Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Karsai gg. Ungarn, Urteil vom 1.12.2009, Bsw. 5380/07.
Spruch
Art. 10 EMRK - Verpflichtung zur Veröffentlichung eines Widerrufs.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.310,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. beschäftigt sich als Historiker und Universitätsprofessor hauptsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere mit der Vernichtung der Juden und Roma. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu diesem Thema.
2004 kam es in Ungarn zu einer hitzigen Debatte über die Errichtung einer Statue zum Gedenken an Pál Teleki (Anm.: Ungarischer Ministerpräsident 1920/21 und von 1939 bis 1941. Unter seiner Regierung wurden verschiedene antisemitische Gesetze erlassen.). Die Diskussion betraf auch das Versäumnis Ungarns, seine Rolle im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust aufzuarbeiten, sowie die Haltung der Ungarn zu diesem Teil ihrer Geschichte.
Im Zuge dieser Debatte behauptete der Bf. öffentlich, Teleki wäre eine der verwerflichsten Gestalten der ungarischen Geschichte, da er für antisemitische Gesetze und dafür verantwortlich gewesen sei, dass Ungarn in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen wurde. In einem Artikel in der Zeitschrift Élet és Irodalom warf er rechten Medien einschließlich eines gewissen Herrn B. T. vor, die Rolle Telekis zu beschönigen und dabei antisemitische Äußerungen gemacht zu haben. Die folgende Passage veranlasste B. T. zu einer Klage: „Der Amateurhistoriker [B. T.] schrieb einige Artikel voll des Lobs für Pál Teleki [...], der in seinen Augen ein anti-Nazi Realpolitiker war. Diese Artikel und Studien blieben weitgehend ohne Reaktion. Wir sind nur wenige die, zumindest gelegentlich, die Produkte der rechten oder rechtsextremen Presse zur Hand nehmen, die – vielleicht durch diese Indifferenz ermutigt – in einer immer enthemmteren Weise weiter lügt, verleumdet, gegen Juden aufhetzt und auf sie einschlägt."
Mit seiner gegen den Bf. erhobenen Klage machte B. T. geltend, dass der zitierte Satz auf ihn abziele und seinen guten Ruf schädige.
Das Hauptstädtische Gericht Budapest wies die Klage am 1.6.2005 ab. Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel des Klägers statt und verurteilte den Bf. zur Veröffentlichung eines Widerrufs auf seine Kosten und zur Zahlung der Verfahrenskosten in der Höhe von ca. € 280,–. Die umstrittene Äußerung könne als Angriff auf die Person des Klägers angesehen werden und der Bf. habe die Wahrheit der Vorwürfe nicht bewiesen. Dem Kläger vorzuwerfen, „auf die Juden eingeschlagen" zu haben, sei eine Tatsachenbehauptung, die diesen in ein falsches Licht rücke und daher geeignet sei, sein Ansehen zu schädigen.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 28.6.2006 und verpflichtete den Bf. zur Zahlung weiterer Verfahrenskosten in der Höhe von ca. € 180,–.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).
Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:
Das Vorliegen eines Eingriffs in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung steht ebenso außer Streit wie die Tatsache, dass dieser gesetzlich vorgesehen war. Nach Ansicht des GH diente der Eingriff einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer. Es bleibt daher zu prüfen, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Der Bf. beteiligte sich an einer öffentlichen Debatte über die Errichtung einer Statue zum Gedenken an Pál Teleki. Seiner Ansicht nach bildete die öffentliche Rechtfertigung von dessen Handlungen, wie sie B. T. vertrat, Teil des „Einschlagens auf die Juden" (Jew-bashing). Angesichts der Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte ist der GH der Ansicht, dass sich die Äußerungen des Bf. auf B. T. bezogen, wenn auch nur indirekt.
Die ungarischen Gerichte qualifizierten die Äußerung des Bf. als Tatsachenbehauptung, die B. T. in ein falsches Licht rückte. Die Einschätzung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung oder Werturteil fällt in erster Linie in den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Gerichte. Sie darf jedoch den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit nicht ausschließen, indem sie willkürlich oder unsachlich ist.
Während das Bestehen von Tatsachen bewiesen werden kann, ist die Wahrheit eines Werturteils einem Beweis nicht zugänglich. Handelt es sich um ein Werturteil, so kann die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs vom Bestehen einer ausreichenden Tatsachengrundlage abhängen.
Die Äußerung des Bf. enthielt eine Tatsachenbehauptung, die B. T. als jemanden beschrieb, der die historische Rolle Pál Telekis schönfärben würde. Dessen entsprechende Aktivitäten standen außer Streit. Nach Ansicht des GH war diese Tatsachenbehauptung wertend. Indem er sich indirekt auf die veröffentlichten Ansichten von B. T. bezog, behauptete der Bf., dass die Verteidigung eines Politikers mit wohlbekannten antisemitischen Überzeugungen gleichbedeutend sei mit der Beteiligung an dem in der rechtsextremen Presse andauernden Vorgang der Verharmlosung seiner rassistischen Politik – einem als „Einschlagen auf die Juden" bezeichneten Phänomen.
Der GH kann daher den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte, die Auseinandersetzung betreffe eine reine Tatsachenbehauptung, nicht uneingeschränkt zustimmen. Eine solche Schlussfolgerung würde den Schutz des Art. 10 EMRK einschränken. Angesichts der entschuldigenden Behandlung Pál Telekis durch B. T. – auf die sich der Bf. in seinem Artikel bezog und die vor den innerstaatlichen Gerichten nicht bestritten wurde – und der Rolle, die Teleki beim Erlass antisemitischer Gesetze in Ungarn spielte, können die vom Bf. vorgebrachten Schlüsse nicht als exzessiv oder einer Tatsachengrundlage entbehrend angesehen werden.
Der GH stellt weiters fest, dass der Bf. – ein Historiker, der ausführlich über den Holocaust publiziert hatte – den umstrittenen Artikel im Zuge einer Debatte schrieb, die die Absichten eines Landes mit totalitären Abschnitten in seiner Geschichte betraf, seine Vergangenheit zu bewältigen. Die Debatte war daher von höchstem öffentlichen Interesse.
Die Veröffentlichung verdient daher das hohe Maß an Schutz, das der Presse in Hinblick auf ihre Funktion gewährt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des GH besteht wenig Raum für Einschränkungen politischer Äußerungen oder von Debatten über Fragen von öffentlichem Interesse. Der GH ist sich auch der Tatsache bewusst, dass sich B. T. als Autor weit verbreiteter Artikel in der Tagespresse an dieser Debatte beteiligte. Er setzte sich damit freiwillig der öffentlichen Kritik aus. Der Widerspruch des Bf. gegen die Ansichten von B. T. war indirekt formuliert. Der GH stellt jedoch fest, dass im gegebenen Kontext selbst harsche Kritik von Art. 10 EMRK geschützt wäre, würde sie nun direkt oder indirekt zum Ausdruck gebracht.
Die Art und Schwere der verhängten Sanktion müssen bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs nach Art. 10 EMRK ebenfalls berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall wurde der Bf. keinen strafrechtlichen, sondern zivilrechtlichen Sanktionen unterworfen. Die verhängte Sanktion, nämlich die Verpflichtung zum Widerruf in einer Angelegenheit, die seine berufliche Glaubwürdigkeit als Historiker betrifft, ist jedoch geeignet, eine „abkühlende Wirkung" (chilling effect) zu erzeugen. Der GH betont in diesem Zusammenhang, dass der gerichtlich angeordnete Widerruf einer Tatsachenbehauptung für sich selbst die Anwendung des von Art. 10 EMRK garantierten Schutzes nach sich zieht.
Da die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe für den Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. daher nicht als ausreichend angesehen werden können, liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.310,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814.
Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.
Pedersen und Baadsgaard/DK v. 17.12.2004 (GK), NL 2005, 10.
Azevedo/P v. 27.3.2008, NL 2008, 84.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 1.12.2009, Bsw. 5380/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 346) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_6/Karsai.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Textnummer
EGM00946Im RIS seit
02.04.2010Zuletzt aktualisiert am
03.04.2017