TE OGH 2010/1/19 10Ob80/09a

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.01.2010
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Sabine H*****, geboren am 22. Juli 1992, vertreten durch ihre Mutter Hajnalka H*****, Ungarn, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Graz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom 29. September 2009, GZ 2 R 297/09i-U-35, womit infolge Rekurses der Minderjährigen der Beschluss des Bezirksgerichts Judenburg vom 8. Juni 2009, GZ 6 P 199/01w-U-23, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Die am 22. 7. 1992 geborene Sabine H***** ist die Tochter von Hajnalka H***** und Roman S*****. Die Minderjährige und ihre Mutter sind jeweils österreichische und ungarische Staatsbürger. Sie leben in Ungarn, wo die Minderjährige die Schule besucht. Nach der Aktenlage war der Vater, der österreichischer Staatsbürger ist, in den Jahren 2000 bis 2002 in Österreich als Arbeitnehmer beschäftigt. Von November 2004 bis Mai 2006 befand er sich in einer Justizanstalt. Im Anschluss daran bezog er bis Anfang März 2007 Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Überbrückungshilfe. Der Vater war bis Anfang August 2008 in Österreich gemeldet und ist anschließend nach Ungarn verzogen. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist nicht bekannt. Er ist aufgrund eines vor dem Jugendwohlfahrtsträger abgeschlossenen Vergleichs vom 2. 9. 1996 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 176,60 EUR an die Minderjährige verpflichtet.

Aufgrund dieses Unterhaltstitels gewährte das Erstgericht der Minderjährigen mit Beschluss vom 14. 8. 2001 Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG ab 1. 8. 2001. Die Gewährung dieser Unterhaltsvorschüsse wurde vom Erstgericht allerdings in der Folge mit dem Tag der Bewilligung wieder eingestellt, da die Minderjährige mit ihrer Mutter nach Ungarn verzogen war.

Die Mutter der Minderjährigen beantragte am 20. 3. 2009 die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß § 4 Z 2 UVG mit der Begründung, dass eine Festsetzung des Unterhaltsbeitrags aufgrund des unbekannten Aufenthalts des Vaters, der sich angeblich in der Karibik aufhalten solle, nicht möglich sei.

Das Erstgericht wies diesen Antrag ab. Es verwies darauf, dass Unterhaltsvorschüsse aufgrund der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 auch dann gewährt werden könnten, wenn zwar das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Österreich habe, der Unterhaltspflichtige aber in Österreich berufstätig oder arbeitslos sei und Arbeitslosengeld beziehe, auch wenn der andere Elternteil weder berufstätig noch arbeitslos sei („Exportverpflichtung"). Eine solche Exportverpflichtung bestehe im vorliegenden Fall jedoch nicht, weil sich der Vater nicht in Österreich aufhalte und in Österreich auch keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehe.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluss unter Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es verwies im Wesentlichen auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats des Obersten Gerichtshofs, wonach nach dem Gemeinschaftsrecht sowohl der Vater als auch die Mutter eine Anspruchsberechtigung des Kindes auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG vermitteln könne. Anders als in dem der Entscheidung 10 Ob 36/08d zugrunde liegenden Fall, wo der Vater in Österreich gelebt habe und auch beschäftigt gewesen sei, fehle hier ein „Österreich-Bezug" des Vaters, weshalb die Anwendbarkeit der VO 1408/71 im vorliegenden Fall nicht von der Rechtsstellung des Vaters abgeleitet werden könne. Eine solche Anwendbarkeit wäre allerdings über die Rechtsstellung der Mutter denkbar. Dafür müsse jedoch geklärt werden, ob die Mutter durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Ungarn der VO 1408/71 unterliege. Sollte dies der Fall sein, hätte die Minderjährige Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse.

Gegen diesen Aufhebungsbeschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Graz, mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses abzuändern.

Revisionsrekursbeantwortungen wurden von den übrigen verfahrensbeteiligten Parteien nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht bei seiner Entscheidung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Das Rechtsmittel ist im Sinne einer Wiederherstellung des antragsabweisenden Beschlusses des Erstgerichts auch berechtigt.

Der Rechtsmittelwerber macht geltend, dass nach den in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ein Kind, das die österreichische Staatsbürgerschaft besitze oder EWR-Bürger sei und mit seinem obsorgeberechtigten Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat lebe, dann Anspruch auf Leistungen nach dem österreichischen UVG habe, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil (Unterhaltsschuldner) - wie in dem der Entscheidung 10 Ob 36/08d zugrunde liegenden Fall - im Inland tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger sei. Da der Vater im vorliegenden Fall in Österreich nicht in das System der sozialen Sicherheit eingebunden und überdies unbekannten Aufenthalts sei, seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu.

Wie der EuGH in der Rechtssache Humer (Urteil vom 5. 2. 2002, C-255/99) entschieden hat, handelt es sich beim österreichischen Unterhaltsvorschuss um eine Familienleistung im Sinne von Art 4 Abs 1 lit h der VO (EWG) Nr 1408/71. Eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, fällt als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers im Sinne von Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f der VO 1408/71 in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung. Der Art 73 und 74 der VO 1408/71 sind so auszulegen, dass ein minderjähriges Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG hat.

Als Konsequenz aus dieser Qualifikation des österreichischen Unterhaltsvorschusses als Familienleistung im Sinne der VO 1408/71 resultiert aus der Gebietsgleichstellung in Art 73 dieser Verordnung somit eine Exportverpflichtung, wenn und solange der Unterhaltsschuldner (zB als „Wanderarbeitnehmer") in Österreich tätig ist (vgl 6 Ob 183/04m mwN, 1 Ob 289/01h ua). Diese Voraussetzung war im Fall der Entscheidung 10 Ob 36/08d erfüllt, weil der geldunterhaltspflichtige Vater damals im relevanten Zeitraum in Österreich als Arbeitnehmer beschäftigt bzw arbeitslos war. Der Vater war somit als Arbeitnehmer im Sinne der VO 1408/71 anzusehen und es waren daher die österreichischen Unterhaltsvorschüsse gemäß Art 73 der VO 1408/71 an das in Ungarn wohnhafte Kind zu exportieren.

Davon unterscheidet sich jedoch der vorliegende Fall nach den zutreffenden Ausführungen des Rechtsmittelwerbers insofern entscheidend, als der Vater der Minderjährigen unbekannten Aufenthalts ist und jedenfalls nicht in das System der sozialen Sicherheit in Österreich eingebunden ist. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für die Erbringung von Familienleistungen richtet sich grundsätzlich nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff der VO 1408/71. Art 13 dieser Verordnung geht in Bezug auf Familienleistungen von einem Vorrang des Beschäftigungsstaats aus; Familienangehörige des Arbeitnehmers oder Selbständigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, sind in Bezug auf Ansprüche auf Familienleistungen so zu behandeln, als ob sie im Beschäftigungsstaat wohnten.

Eine Leistungszuständigkeit Österreichs für die Erbringung von Familienleistungen im Sinne der VO 1408/71 kommt daher im vorliegenden Fall schon deshalb nicht in Betracht, da die Minderjährige und ihre Mutter in Ungarn leben (Wohnortstaat) und der Vater in Österreich weder selbständig noch unselbständig erwerbstätig noch arbeitslos ist, Österreich somit weder Wohnort- noch Beschäftigungsstaat ist. Eine Exportverpflichtung nach Art 73 und 74 VO 1408/71 besteht daher im vorliegenden Fall nicht. Es ist damit im vorliegenden Fall aber auch nicht entscheidungswesentlich, ob Ungarn als Wohnortstaat oder als Beschäftigungsstaat für die Erbringung von Familienleistungen an die Minderjährige zuständig ist. Der vom Rekursgericht aufgetragenen Klärung der Frage, ob die Mutter in Ungarn erwerbstätig ist oder nicht, bedarf es somit nicht. Auch wenn die Mutter der Minderjährigen in Ungarn erwerbstätig sein sollte, würde dies keinen Anspruch der Minderjährigen auf österreichische Unterhaltsvorschüsse begründen.

Aufgrund dieser Erwägungen war die Entscheidung des Rekursgerichts im Sinne einer Wiederherstellung der antragsabweisenden Entscheidung des Erstgerichts abzuändern.

Textnummer

E93130

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0100OB00080.09A.0119.000

Im RIS seit

18.02.2010

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten