gem. §§ 5 und 10 AsylG - unter Bezugnahme auf seine persönliche Situation - in seinen Rechten gem. Art. 3 und/oder 8 EMRK verletzt werden würde, wobei der Maßstab des "real risk" anzulegen ist.

 

Der UNHCR-Bericht vom 17.10.2011 (der zuständigen Gerichtsabteilung des AsylGH seit 19.10.2011 vorliegend) spricht von einer "generellen Inhaftierung von Asylsuchenden", wobei eine gerichtliche Überprüfung der Inhaftierung "allerdings eine bloße Formalität" sei. Zudem kommt, dass in dem zitierten Bericht als "Hauptproblem Misshandlungen durch die Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen" genannt wird. "Es habe den Anschein, dass Misshandlungen und Belästigungen alltäglich" vorkommen".

 

Diese massiven Vorwürfe legen den Schluss nahe, dass polizeiliche Übergriffe an Asylwerbern nicht bloß Einzelfälle darstellen. Bei Vorliegen derartiger Berichte des UNHCR, dem als namhafte Organisation bei der Lagebeurteilung jedenfalls Gewicht zukommt, bedarf es daher einer näheren Auseinandersetzung mit den darin angesprochenen Problemkreisen im Hinblick auf die EMRK.

 

So wird zu ermitteln sein, welche konkreten und nachvollziehbaren Fälle der Einschätzung des UNHCR einer generellen Inhaftierung von Asylwerbern, konkret Rückkehrern im Rahmen der Dublin II VO, zugrunde liegen, wobei auch - soweit dies ermittelbar ist - statistisches Zahlenmaterial und Stellungnahmen der ungarischen Behörden der Sachverhaltsermittlung dienlich sein können. Weiter bedarf es weiterer Ermittlungen bezüglich der Anzahl und der Art der angesprochenen Übergriffe seitens Polizeibeamter an Asylsuchenden in der Schubhaft (gemessen an der Anzahl der Asylsuchenden in Ungarn), sowie bezüglich des Umstandes, ob Beamte, die an derartigen Übergriffen beteiligt gewesen sind, rechtliche Konsequenzen zu tragen haben, und ob solche Konsequenzen in der Praxis auch schon gezogen worden sind.

 

Als weiteren Problemkreis spricht UNHCR an, dass Ungarn im Rahmen der Dublin II VO rück übernommene Asylwerber als Folgeantragsteller ansieht, wodurch Rechtsmittel gegen sie betreffende negative Entscheidungen keine aufschiebende Wirkung ex lege haben, und die ungarischen Behörden jene Asylwerber, die über Serbien nach Ungarn eingereist sind (wie nach menschlichem Ermessen auch in casu der Beschwerdeführer) nach Serbien als sicheren Drittstaat zurückschicken. Vor dem Hintergrund des Berichtes des ungarischen Helsinki Komitees vom September 2011 kann nicht gesagt werden, dass den von UNHCR angesprochenen Kritikpunkten von vornherein keine Relevanz zukäme, sodass - etwa belegt durch statistische Zahlenmaterial - Feststellungen darüber notwendig erscheinen, inwieweit Asylwerber, die von Österreich im Rahmen der Dublin II VO nach Ungarn rück überstellt werden und vormals über Serbien nach Ungarn eingereist sind, tatsächlich dort ein meritorisches Verfahren oder eine inhaltliche Überprüfung ihrer Refoulementschutzgründe verbunden mit einer effektiven Rechtsmittelmöglichkeit erlangen können. Diesbezüglich könnte etwa auch die Zusicherung eines inhaltlichen Verfahrens durch die ungarischen Behörden, von Relevanz sein.

 

Derartige Ermittlungen sind dem Asylgerichtshof im Beschwerdeverfahren aufgrund der engen Frist des § 37 Abs. 3 AsylG nicht möglich, weshalb gem. § 41 Abs. 3 AsylG vorzugehen war.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung, Rechtsschutzstandard, Sicherheitslage
Zuletzt aktualisiert am
14.11.2011
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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