TE OGH 2009/12/15 10ObS193/09v

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Veröffentlicht am 15.12.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Birbamer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Christian B*****, vertreten durch Dr. Herbert Grass und Mag. Günther Kiegerl, Rechtsanwälte in Deutschlandsberg, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter- Straße 65-67, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. September 2009, GZ 7 Rs 62/09f-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. Juni 2009, GZ 32 Cgs 55/09s-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt am 10. 7. 2006 als Arbeitnehmer der A***** GmbH einen Arbeitsunfall. Er stürzte auf der Baustelle M***** aus einer Höhe von etwa 5 m vom Gerüst und wurde schwer verletzt. Er erlitt eine Querschnittslähmung und bezieht aufgrund dieses Arbeitsunfalls seit 1. 5. 2008 eine 100%ige Dauerrente.

Der Kläger war im Unfallszeitpunkt bereits etwa 30 Jahre lang als Bauarbeiter tätig. Auf der Baustelle M***** übte Franz F***** die Funktion des Poliers aus. Der Kläger gehörte einer fixen Arbeitspartie an, zu der noch Stefan S***** als Vorarbeiter und Stanko M***** als Kranführer gehörten. Er arbeitete bereits seit etwa 10 Jahren gemeinsam mit seinem Vorarbeiter Stefan S*****. Die Arbeitspartie des Klägers war am Unfallstag mit dem Anheben von Konsolenbühnen beschäftigt. Es handelt sich dabei um eine Routinearbeit, welche auf jeder Baustelle, die über mehr als zwei Geschosse führt, laufend vorkommt. Bei diesen Hebearbeiten, bei welchen der Kläger schon oft mitgewirkt hatte, war er als Anschläger, der Vorarbeiter Stefan S***** als Einweiser und Stanko M***** als Kranführer tätig. Auch im Unfallszeitpunkt fungierte der Kläger als Anschläger, Stanko M***** als Kranführer und Stefan S***** als Einweiser, da Stanko M***** als Kranführer weder auf den Kläger noch auf die anzuhebende Konsolenbühne Sicht hatte.

Die Aufgabe des Kläger als Anschläger bestand darin, die Konsolenbühne an die Anschlagpunkte anzuhängen. Wenn alles für den Hebevorgang bereit war, hatte er dies dem Einweiser durch Zeichen mitzuteilen. Der Einweiser hatte dies wiederum durch Zeichen an den Kranführer weiterzuleiten. Es war nicht primär Aufgabe des mit einem weißen Helm gekennzeichneten Einweisers, zu kontrollieren, ob die Konsolenbühne durch den Anschläger ordnungsgemäß angehängt worden war oder nicht. Nach einer internen Firmenanweisung, welche dem Kläger im Unfallszeitpunkt bekannt sein musste, hatte der Anschläger vor dem Anheben des Elements entweder in das Gebäude zurückzusteigen - diese Möglichkeit bestand für den Kläger auch im vorliegenden Fall - oder er hatte sich zumindest zwei Konsolenbühnen weiter weg zu begeben. Während der Zeit, in der Stefan S***** als Einweiser tätig war, war der Kläger auch immer vor dem Anheben in das Gebäude zurückgestiegen.

Während der Kläger, der Kranführer und der Vorarbeiter die erwähnten Hebearbeiten durchführten, begab sich der Polier zum Vorarbeiter, um ihn auf einen von ihm festgestellten sicherheitstechnischen Mangel auf der Baustelle aufmerksam zu machen. Hiebei war ihm bewusst, dass der Vorarbeiter als Einweiser fungierte, und er nahm auch wahr, dass der Kläger im Bereich der Konsolenbühne tätig war. Da der Polier dem Vorarbeiter im Zusammenhang mit dem festgestellten Mangel etwas zeigen wollte, entfernte sich der Polier etwa 5 m weit von jener Position, in der er als Einweiser tätig war. Weder der Polier noch der Vorarbeiter ordneten eine Unterbrechung der Hebearbeiten an; sie beauftragten auch keine andere Person mit der Tätigkeit als Einweiser. Der Vorarbeiter war vielmehr der Meinung, dass der Kläger und der Kranführer auf ihn warten würden. Dem Kranführer fiel zwar auf, dass der Vorarbeiter mit dem Polier einige Meter weit weggegangen war, es wurden jedoch die Hebearbeiten fortgesetzt, indem - wie dies in der Praxis auf Baustellen üblich ist - die Zeit der Abwesenheit des Vorarbeiters dadurch überbrückt wurde, dass jemand anderer den Hebebefehl gab.

Im vorliegenden Fall hängte der Kläger die anzuhebende Konsolenbühne an. Er begab sich daraufhin auf die unmittelbar benachbarte Konsolenbühne und rief: „Auf!". Ein über ihm auf dem Gebäude stehender Leiharbeiter der A***** GmbH, der mit einem zweiten Arbeiter die Konsolenbühne entgegennehmen sollte, gab daraufhin dem Kranführer das Zeichen zum Anheben. Beim Anheben kam es zu einer ungewollten Verhakung zwischen der durch den Kran angehobenen und der benachbarten Bühne, auf der der Kläger stand, wobei nicht feststellbar ist, wann diese Verhakung genau eingetreten ist. Ginge man davon aus, dass die Verhakung bereits vor dem Anheben bestand, so hätte ein direkt im Unfallbereich befindlicher Einweiser den Unfall allenfalls verhindern können. Ginge man allerdings davon aus, dass die Verhakung erst während des Hebevorgangs eingetreten ist, hätte auch ein direkt daneben befindlicher Einweiser aus zeitlichen Gründen keine Möglichkeit mehr gehabt, den Unfall zu verhindern. Der Vorarbeiter hätte allerdings das Zeichen zum Anheben an den Kranführer nicht gegeben, wenn er den Kläger auf der unmittelbar benachbarten Konsolenbühne stehen gesehen hätte.

Das sicherheitstechnische Niveau der A***** GmbH ist ein relativ hohes. Es wurden die entsprechenden Anweisungen an die Arbeiter in standardisierter Form weitergegeben und in den letzten 10 Jahren vor dem Unfall dokumentiert. Es ist im Übrigen branchenüblich, dass man langjährig auf Baustellen tätigen Arbeitnehmern die Unterweisungen zwar unterfertigen lässt, sie aber nicht bezüglich jeder Baustelle konkret noch einmal im Detail unterweist. Bei der A***** GmbH existiert ein eigener Sicherheitsbeauftragter, der die Einhaltung jener Bestimmungen, die es bezüglich der Unterweisung der Arbeitnehmer gibt, zu kontrollieren und zu überprüfen hat, dass die Unterweisungen durch den Polier bzw Bauleiter erfolgt sind. Es gab bei der A***** GmbH laufend Schulungen; das Unternehmen war auch entsprechend zertifiziert.

Ein gegen den Polier, den Vorarbeiter und den Kranführer beim Bezirksgericht Graz wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung eingeleitetes Strafverfahren wurde gemäß § 90 Abs 1 StPO aF eingestellt.

Ing. August R*****, der im Unfallszeitpunkt verantwortliche Beauftragte der A***** GmbH für die gegenständliche Baustelle M*****, wurde mit Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom 27. 12. 2007 rechtskräftig zur Bezahlung einer Geldstrafe verurteilt, da

1.) entgegen § 5 Abs 1 Arbeitsmittelverordnung (AM-VO) nicht dafür gesorgt wurde, dass der Arbeitnehmer und Kranführer Stanko M*****, geboren am 17. 6. 1956, eine angemessene Unterweisung im Sinne des § 14 ASchG für die Verwendung des Turmdrehkranes Marke Liebherr Type 120 HC, Nr 28236 erhalten hat;

2.) entgegen § 3 Abs 2 ASchG nicht dafür gesorgt wurde, dass gemäß § 7 Abs 2 Kennzeichnungsverordnung der Arbeitnehmer Stanko M***** in der Bedeutung der entsprechenden Warn- und Handzeichen unterwiesen wurde;

3.) entgegen § 18 Abs 2 Z 5 AM-VO die Last (Doka-Konsolbühne) nicht so befördert wurde, dass sie an Hindernissen nicht hängen bleibt;

4.) entgegen § 19 Abs 6 AM-VO keine geeignete Maßnahme durchgeführt wurde, um gefahrbringende Zusammenstöße mit der Last zu vermeiden, da der Weg des Lastenaufnahmemittels vom Kranführer Stanko M***** nicht einsehbar war;

5.) entgegen § 19 Abs 3 iVm § 33 Abs 2 AM-VO und § 35 Abs 3 Z 2 ASchG vor dem 10. 7. 2006 dem Arbeitnehmer Stanko M***** eine Fahrbewilligung zum Betreiben und Führen des Turmdrehkranes Liebherr 120 HC, Nr 28236 ohne besondere Unterweisung erteilt wurde, obwohl keine auf das betreffende Arbeitsmittel abgestimmte besondere Unterweisung erteilt worden ist, da bei der Unterweisung vom 31. 1. 2005 nicht im Sinne des § 14 Abs 3 ASchG auf die Bestimmungen der wesentlichen und wichtigen Kennzeichnungsverordnung eingegangen worden ist;

6.) entgegen § 12 Abs 3 ASchG der Arbeitnehmer Christian B***** als Anschläger nicht über die unmittelbare erhebliche Gefahr und nicht über die zu treffenden Schutzmaßnahmen informiert wurde, obwohl eine Gefahr durch die Absturzgefahr von einer Doka-Konsolbühne von 6 m, verbunden mit einem Hebevorgang mittels eines Kranes der Doka-Konsolbühne als anzuschlagende Last, entstand, und die zu treffenden Schutzmaßnahmen bis zum 10. 7. 2006 in der mit 2. 8. 2005 erstmals erstellten Dokumentation nicht ausreichend enthalten war;

7.) entgegen § 14 Abs 1 ASchG der Arbeitnehmer Christian B***** keinesfalls über die Tätigkeit „Anschlagen von Konsolbühnen" ausreichend nachweislich informiert oder unterwiesen wurde;

8.) entgegen § 14 Abs 2 ASchG nicht für eine ausreichende Unterweisung des Einweisers Stefan S***** im Sinne des § 14 Abs 2 ASchG gesorgt war, da er insbesondere nicht auf die wesentliche Kennzeichnungsverordnung aufmerksam gemacht wurde;

9.) entgegen § 3 Abs 7 ASchG iVm § 7 Abs 2 KennV die Arbeitnehmer Stefan S***** und Christian B*****, welche sich vor dem Arbeitsunfall am 10. 7. 2006 miteinander verständigen mussten, nicht in der Bedeutung von Handzeichen im Sinne Anh 3 der KennV und nicht in den damit im Zusammenhang stehenden zu ergreifenden Maßnahmen unterwiesen waren; der Arbeitgeber nicht für eine geeignete Sicherheits- und Gesundheitskennzeichnung gesorgt hat, obwohl die Gefahr nicht durch andere Maßnahmen begrenzt werden konnte; die Arbeitnehmer Stefan S***** und Christian B***** als Anschläger und Stanko M***** als Kranführer nicht durch sonstige technische Maßnahmen wie beispielsweise Funkkontakt untereinander verbunden waren und ebenso sonstige organisatorische Maßnahmen fehlten; der Einweiser Stefan S***** zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls durch andere Tätigkeiten als die des Einweisers vollständig abgelenkt wurde;

10.) entgegen § 4 Abs 1 ASchG die Gefahr bezüglich Anschlagen von Konsolbühnen nicht ermittelt bzw nicht beurteilt wurde, da das Kapitel 79 der Sicherheits- und Gesundheitsschutzdokumentation „Anschlagen von Lasten" nur das Anschlagen von Schuttmulden, Torstahlbündeln und Baustahlgittermatten erwähnt und für das Anschlagen von Konsolbühnen nicht eine Gefahr im Sinne des § 4 Abs 1 ASchG ermittelt wurde;

11.) entgegen § 4 Abs 3 ASchG bezüglich des Anschlagens von Konsolbühnen keine Maßnahme zur Gefahrenverhütung festgelegt wurde;

12.) entgegen § 5 ASchG die Ergebnisse der Ermittlung und Beurteilung der Gefahr sowie die durchzuführenden Maßnahmen zur Gefahrenverhütung betreffend das Anschlagen von Konsolbühnen nicht schriftlich festgehalten wurden.

Mit Bescheid vom 27. 1. 2009 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Integritätsabgeltung für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. 7. 2006 ab.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der abgelehnten Leistung gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den bereits eingangs wiedergegebenen Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht dahin, dass eine grob fahrlässige Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften nicht vorliege. Beim Kläger habe es sich um einen überaus erfahrenen Bauarbeiter gehandelt, der vor dem Unfall bereits oftmals in der Funktion des Anschlägers tätig gewesen sei. Es habe ihm aufgrund der internen Firmenanweisung und aufgrund der gelebten Praxis bekannt sein müssen, dass er sich während des Hebevorgangs nicht auf der unmittelbar benachbarten Konsolenbühne aufhalten dürfe. Es sei zwar Aufgabe des Poliers bzw des Vorarbeiters gewesen, während der kurzen Ablenkung des Einweisers entweder die Arbeiten zu unterbrechen oder eine andere Person mit der Einweisertätigkeit zu betrauen, doch dürfe nicht übersehen werden, dass diese Ablenkung nur von sehr kurzer Dauer (30 bis 60 Sekunden) gewesen sei, was gegen eine grobe Fahrlässigkeit spreche. Es sei nicht mehr feststellbar gewesen, wann die Verhakung zwischen den beiden Bühnen eingetreten sei; sollte diese überhaupt erst im Zuge des Hebevorgangs eingetreten sein, hätte der Einweiser, auch wenn er seine Position nicht verlassen hätte, den Unfall nicht verhindern können. Auch wenn formale Vorschriften insbesondere im Hinblick auf die Unterweisung von Arbeitnehmern verletzt worden seien, könne darin in keiner Weise eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht erblickt werden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge. Es sprach aus, dass das Klagebegehren dem Grunde nach im Ausmaß von 100 vH der am 10. 7. 2006 geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG zu Recht bestehe und trug der Beklagten die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von 70.000 EUR auf. Es vertrat in seiner rechtlichen Beurteilung im Wesentlichen die Ansicht, es liege eine grob fahrlässige Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vor. Der Arbeitgeber habe gegen zahlreiche Arbeitnehmerschutzvorschriften verstoßen. Es wäre überdies Aufgabe des Poliers bzw des Vorarbeiters gewesen, während der kurzen Ablenkung des Vorarbeiters als Einweiser entweder die Arbeiten zu unterbrechen oder eine andere Person mit der Tätigkeit als Einweiser zu betrauen. Dass die Ablenkung des Einweisers nur 30 bis 60 Sekunden gedauert habe, sei unerheblich. In der ungenügenden Koordinierung der bei einem Arbeitsvorgang beteiligten Personen und der Unterlassung der bei diesen zu beachtenden Arbeitnehmerschutzvorschriften liege ein besonders schwerer Sorgfaltsverstoß, welcher den Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich habe erkennen lassen. Da es für die Gewährung einer Integritätsabgeltung unerheblich sei, ob neben dem Schädiger auch der Versicherte selbst Arbeitnehmerschutzvorschriften fahrlässig missachtet habe, sei es nicht weiter relevant, dass der Kläger entgegen der ihm bekannten internen Firmenanweisung vor dem Anheben des Elements nicht in das Gebäude zurückgestiegen oder sich zumindest zwei Konsolenbühnen weiter entfernt habe.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision im Hinblick auf die für die Entscheidung maßgebenden Umstände des Einzelfalls nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Ersturteil im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die angefochtene Entscheidung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in ähnlichen Fällen (vgl 10 ObS 97/94, 10 ObS 22/95 = SSV-NF 9/12, 10 ObS 84/95, 10 ObS 254/01b und andere) abweicht. Sie ist auch berechtigt.

Die Beklagte macht geltend, die Auffassung des Berufungsgerichts, der kurzfristige Aufmerksamkeitsfehler des Vorarbeiters sei bereits als schwere Sorgfaltsverletzung anzusehen, sei realitätsfremd, da in diesem Fall bei einer Vielzahl von Unfällen im Arbeitsleben und im Straßenverkehr von einer groben Fahrlässigkeit ausgegangen werden müsste. Der kurze Aufmerksamkeitsfehler des Einweisers trete gegenüber den Kenntnissen und dem Verstoß des Klägers gegen firmeninterne Anweisungen so weit in den Hintergrund, dass eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften nicht angenommen werden könne. Außerdem hätte die Verhakung der Konsolenbühnen auch durch den Einweiser nicht verhindert werden können.

Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

Die Entscheidung im vorliegenden Fall hängt allein von der Lösung der Rechtsfrage ab, ob der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde. Nach der ständigen Rechtsprechung auch des erkennenden Senats zum Begriff der groben Fahrlässigkeit reicht das Zuwiderhandeln gegen Unfallverhütungsvorschriften für sich allein zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus (RIS-Justiz RS0052197 ua). Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades sind auch nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die für den Arbeitgeber erkennbare Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RIS-Justiz RS0085332 ua). Im Wesentlichen ist zu prüfen, ob nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz nicht angestellt wurden (RIS-Justiz RS0085228 ua). Auch bei Verletzung einer ausdrücklichen Vorschrift ist grobe Fahrlässigkeit nur dann anzunehmen, wenn ein Schaden im Einzelfall als wahrscheinlich voraussehbar war (vgl RIS-Justiz RS0085228 [T11]).

Prüft man den vorliegenden Fall unter Bedachtnahme auf die darlegten Rechtsausführungen, dann kann der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhalts durch das Berufungsgericht, wonach der Arbeitsunfall des Klägers vom 10. 7. 2006 durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde, nicht gefolgt werden. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung auch ein mehrfacher Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften als solcher nicht schon grobe Fahrlässigkeit bedeutet. Entscheidend für die Qualifikation als grob fahrlässig ist vielmehr die Schwere dieser Verstöße. Das Berufungsgericht hat einen schweren Sorgfaltsverstoß vor allem darin erblickt, dass der Einweiser (Vorarbeiter) für die Zeit seiner kurzen Ablenkung im Ausmaß von 30 bis 60 Sekunden nicht für die Unterbrechung der Arbeiten gesorgt oder eine andere Person mit der Einweisertätigkeit betraut habe. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass es für den Vorarbeiter aufgrund der jahrzehntelangen Berufserfahrung des Klägers als Bauarbeiter, seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit dem Kläger in einer Arbeitspartie und des weiteren Umstands, dass der Kläger auch am Unfallstag bei den bereits durchgeführten Anhebearbeiten vor dem Anheben immer in das Gebäude zurückgestiegen war, keineswegs naheliegend und vorhersehbar sein musste, dass sich der Kläger in der Folge entgegen der ihm bekannten und von ihm auch immer befolgten firmeninternen Anweisung nach dem Anhängen der anzuhebenden Konsolenbühne auf die unmittelbar benachbarte Konsolenbühne begab und von dort aus den Befehl zum Hochheben der Konsolenbühne gab. Dass für den Dienstvorgesetzten (Vorarbeiter) des Klägers die Nichtbefolgung der internen Firmenanweisung durch den Kläger aufgrund irgendwelcher Umstände vorhersehbar gewesen wäre und der Dienstvorgesetzte des Klägers nicht damit rechnen durfte, dass der Kläger während der kurzzeitigen Ablenkung des Vorarbeiters die Hebearbeiten unterbricht oder sich zumindest der erteilten Anordnung entsprechend verhält, wurde auch vom Kläger nicht behauptet. Dem Umstand, dass nicht festgestellt werden konnte, ob die Verhakung der Konsolen durch den Einweiser hätte verhindert werden können, kommt keine entscheidungswesentliche Bedeutung zu, da der Vorarbeiter nach den Feststellungen der Vorinstanzen dem Kranführer nicht das Zeichen zum Anheben der Konsolenbühne gegeben hätte, wenn er den Kläger auf der unmittelbar benachbarten Konsolenbühne hätte stehen gesehen. Soweit der Kläger - auch in der Berufung - geltend gemacht hat, der seit 10 Jahren als Kranführer tätig gewesene Marko S***** hätte das Kommando nur vom bestellten Einweiser (Vorarbeiter) entgegen nehmen dürfen und er sei über diese Vorschrift von seinem Arbeitgeber nicht belehrt worden, ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger selbst den Befehl zum Hochheben der Konsolenbühne gegeben hat und dieser Befehl durch einen Arbeitskollegen an den Kranführer weitergegeben wurde. Auch der Kranführer konnte daher berechtigterweise davon ausgehen, dass der Kläger den Gefahrenbereich verlassen hat. Dass der Kläger entgegen der firmeninternen Anweisung und seinem bisherigen Verhalten den unmittelbaren Gefahrenbereich tatsächlich nicht verlassen hat, war auch für den Kranführer nicht vorhersehbar. In diesem Zusammenhang ist noch zu berücksichtigen, dass es der festgestellten Praxis auf Baustellen entspricht, dass im Fall der (jedenfalls kurzzeitigen) Abwesenheit des Einweisers ein anderer Arbeitnehmer den Hebebefehl an den Kranführer weitergibt. Der erkennende Senat gelangt daher zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass der Arbeitsunfall, bei dem der Kläger verletzt wurde, nicht durch ein grob fahrlässiges Außerachtlassen von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde. Aus diesem Grund steht dem Kläger kein Anspruch auf Integritätsabgeltung zu.

Es war daher in Stattgebung der Revision der Beklagten das Ersturteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht dargetan und sind auch aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

Textnummer

E92896

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00193.09V.1215.000

Im RIS seit

14.01.2010

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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