Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI Georg W*****, vertreten durch Dr. Hansjörg Pichler, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagten Parteien 1. Eleonore I***** Z*****, und 2. R***** AG, *****, beide vertreten durch Mag. Johannes Kerschbaumer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 129.072,30 EUR sA und Feststellung, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 17. April 2009, GZ 5 R 17/09b-39, womit das Zwischenurteil des Landesgerichts Innsbruck vom 19. Dezember 2008, GZ 8 Cg 164/06d-32, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision der Beklagten wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 6. 6. 2005 gegen 19:30 Uhr kam es in Landeck zu einem Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer und die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin ihres bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Pkw beteiligt waren. Die Straße ist im Unfallbereich „gut 5,8 m breit“ und hat eine Steigung von 6 bis 8 %. Die Sichtstrecke beträgt weit über 50 m. Zur Zeit des Unfalls war die Fahrbahn trocken.
Der Kläger befand sich auf der Rückkehr von einer Mountainbiketour, die er regelmäßig mehrmals in der Woche unternahm. Er fuhr talwärts mit ordnungsgemäß eingestellten Bremsen, die eine Bremsverzögerung von 5 m/s² erreichen konnten, einer Geschwindigkeit von „zumindest 25 km/h und keinesfalls über 40 km/h“ und einem Seitenabstand zum rechten Fahrbahnrand von „gut einem Meter“.
Die Erstbeklagte wollte bergwärts fahrend nach links zu ihrem Wohnhaus abbiegen. Dort befindet sich eine Stützmauer samt Holzlattenzaun, der die Einsicht beschränkt. Sie näherte sich mit 40 km/h, setzte ihre Geschwindigkeit dann auf unter 30 km/h herab und reduzierte sie auf Höhe der Hauszufahrt weiter. Etwa auf Höhe der Hauszufahrt lenkte sie etwas nach rechts und schlug sodann - bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von „mindestens 15 km/h“ - kurzfristig nach links ein. In diesem Moment bemerkte sie den in diesem Zeitpunkt noch etwa 35 m von ihrem Fahrzeug entfernten Kläger erstmals, erschrak, bremste stark und blieb schräg zur Fahrbahnlängsachse stehen. Sie erreichte zumindest die Fahrbahnmitte; ob sie diese überschritt, konnte nicht festgestellt werden, ebenso wenig, ob sie blinkte.
Der Kläger sah das Beklagtenfahrzeug langsamer werden. Auf das Linkseinschlagen reagierte er mit einer Vollbremsung, die dazu führte, dass er über den Lenker auf die Fahrbahn stürzte und sich schwer verletzte. Wäre der Kläger ohne Reaktion weiter gefahren, wäre es weder zu einer Kollision mit dem Fahrzeug der Beklagten gekommen noch zu einem Sturz.
Der Kläger begehrt Schmerzengeld, Verdienstentgang, Therapie-, Arzt-, Fahrtkosten sowie Auslagen für Gehbehelfe. Das Alleinverschulden am Unfall habe die Erstbeklagte zu verantworten, die, ohne auf den entgegenkommenden Kläger zu achten, nach links abgebogen sei.
Die Beklagten wandten das Alleinverschulden des Klägers ein. Er habe aufgrund eines Aufmerksamkeitsfehlers bei hoher Geschwindigkeit eine unnötige Schreckreaktion in Form einer Vollbremsung durchgeführt, ohne dass die Erstbeklagte ihm einen objektiven Reaktionsanlass gegeben hätte. Die Erstbeklagte sei zu diesem Zeitpunkt zum Linksabbiegen in der Fahrbahnmitte eingereiht gestanden und habe die Fahrbahn des Klägers in keiner Weise eingeschränkt. Außerdem habe der Kläger keinen Radhelm getragen.
Das Erstgericht sprach im zweiten Rechtsgang das Zurechtbestehen der Klagsforderung zu ¾ aus. Im Sinne der Berufungsentscheidung im ersten Rechtsgang begründe die Nichtbenützung des Fahrradhelms beim Kläger kein Mitverschulden. Allerdings liege eine Überreaktion vor, ohne die es zu keinem Unfall gekommen wäre. Die Erstbeklagte habe den Vorrang des richtungsbeibehaltenden Klägers zu wahren gehabt. Sie habe nicht einmal die gewöhnliche Sorgfalt angewendet. Allerdings hätte auch der Kläger das Fahrverhalten der Erstbeklagten im Auge behalten und aufgrund ihres Langsamerwerdens in Erwägung ziehen müssen, dass sie seine Fahrbahnhälfte überqueren werde. Er habe deshalb einerseits rechtzeitig bremsen oder weiter rechts fahren können und nicht „überbremsen“ müssen. Insgesamt sei daher von einer Schadensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu Lasten der Beklagten, auszugehen.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahingehend ab, dass es aussprach, das Zahlungsbegehren bestehe dem Grunde nach zur Gänze zu Recht. Nach Verwerfung der Mängelrüge, der geltend gemachten Aktenwidrigkeit sowie der Feststellungsrüge gelangte es rechtlich zu der Auffassung, dass die Erstbeklagte den Vorrang des Klägers habe wahren müssen, wobei nicht von Relevanz sei, ob sie die Mittelleitlinie, der weder Gebots- noch Verbotscharakter zukomme, überschritten habe. Es stehe fest, dass die Erstbeklagte im Zuge des von ihr vorbereiteten Abbiegemanövers nach Rechtsauslenken und Linkseinschlagen eine Geschwindigkeit von „zumindest 20 km/h“ eingehalten und erst im letzten Moment kräftig gebremst habe. Ihr Verhalten widerspreche § 12 Abs 1 StVO. Der Kläger sei daher nicht nur berechtigt sondern verpflichtet gewesen zu reagieren. Selbst bei Verneinung eines vorwerfbaren Verschuldens sei aber für die Beklagten nichts gewonnen, weil in diesem Fall von einer Haftung nach EKHG auszugehen und der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen sei. Der Kläger dagegen sei nicht verpflichtet gewesen, seine Aufmerksamkeit im besonderen Maße auf den entgegenkommenden Pkw zu lenken und ebenso wenig seine Geschwindigkeit (von ca 25 km/h) zu verringern. Auch die zuletzt vom Pkw eingehaltene Annäherungsgeschwindigkeit von „20 bis 25 km/h“ habe vom Kläger noch nicht bedenklich ausgelegt werden müssen. Er habe daher nicht verspätet reagiert. Auch eine Verletzung des Rechtsfahrgebots sei ihm nicht vorzuwerfen. Insgesamt hätten die Beklagten daher beim Kläger weder eine Reaktionsverspätung noch eine vorwerfbare Fehlreaktion in Form der Vollbremsung nachweisen können, sodass das Leistungsbegehren dem Grunde nach zur Gänze zu Recht bestehe. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, da keine Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Parteien wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, in Stattgebung der Revision das Klagebegehren abzuweisen; in eventu werde ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und teilweise berechtigt.
1. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).
2. Die Rechtsrüge geht vom alleinigen oder zumindest überwiegenden Verschulden des Klägers am Unfall aus, weil eine entschuldbare Schreckreaktion auf seiner Seite nicht vorliege, er gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen habe und im Hinblick auf das Annäherungsverhalten des PKW eine unklare Verkehrssituation vorgelegen habe, auf die er mit einer Geschwindigkeitsreduzierung habe reagieren müssen. Umgekehrt habe der PKW die Mittellinie während des Linksabbiegevorgangs nicht überschritten, weshalb eine Vorrangverletzung nicht anzunehmen sei. Auch ein Verstoß gegen die Bestimmungen über das Linksabbiegen sei der Erstbeklagten nicht anzulasten.
3. Nach der Judikatur kann einem Verkehrsteilnehmer, der bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen unter dem Eindruck dieser Gefahr eine - rückschauend betrachtet - unrichtige Maßnahme trifft, dies nicht als Mitverschulden angerechnet werden (RIS-Justiz RS0023292). Eine solche Schreckreaktion ist insbesondere dann entschuldbar, wenn das ihr zugrunde liegende Ereignis plötzlich und völlig überraschend in einer derartig bedrohlichen Nähe eintritt, dass ein überstürztes Handeln erforderlich ist (RIS-Justiz RS0022393). Für eine durch grob verkehrswidriges Verhalten anderer Straßenbenützer hervorgerufene unrichtige Schreckreaktion ist ein Kraftfahrzeuglenker keineswegs immer verantwortlich (RIS-Justiz RS0029878).
Eine solche entschuldbare Schreckreaktion wurde aber in 8 Ob 1/87 = ZVR 1988/66 in einem Fall verneint, als bei Beibehaltung der konkreten Fahrgeschwindigkeit einem Pkw-Lenker mehr als 3 Sekunden bis zum Erreichen eines Hindernisses (plötzlich geöffnete Fahrertür) zur Verfügung standen. Der Oberste Gerichtshof ging damals davon aus, dass diese Zeit bei weitem genügt hätte, um eine im Straßenverkehr alltägliche Abwehrmaßnahme, nämlich ein geringfügiges Auslenken, vorzunehmen um der keineswegs komplizierten Verkehrssituation ausreichend und ohne jedes Risiko Rechnung zu tragen, weshalb in diesem Fall die Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1 bestätigt wurde.
4. Hier legte der Kläger je nach tatsächlich eingehaltener Geschwindigkeit bei 25 km/h rund 7 m/s und bei 40 km/h rund 11 m/s zurück. Da die Erstbeklagte im Linkszug abbremste und bereits im Bereich der Mittellinie zum Stillstand kam, kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger praktisch den gesamten Abstand von 35 Meter zur Abwehr der Gefahr nutzen konnte. Er hatte daher bei 25 km/h rund 5 Sekunden bzw bei 40 km/h zumindest 3 Sekunden zur Verfügung.
Angesichts dieser Umstände kann nicht gesagt werden, dass das seine Schreckreaktion auslösende Verhalten des Pkw so bedrohlich in seiner Nähe eingetreten wäre, dass ein überstürztes Handeln notwendig geworden und daher sein Mitverschulden völlig auszuschließen wäre. Dies auch im Hinblick auf die Tatsache, dass dem Kläger die Annäherung des Beklagtenfahrzeugs - und damit auch seine Geschwindigkeitsverringerung auf „mindestens 15 km/h“ - nach den Feststellungen des Erstgerichts „nicht verborgen blieb“.
5. Dagegen kann dem Kläger ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot nicht angelastet werden. Bei der festgestellten wechselseitigen Sicht von über 50 Meter liegt ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine unübersichtliche Kurve oder ungenügende Sicht iSd § 7 Abs 2 StVO vor (vgl 2 Ob 97/07i). Die eingehaltene Fahrlinie von gut einem Meter Seitenabstand zum rechten Fahrbahnrand bei einer Breite seines Rades von rund 55 cm lässt bei einer Fahrbahnbreite von „gut 5,8 Meter“ - und somit einer Fahrstreifenbreite von zumindest 2,9 Meter - noch mehr als einen Meter bis zur Fahrbahnmitte übrig. Der Kläger hat daher einen genügend großen Abstand zur Fahrbahnmitte eingehalten, um dem Gegenverkehr das Passieren ohne Gefährdung der Verkehrssicherheit zu ermöglichen (vgl 2 Ob 231/80 = ZVR 1982/77). Auch größere Abstände zum rechten Fahrbahnrand können aber dann toleriert werden, wenn sich ein ausreichender Seitenabstand zur Fahrbahnmitte ergibt (8 Ob 74/86 = ZVR 1988/41).
6. Der Erstbeklagten ihrerseits ist zunächst ein Verstoß gegen § 12 Abs 1 StVO vorzuwerfen. Danach hat ein Lenker eines Fahrzeugs, der beabsichtigt nach links einzubiegen, das Fahrzeug auf den der Fahrbahnmitte zunächst gelegenen Fahrstreifen seiner Fahrtrichtung zu lenken. Auch bei Vorhandensein nur eines Fahrstreifens hat derjenige, der nach links einzubiegen beabsichtigt, möglichst nahe an die Fahrbahnmitte heranzufahren (RIS-Justiz RS0073924). Dieses Einordnen zur Straßenmitte vor dem Linkseinbiegen hat nicht nur den Zweck, das Rechtsüberholen zu ermöglichen, sondern auch, die Abbiegeabsicht zu verdeutlichen.
Hier hat sich die Erstbeklagte nicht nur nicht zum Linksabbiegen eingeordnet, sondern überdies nach rechts ausgelenkt, um dann kurzfristig nach links einzuschlagen.
7. Durch dieses Fahrmanöver hat sie den Kläger überdies zu unvermitteltem Bremsen iSd § 19 Abs 7 iVm Abs 5 StVO genötigt.
Auch wenn - wie die Revision darlegt - der Inhalt der Wartepflicht in eine zeitliche Komponente, die besagt, wann der Wartepflichtige weiterfahren darf, und eine örtliche, die besagt, bis zu welcher Stelle er vorfahren darf, um den Zeitpunkt des Weiterfahrens abzuwarten, zerfällt, ist ein Vorrangfall auch dann gegeben, wenn zwar eine nachträgliche Berechnung ergibt, dass die Fahrzeuge nicht zusammengestoßen wären, der Vorrangberechtigte aber unter dem Eindruck der augenblicklichen Verkehrssituation Maßnahmen zur Verhinderung eines Zusammenstoßes trifft, die vom Standpunkt eines sorgfältigen Lenkers aus geboten erscheinen (vgl RIS-Justiz RS0075054).
Auch wenn ein geringfügiges Überschreiten der Mittellinie bzw Fahrbahnmitte durch den Linksabbieger grundsätzlich noch keine Vorrangverletzung (iSd § 19 Abs 5 StVO) begründet (vgl RIS-Justiz RS0059132), ändert dies nichts daran, dass bei einer Nötigung zu einem unvermittelten Bremsen iSd § 19 Abs 7 StVO eine Vorrangverletzung auch dann eintreten kann, wenn das wartepflichtige Fahrzeug die Fahrbahnmitte zwar nicht überschritten, den richtungsbeibehaltenden Bevorrangten aber dennoch durch seine Fahrweise zu einem jähen und unvermittelten Abbremsen genötigt hat.
Bereits die Veranlassung zu einer mittleren Betriebsbremsung entspricht einer Nötigung zum unvermittelten Bremsen und damit einer Vorrangverletzung (2 Ob 36/81 = ZVR 1981/274). Ein solcher Fall liegt hier vor, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass der Kläger mit ordnungsgemäß eingestellten Bremsen nur eine maximale Bremsverzögerung von 5 m/s² erreichen konnte und bergab fuhr.
8. Da eine Vorrangverletzung in der Regel schwerer wiegt als andere Verkehrswidrigkeiten (RIS-Justiz RS0026775) und der Erstbeklagten noch ein weiterer Verstoß gegen die StVO anzulasten ist, überwiegt ihr Verschulden. Umgekehrt kann das Mitverschulden des Klägers aber nicht vernachlässigt werden, sodass mit dem Erstgericht eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zu Lasten der Beklagten angemessen erscheint.
Es war daher die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf §§ 52 Abs 2, 393 Abs 4 ZPO.
Textnummer
E93580European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0020OB00138.09X.0217.000Im RIS seit
12.05.2010Zuletzt aktualisiert am
10.02.2011