TE OGH 2009/12/15 Bsw821/03

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Veröffentlicht am 15.12.2009
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Financial Times Ltd u.a. gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 15.12.2009, Bsw. 821/03.

Spruch

Art. 10 EMRK - Gerichtliche Anordnung der Ausfolgung eines Geheimpapiers.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 160.000,– an alle Bf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um vier britische Tageszeitungen und eine Nachrichtenagentur.

Am 30.10.2001 ersuchte der Vorstand von Interbrew, einer belgischen Brauerei, die Berater seiner Investmentbanken (darunter Goldman Sachs), eine mögliche Fusion mit South African Breweries (SAB), einem Konkurrenten, zu prüfen und ihr ein Übernahmeangebot zu unterbreiten. In der Folge wurde ein vertrauliches Papier vorbereitet. Es enthielt Informationen, welche die Aktienpreise von Interbrew und SAB nachhaltig beeinflussen konnten.

Zu einem nicht mehr eruierbaren Zeitpunkt kam eine unbekannte Person (X.) in den Besitz des Papiers. Kopien davon wurden den Bf. von einer Adresse in Belgien aus übermittelt.

Am 27.11.2001 erhielt ein Journalist der Financial Times eine Kopie des Dokuments. Er kontaktierte einen Vertreter von Goldman Sachs und teilte ihm mit, das Papier veröffentlichen zu wollen. Der Artikel erschien noch am selben Abend auf der Homepage der Financial Times und wurde am nächsten Tag in der Zeitung veröffentlicht. Auch die übrigen Bf. brachten Meldungen zu der geplanten Fusionierung.

Am 29.11.2001 gab Interbrew eine Presseerklärung heraus, wonach das besagte Papier Fälschungen enthalte. Die Bf. brachten weitere Meldungen zur Frage der gefälschten Kopien.

Die Auswirkungen der Berichterstattung der Presse waren signifikant: Die Zahl der Aktien von SAB stieg von 2 auf 44 Millionen.

In der Folge versuchte Interbrew, die Identität von X. festzustellen, was ihr jedoch nicht gelang. Am 6.12.2001 erstattete sie Strafanzeige gegen Unbekannt bei der Staatsanwaltschaft beim Brüsseler Gericht erster Instanz.

In der Folge brachte Interbrew beim High Court Klage gegen die Bf. auf Herausgabe des strittigen Papiers unter Berufung auf die „Norwich Pharmacal-Prinzipien" (Anm.: Sie wurden vom House of Lords im Fall Norwich Pharmacal v. Customs & Excise Commissioners entwickelt. Demnach ist eine Person, die unverschuldet an Rechtsverletzungen anderer teilnimmt, indem sie sie erleichtert, verpflichtet, dem Geschädigten Unterstützung zu leisten, indem sie ihm jedwede Information zukommen lässt und die Identität des Rechtsverletzers preisgibt.) ein.

Am 19.12.2001 erließ der High Court eine einstweilige Verfügung, mit der die Herausgabe des Papiers angeordnet wurde. Begründend wurde ausgeführt, X. habe mit voller Absicht vertrauliche und falsche Informationen vermischt, um einen falschen Handel mit Aktien des Antragstellers und von SAB zu veranlassen. Es bestehe Wiederholungsgefahr, falls es nicht gelänge, X. zu identifizieren. Die Umstände seien außergewöhnlich, bestünde doch ein überragendes Interesse sowohl der Öffentlichkeit als auch des Einzelnen an der Integrität des Aktienmarkts und an der Offenlegung des Papiers zur Verhinderung von Verbrechen.

Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel an den Court of Appeal blieb erfolglos.

Am 9.7.2002 verweigerte das House of Lords den Bf. die Erlaubnis zur Ergreifung eines Rechtsmittels. Sie sind der Aufforderung zur Ausfolgung des strittigen Papiers bis heute nicht nachgekommen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung der Wohnung bzw. des Briefverkehrs) und von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Laut den Bf. habe die Entscheidung des High Court vom 19.12.2001 sie in ihrer Meinungsäußerungsfreiheit verletzt. Sie behaupten ferner, die fehlende Waffengleichheit im gemäß den „Norwich Pharmacal-Prinzipien" abgewickelten Verfahren ziehe eine Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 10 EMRK nach sich.

1. Zur Zulässigkeit:

Die Regierung wendet ein, die Bf. hätten den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft. Den Gerichten wäre es etwa möglich gewesen, auf Antrag der gegnerischen Partei eine Reihe von Verfügungen zu erlassen, mit denen Interbrew zur Offenlegung von Dokumenten, Gegenüberstellung von Zeugen und Vorlage sachdienlicher Informationen hätte veranlasst werden können. Ferner hätten die Bf. vor den Gerichten versäumt darzulegen, das „Norwich-Pharmacal-Verfahren" sei unfair gewesen, sondern hätten sich auf das Vorbringen beschränkt, Interbrew sei den Beweis für ihre Behauptungen schuldig geblieben.

Der GH hält fest, dass den Bf. bis zum 10.12.2001 in keiner Weise bewusst war, dass Interbrew beabsichtigte, gerichtlich gegen sie vorzugehen, um sie zur Herausgabe des Papiers zu zwingen. Sie fanden sich daraufhin in einer Situation, in der sie innerhalb kürzester Zeit eine einstweilige Verfügung bekämpfen mussten, mit der die Herausgabe des Dokuments innerhalb von 24 Stunden angeordnet wurde. Besagte Verfügung wäre für den Ausgang des gesamten Falls entscheidend gewesen. Darüber hinaus war der Zeitplan für Verfahren vor dem High Court dicht gedrängt und waren die Fristen für die Unterbreitung von Schriftsätzen an den Court of Appeal kurz bemessen.

Die Bf. brachten vor den innerstaatlichen Gerichten vor, diese dürften in einem abgekürzten Verfahren keine Tatsachenfeststellungen vornehmen, während sie selbst an einer Bestreitung der einstweiligen Verfügung gehindert wären, weil sie es als gegeben hinnehmen mussten, dass das strittige Dokument von X. gefälscht worden war.

Unter diesen Umständen findet der GH, dass die Bf. angesichts der Hast, mit der das Verfahren vorangetrieben wurde, die Anforderungen von Art. 35 Abs. 1 EMRK erfüllt haben.

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Die einstweilige Verfügung vom 19.12.2001 wurde noch nicht vollstreckt. Dieser Umstand vermag am Schaden der Bf. nichts zu ändern, da – auch wenn eine Vollstreckung aus derzeitiger Sicht unwahrscheinlich erscheint – die einstweilige Verfügung nach wie vor vollstreckbar ist. Es ist somit von einem Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung der Bf. auszugehen. Zu prüfen ist, ob der Eingriff nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war.

a) War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

Als Rechtsgrundlage der einstweiligen Verfügung fungierten die „Norwich Pharmacal-Prinzipien" und § 10 Contempt of Court Act 1981, wonach Personen zur Offenlegung von Informationsquellen verpflichtet sind, wenn dies im Interesse der Gerechtigkeit, der nationalen Sicherheit oder zur Verhinderung von Verbrechen notwendig ist. Der Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK.

b) Bestand ein legitimes Ziel für den Eingriff?

Der Eingriff diente dem Schutz der Rechte  anderer und der Verhinderung der Offenlegung von geheimen Informationen – legitime Ziele iSd. Art. 10 Abs. 2 EMRK.

c) War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

Im vorliegenden Fall fand der Court of Appeal, dass das öffentliche Interesse am Schutz einer „undichten Stelle" von den entgegenstehenden öffentlichen Interessen überwogen werde, Interbrew zu gestatten, gerichtlich gegen diese Quelle vorzugehen. Ausschlaggebend in dieser Hinsicht seien die offenkundigen Ziele von X. gewesen, die „jedenfalls niederträchtig und darauf angelegt gewesen seien, Schaden aus Gründen des Profits oder einfach aus Boshaftigkeit anzurichten."

Der GH hat bereits im Fall Goodwin/GB Behauptungen über „ungebührliche Motive" als nicht entscheidend für seine Schlussfolgerung erachtet, es liege eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor. Es mag zwar Situationen geben, in denen schädliche Ziele einer Nachrichtenquelle bereits als solche einen relevanten und ausreichenden Grund für eine einstweilige Verfügung auf Offenlegung darstellen, jedoch erlaubte es das gegen die Bf. angestrengte Verfahren nicht, die von X. verfolgten Ziele mit dem notwendigen Grad an Sicherheit festzustellen. Der GH möchte ihnen daher im vorliegenden Fall kein signifikantes Gewicht beimessen.

Was die Behauptung anlangt, das strittige Dokument sei gefälscht gewesen, ist an die Pflicht von Journalisten zu erinnern, zur öffentlichen Debatte im Wege einer akkuraten und zuverlässigen Berichterstattung beizutragen. Die von ihnen ergriffenen Schritte zur Überprüfung der Verlässlichkeit einer Information können insofern ein Faktor gerichtlicher Erwägung sein, wenn es um die Rechtfertigung einer einstweiligen Verfügung auf Offenlegung in Fällen geht, in denen die durchgesickerte Information und nachfolgende Veröffentlichung auf ungenaue Art und Weise erfolgte. Im gegenständlichen Fall waren sich die nationalen Gerichte jedoch nicht schlüssig, ob das zugespielte Dokument gefälscht sei oder nicht. Der GH stimmt dem zu. Die Authentizität des fraglichen Papiers kann daher ebenfalls nicht als gewichtiger Faktor angesehen werden.

Es ist zu prüfen, ob die Interessen von Interbrew, X. zu identifizieren und ihn vor Gericht zu bringen, um die fortgesetzte Verbreitung vertraulicher Informationen und Schadenersatz für bereits eingetretene Schäden zu erlangen, das öffentliche Interesse am Schutz journalistischer Quellen überwiegen können.

Vor Veröffentlichung des Artikels in der Financial Times erhielt Interbrew Nachricht, dass einem Journalisten ein Geheimpapier zugespielt worden war und dass beabsichtigt sei, die darin enthaltenen Informationen zu publizieren. Im Gegensatz zum Standpunkt der betroffenen Firma im Fall Goodwin/GB beantragte Interbrew jedoch nicht den Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Untersagung der Veröffentlichung der – behauptetermaßen – vertraulichen und sensiblen Geschäftsinformationen. Außerdem kann das Ziel der Verhinderung weiterer undichter Stellen eine gerichtliche Verfügung auf Bekanntgabe der Quelle nur unter außergewöhnlichen Umständen rechtfertigen, nämlich wenn keine angemessenen oder weniger einschneidenden Mittel zur Vermeidung einer Gefahr zur Verfügung stehen und das Risiko ausreichend ernst und bestimmbar ist, um eine derartige Anordnung iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK zu rechtfertigen.

Es trifft zwar zu, dass der Court of Appeal keine gelinderen Mittel zur Auffindung der Quelle finden konnte, da es den Sicherheitsexperten von Interbrew nicht gelang, X. auszuforschen. Andererseits wird aus den Urteilen der innerstaatlichen Gerichte ersichtlich, dass Interbrew nicht alle Details der Nachforschungen bekanntgab und die Schlussfolgerungen des Court of Appeal, zum gegebenen Zeitpunkt sei alles Mögliche zur Auffindung von X. unternommen worden, auf Rückschlüssen auf Basis der vorgelegten Beweise beruhten.

Während die Bf. im Gegensatz zum Fall Goodwin/GB nicht zur Offenlegung von Dokumenten verpflichtet wurden, die direkt zur Identifikation der Quelle geführt hätten, sondern lediglich dazu, Papiere zu offenbaren, die zu deren Identifikation führen konnten, hält der GH eine derartige Unterscheidung nicht für ausschlaggebend. Jedenfalls muss bei Journalisten, die Unterstützung bei der Identifikation anonymer Quellen leisten müssen, in jedem Fall eine abschreckende Wirkung (chilling effect) eintreten. Im vorliegenden Fall reicht es daher aus, dass mit der einstweiligen Verfügung die Lieferung von Informationen bzw. Unterstützung angeordnet wurde, um X. zu identifizieren.

Die Interessen von Interbrew, im Wege gerichtlicher Schritte gegen X. die Gefahr eines Schadens angesichts einer zukünftigen Verbreitung vertraulicher Informationen hintanzuhalten und Schadenersatz für bereits erlittene Schäden zu erhalten, waren daher, auch kumulativ betrachtet, nicht ausreichend, um das öffentliche Interesse am Schutz journalistischer Quellen zu überwiegen.

Was den Beschwerdepunkt hinsichtlich der fehlenden Waffengleichheit anlangt, hält der GH eine gesonderte Prüfung nicht für erforderlich. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. behaupten eine Verletzung der Waffengleichheit durch die Gerichte.

Dieser Beschwerdepunkt wirft dieselben Fragen auf bzw. bezieht sich auf dieselben Fakten, wie sie unter Art. 10 EMRK geprüft wurden. Er ist daher für zulässig zu erklären, angesichts der festgestellten Verletzung von Art. 10 EMRK ist jedoch eine gesonderte Prüfung nicht erforderlich (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. rügen eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung der Wohnung bzw. des Briefverkehrs als Folge der gerichtlichen Anordnung  auf Ausfolgung des strittigen Dokuments.

Es gilt das in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EMRK Gesagte (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 160.000,– an alle Bf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Goodwin/GB v. 27.3.1996, NL 1996, 83; ÖJZ 1996, 795.

Fressoz und Roire/F v. 21.1.1999 (GK), NL 1999, 11; EuGRZ 1999, 5; ÖJZ 1999, 774.

Bladet Tromso und Stensaas/N v. 20.5.1999 (GK), NL 1999, 96; EuGRZ 1999, 453; ÖJZ 2000, 232.

Roemen und Schmit/L v. 25.2.2003, NL 2003, 74.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.12.2009, Bsw. 821/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 368) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_6/Financial Times.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM00955

Im RIS seit

02.04.2010

Zuletzt aktualisiert am

29.03.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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