Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 4. März 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Lässig, Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Romstorfer als Schriftführer in der Strafsache gegen Mag. Dr. Camillus K***** wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB, AZ 012 Hv 45/09m des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO und seinen Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Erneuerungsantrag und der Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung werden zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Wien legte Mag. Dr. Camillus K***** mit Strafantrag vom 5. März 2009 ein von ihr rechtlich als Vergehen des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 6), worauf die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien im Verfahren AZ 012 Hv 45/09m am 12. März 2009 unter Ladung zweier Polizeibeamten als Zeugen die Hauptverhandlung für den 14. April 2009 anberaumte (ON 8). Am 27. März 2009 gab Rechtsanwalt Dr. Rudolf M***** seine Bevollmächtigung durch den Angeklagten bekannt (ON 12).
In der Hauptverhandlung erklärte der Angeklagte zu Beginn seiner Vernehmung (nach entsprechender Ankündigung durch den Verteidiger in dessen Erwiderung auf den Vortrag der Anklage), sich nicht schuldig zu bekennen (§ 245 Abs 1 zweiter Satz StPO; ON 13 S 5, 7). Nach Vertagung wegen nicht rechtzeitigen Erscheinens der als Zeugen geladenen Polizeibeamten, die telefonisch ein dienstlich bedingtes Hindernis mitgeteilt hatten (ON 13 S 17), wurde in der Hauptverhandlung einer der beiden am 16. Juni 2009 befragt (ON 23 S 5 ff), der andere, der abermals eine Verhinderung bekannt gegeben hatte, am 7. Juli 2009 (ON 27 S 9 ff).
Mit Urteil vom 7. Juli 2009 sprach die Einzelrichterin den Angeklagten des Vergehens „des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt“ nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB schuldig und verhängte über ihn unter Bedachtnahme auf eine frühere Verurteilung (§ 31 StGB) eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten als Zusatzstrafe. Unter einem fasste sie den Beschluss auf Absehen vom Widerruf der bedingten Nachsicht zweier früher über den Angeklagten verhängten Strafen und auf Verlängerung einer der beiden Probezeiten auf fünf Jahre (ON 28).
Mag. Philipp W*****, der (für Dr. Rudolf M***** einschreitend) den Angeklagten in der Hauptverhandlung vertreten hatte, gab unmittelbar nach Urteilsverkündung am 7. Juli 2009 die Beendigung des Vollmachtsverhältnisses bekannt (ON 27 S 21; vgl ON 30).
In der gegen das Urteil durch einen anderen Verteidiger ausgeführten Berufung wurde unter anderem als Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 1 (§ 489 Abs 1) StPO geltend gemacht, die Richterin sei befangen gewesen (ON 32). Der Angeklagte habe von Anfang an seinen Verteidiger darüber informiert, dass der ihm zur Last gelegte Sachverhalt nicht den Tatsachen entspreche, weshalb er sich nicht geständig verantworten werde. Dennoch habe Mag. Philipp W***** nach eigenen Angaben Kontakt mit der Richterin aufgenommen und mit ihr vor der Verhandlung eine Absprache über das Verhandlungsergebnis getroffen. Nach dessen Darstellung sei mit der Richterin besprochen gewesen, der Angeklagte solle sich geständig verantworten, er werde dann einer Zusatzstrafe von zwei Monaten erhalten, andernfalls würde er zu einer solchen von zwölf Monaten verurteilt werden. Von diesem Gespräch habe der Verteidiger den Angeklagten erst unmittelbar vor der Hauptverhandlung am 14. April 2009 verständigt. Er habe das Ansinnen, sich wahrheitswidrig geständig zu verantworten, zurückgewiesen. Aus der sodann verhängten Strafe leitete der Angeklagte mit Blick auf die erwähnte Mitteilung seines Verteidigers eine Voreingenommenheit der Richterin ab.
Das Oberlandesgericht Wien gab mit Urteil vom 10. November 2009, AZ 20 Bs 383/09h, der Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit und Schuld nicht Folge, setzte aber in Stattgebung seiner Strafberufung die Freiheitsstrafe auf acht Monate herab (ON 37).
In der Begründung führte es unter anderem aus, dass Befangenheit - im Sinn der aktuellen Terminologie der StPO gemeint: Ausgeschlossenheit (vgl § 43 StPO; Lässig, WK-StPO Vorbem §§ 43-47 Rz 1; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 132, 386) - eines Richters nicht schon dann gegeben sei, wenn sich dieser vor der Hauptverhandlung eine Meinung über den Fall gebildet habe, sondern nur dann, wenn eindeutig zu erkennen sei, dass er seine Meinung auch angesichts allfälliger gegenteiliger, seine Meinung widerlegender Ergebnisse des Verfahrens zu ändern nicht gewillt sein werde. Auch die Äußerung vor der Hauptverhandlung, mit welcher Strafe nach der Gesetzes- und Sachlage der Angeklagte im Fall eines Schuldspruchs bei geständiger oder nicht geständiger Verantwortung zu rechnen habe, stelle noch kein Indiz für eine Voreingenommenheit des Richters dar. Im vorliegenden Fall habe die Einzelrichterin sämtliche Beweismittel ausgeschöpft, woraus sich ihre Bemühung um materielle Wahrheitsforschung verdeutliche und sich kein tauglicher Anhaltspunkt dafür biete, dass sie nicht bereit gewesen wäre, von ihrer vor der Hauptverhandlung - aufgrund der Aktenlage - gebildeten Meinung über die zu erwartende Strafe im Fall des Gelingens des Schuldbeweises bei Hervorkommen relevanter Beweisergebnisse - die Schuld- und Straffrage betreffend - abzugehen. Dabei habe die „Strafzumessungslage“ vor Eingehen in die Hauptverhandlung durch das abgeführte Beweisverfahren keine Änderung zu Gunsten des Angeklagten erfahren. Die angegebene Äußerung der Erstrichterin gegenüber dem Verteidiger des Angeklagten vor der Hauptverhandlung über die zu erwartende Sanktion im Fall eines Schuldspruchs sei daher nicht geeignet, ihre Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit in Zweifel zu ziehen (ON 37 S 7 f).
Im vorliegenden Erneuerungsantrag (§ 363a StPO) macht der Verurteilte geltend, durch eine im Verfahren AZ 012 Hv 45/09m des Landesgerichts für Strafsachen Wien vor Durchführung des Beweisverfahrens getroffene Prozessabsprache zwischen der Einzelrichterin und dem Verteidiger - der diesbezüglich ohne Auftrag gehandelt habe -, gegen die er in der Berufung vergeblich Abhilfe gesucht habe, im Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 MRK verletzt worden zu sein. Unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung habe ihm der Verteidiger Mag. Philipp W***** mitgeteilt, er habe mit der Richterin gesprochen und vereinbart, dass der Erneuerungswerber sich schuldig bekennen solle und dann nur eine Zusatzstrafe von zwei Monaten erhalten werde; anderenfalls werde er eine Zusatzstrafe von zwölf Monaten erhalten. Nach Ablehnung dieses sittenwidrigen Angebots sei exakt jene Strafe verhängt worden, mit der die Richterin gedroht habe. Im Erneuerungsantrag wird auch eine ersichtlich nach dem Ersturteil zwischen dem Angeklagten und Mag. W***** geführte Unterredung wiedergegeben, die sich auf ein Gespräch des Verteidigers mit der Richterin vor Urteilsfällung über die im Fall eines Schuldspruchs zu verhängende Strafe bezog. Der angeführte Gesprächsinhalt bietet Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Verteidiger für den Fall eines auf einem Geständnis beruhenden Schuldspruchs eine zum Teil bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe (demnach von mehr als sechs Monaten, vgl § 43a StGB) mit einem unbedingten Teil von zwei Monaten erwartete (S 5 des Antrags). Sinn der Vorgangsweise sei „offenbar, dass sich die Richterin als Gegenleistung für ihr Entgegenkommen bei der Strafbemessung aufwändige Beweisverfahren und Urteilsbegründungen ersparen kann“ (S 5 unten des Antrags).
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
1. Verfahrensbeendende Prozessabsprachen widerstreiten dem Gebot der materiellen Wahrheitsfindung und sind daher unzulässig (zB Schmoller, WK-StPO § 3 aF Rz 25; Danek, Wahrheitsfindung und Prozessökonomie - Welche Rolle kommt dem Vorsitzenden in der Hauptverhandlung zu? RZ 2004, 122 [129]; ders, Stellungnahme zum Gutachten für den 15. Österreichischen Juristentag 2003, Bd IV/2, 55 [70]; ders, WK-StPO Vor §§ 220-227 Rz 9 mwN; Medigovic, Absprachen im Strafverfahren, Vorarlberger Tage 2007 [2008], 95 [98]; Ratz, Welche Veränderungen des Rechtsmittelverfahrens gegen Urteile erfordert das Strafprozessreformgesetz? Miklau-FS [2006] 411 [416 f]; Markel, WK-StPO § 1 Rz 9; für die Zulässigkeit verfahrensbeendender Absprachen zB Moos, Absprachen im Strafprozess, RZ 2004, 56 [60 ff]). Sie können zu disziplinärer und strafrechtlicher Verfolgung führen. Unterlässt ein Richter die nach der Sachlage gebotene Beweisaufnahme pflichtwidrig, um eine solche Absprache zu realisieren, kommt Strafbarkeit wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB in Betracht (vgl 11 Os 77/04, JBl 2005, 127 = EvBl 2005/64, 275 = SSt 2004/66; 13 Os 70/06b; vgl RIS-Justiz RS0097040, RS0097084, RS0096031; Ratz, Der Vergleich im gerichtlichen [Finanz-]Strafverfahren aus der Sicht des Richters, in Leitner [Hrsg], Finanzstrafrecht 2002 [2003], 99; ders, Verfahrensbeendende Prozessabsprachen in Österreich, ÖJZ 2009, 949 [952]; zur Entwicklung in Deutschland kritisch zB Schünemann, Die Absprachen im Strafverfahren, Riess-FS [2002] 525 [529 ff], ders, Zur Entstehung des deutschen „plea bargaining“, Heldrich-FS [2005] 1177; ders, Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells, Fezer-FS [2008] 555; Harms, Die konsensuale Verfahrensbeendigung, das Ende des herkömmlichen Strafprozesses?; Nehm-FS [2006] 289; Velten in SK-StPO Vor § 257b Rz 1 ff).
Eine vom Richter eingehaltene Prozessabsprache dieser Art - die mit dem System des liberalen Strafprozesses auch deshalb nicht vereinbar ist, weil sie sich auch im Fall von Rechtsprechung oder Gesetzgeber verlangter Dokumentation einer Kontrolle entzieht - stellt demnach einen Wiederaufnahmegrund dar (§ 353 Z 1 StPO). Ein darauf bezogener Antrag ist nach der Strafprozessordnung bei dem Gericht zu stellen, das für das Hauptverfahren zuständig war (§ 357 Abs 1 StPO; zur Ausschließung der vorbefassten Richter § 43 Abs 4 StPO). Ein Antragsrecht an den Obersten Gerichtshof ist dementsprechend für solche Fälle nicht vorgesehen (vgl § 362 Abs 3 StPO).
Davon zu unterscheiden sind zur Festlegung des Verhandlungsfahrplans dienende Konferenzen mit Staatsanwalt und Verteidiger (Ratz, ÖJZ 2009, 949 [952]).
2. Befangenheit im Sinn der früheren und Ausgeschlossenheit gemäß § 43 Abs 1 Z 3 StPO nach der aktuellen Diktion der Strafprozessordnung liegt nicht schon dann vor, wenn sich ein Richter vor der Entscheidung eine Meinung über den Fall gebildet hat, sondern nur, wenn die Annahme begründet erscheint, dass er auch angesichts allfälliger gegenteiliger Verfahrensergebnisse nicht gewillt sei, von dieser abzugehen (RIS-Justiz RS0096733; Lässig, WK-StPO § 43 Rz 12; Grabenwarter, EMRK³ § 24 Rz 43).
Ob dies der Fall ist, bedarf auch unter Berücksichtigung dessen einer genauen Prüfung, dass ein mit einer - gesetzwidrigen - verfahrensbeendenden Absprache gescheiterter Richter in seiner Entscheidungsfindung allenfalls nicht mehr ganz frei ist, weshalb eine nicht eingehaltene Absprache zu Nichtigkeit des Urteils nach § 281 Abs 1 Z 1 StPO führen kann. Ein Hinweis auf Befangenheit des Richters könnte auch in der Höhe der für den Fall des Nichtkontrahierens in Aussicht gestellten Strafe liegen.
Auf die vorgenannten Prämissen nahm das Oberlandesgericht im Berufungsverfahren eingehend Bedacht, indem es nachvollziehbar hervorhob, dass keine Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, die Richterin sei nicht bereit gewesen, von einer allfälligen Meinung, die sie sich vom vorliegenden Fall aufgrund der Aktenlage vor der Hauptverhandlung gemacht hatte, mit Blick auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens abzugehen. Die Richterin habe die vorliegenden Beweismittel durchwegs ausgeschöpft, was ihr Streben nach amtswegiger Wahrheitsforschung unterstreiche. Wesentliche neue Aspekte der Strafzumessung hätten sich in der Hauptverhandlung nicht ergeben. Die Äußerung der Richterin gegenüber dem Verteidiger über die Strafe im Fall eines Schuldspruchs sei daher nicht geeignet, Zweifel an ihrer Unparteilichkeit zu begründen, legte das Oberlandesgericht aktenkonform dar.
Demnach kann nicht gesagt werden, dass der Angeklagte infolge Verhandlungsführung durch eine befangene Richterin und Gutheißung einer solchen Vorgangsweise oder auch nur Vernachlässigung des dazu erhobenen Berufungseinwands durch das Oberlandesgericht in seinem auch den Anspruch auf Unparteilichkeit des Gerichts umfassenden Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK verletzt worden wäre (Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 39 f).
3. Dass eine Prozessabsprache im eingangs genannten Sinn realisiert worden wäre, hat der Verurteilte selbst nicht vorgebracht. Eine Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit zu reklamieren ist daher schon im Ansatz nicht begründet.
4. Aus dem vom Oberlandesgericht beschriebenen Verhalten der Verhandlungsrichterin ist auch nicht abzuleiten, dass diese die Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 MRK) verletzt hat, insbesondere indem sie gezeigt hätte, dass sie den Angeklagten für schuldig hält, bevor er verurteilt worden ist (vgl Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 125). Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung ergibt sich dem Antrag zuwider auch nicht aus der Verhängung einer vor der Hauptverhandlung für den Fall eines Schuldspruchs ins Auge gefassten Strafe, unabhängig davon, ob sich in der Folge das Berufungsgericht zum Ausspruch einer anderen Strafe veranlasst sieht.
5. Eine Grundrechtsverletzung liegt demnach im gegebenen Fall nicht vor. Der offenbar unbegründete Antrag war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur gemäß § 363b Abs 2 Z 3 StPO bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen.
6. Mit Blick auf die Kompetenznorm des § 362 Abs 5 StPO, wonach dann, wenn es dem Obersten Gerichtshof zukommt, ein Urteil aufzuheben, diesem die Hemmung des Strafvollzugs zusteht, kann zwar seine Befugnis zu einer solchen Entscheidung auch im Fall eines auf § 363a StPO gestützten Antrags aus dem Gesetz abgeleitet werden, nicht aber ein darauf gerichtetes Antragsrecht (vgl § 357 Abs 3 StPO).
Textnummer
E93487European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0130OS00001.10M.0304.000Im RIS seit
24.04.2010Zuletzt aktualisiert am
29.01.2013