Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen Melisa T*****, geboren am 18. März 2007, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, MA 11, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung für den 14., 15. und 16. Bezirk, Gasgasse 8-10, 1150 Wien), über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. November 2009, GZ 43 R 776/09z-45, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 4. September 2009, GZ 15 PU 204/09v-31, bestätigt wurde, den
B e s c h l u s s
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
B e g r ü n d u n g :
Die am 18. 3. 2007 geborene Melisa T***** ist die Tochter von Sabina T***** und Jasmin D*****. Die Minderjährige und ihre Mutter sind Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina und haben ihren Wohnsitz in Wien. Die Mutter bezieht Familienbeihilfe und seit Juli 2007 Kinderbetreuungsgeld. Ob sie einer Beschäftigung nachgeht, steht nicht fest. Das Rekursgericht hat dies verneint, das Erstgericht geht in der Rechtsbeurteilung hingegen von einer „Berufstätigkeit der Mutter“ aus. Nach der Aktenlage (Versicherungsdatenauszug vom 30. 6. 2009) war sie von 4. 3. 2009 bis „laufend“ als Arbeiterin der I***** GmbH gemeldet (ON 22).
Der Vater ist montenegrinischer Staatsbürger (ON 44) und lebt in Deutschland. Er ist arbeitslos und erhielt in den Monaten Mai bis Oktober 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von monatlich 351 EUR (AS 89). Ob er zuvor in Österreich tätig war, steht nicht fest. Aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 15. 7. 2008 (ON 16) ist er zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 224 EUR gegenüber dem Kind verpflichtet.
Mit Beschluss vom 4. 9. 2009 (ON 31) bewilligte das Erstgericht antragsgemäß (ON 21) Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum vom 1. 6. 2009 bis 31. 5. 2012 in Titelhöhe. Die Exekutionsführung scheine aussichtslos, weil das Jugendamt Stuttgart mitgeteilt habe, dass der Vater über kein pfändbares Einkommen (lediglich 351 EUR) verfüge. Auch bosnische Staatsbürger, die sich in Österreich aufhielten, hätten Anspruch auf die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Der Anwendungsbereich der VO 1408/71 und der VO 859/2003 sei auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt worden, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem EG-Mitgliedstaat haben und deren Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedsstaats hinausweise. Dieser grenzüberschreitende Bezug sei hier gegeben, weil der Vater in Deutschland lebe. Der Unterhaltsvorschussanspruch selbst werde durch die Berufstätigkeit der Mutter in Österreich vermittelt.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, nicht Folge. Der grenzüberschreitende Sachverhalt liege vor, wobei der Vater durch den Bezug von Arbeitslosengeld nach SGB II auch Arbeitnehmer im Sinn der VO 1408/71 sei. Durch die VO 859/2003 fielen bei Vorliegen der Voraussetzungen der VO 1408/71 auch Drittstaatsangehörige in den Anwendungsbereich. Da Drittstaatsangehörige bei reinem Inlandsbezug nicht in den persönlichen Geltungsbereich der genannten Verordnungen fielen (RIS-Justiz RS0119548), sei e contrario davon auszugehen, das bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt - wie hier - ein Unterhaltsvorschussanspruch bestehe.
Da die Frage, ob das Kind durch den Umstand, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als Arbeitnehmer, Selbständiger oder Student Gebrauch mache, oder Grenzgänger sei, einen Unterhaltsvorschussanspruch erlangen könne, wenn es Drittstaatsangehöriger sei bzw auch die weiteren Beteiligten Drittstaatsangehörige seien, vom Obersten Gerichtshof bisher noch nicht beurteilt worden sei, sei der Revisionsrekurs zulässig.
Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im antragsabweisenden Sinn.
Die anderen Verfahrensparteien haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, und im Sinn der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.
Der Revisionsrekurswerber beruft sich darauf, dass - nach der VO 859/2003 - die VO 1408/71 (zwar) auch für Drittstaatsangehörige gelte, sobald sie sich legal auf dem Territorium eines Mitgliedstaats aufhalten und legal innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Damit seien sie EU-Bürgern aber nicht generell gleichgestellt, sondern nur in Bezug auf grenzüberschreitende Bewegungen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten, wodurch ein Bezug zu zumindest zwei Mitgliedsstaaten hergestellt werde. Die Begünstigung betreffe im Wesentlichen das „Mitnehmen“ von Ansprüchen bei Wanderungen innerhalb der Gemeinschaft. Gemäß § 2 Abs 1 UVG habe die Minderjährige - als Drittstaatsangehörige bei reinem Inlandsbezug - keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse. Daran könne die „Wanderung“ des Unterhaltsschuldners von Österreich nach Deutschland nichts ändern. Es handle sich dabei nämlich um kein „Mitnehmen“ von Ansprüchen bei Wanderung innerhalb der Gemeinschaft.
Der erkennende Senat hat dazu erwogen:
1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder einen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.
Diese Norm, nach deren Wortlaut ein Vorschussanspruch der Antragstellerin zu verneinen wäre, wird allerdings durch gemeinschaftsrechtliche Normen überlagert, insbesondere die Verordnung (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) samt Durchführungs-Verordnung (EWG) 574/72 sowie die Verordnung (EG) 859/2003, die die Geltung der Wanderarbeitnehmerverordnung unter bestimmten Voraussetzungen auf Drittstaatsangehörige erweitert (jüngst: 10 Ob 9/10m mwN).
2. Nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können grundsätzlich beide Elternteile den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach der VO 1408/71 vermitteln.
2.1. Für die Anspruchsberechtigung nach der Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 (im Folgenden: „VO“) ist also neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige) fällt.
2.2. Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden. Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann dadurch zustande kommen, dass der Unterhaltsschuldner oder der Elternteil, bei dem sich das Kind aufhält, von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist (10 Ob 6/10w).
Hier könnte der grenzüberschreitende Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat also darin bestehen, dass der Vater als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder als Selbständiger zunächst in Österreich und dann in Deutschland in das System der sozialen Sicherheit eingebunden war/ist.
2.3. Schließlich ist zu prüfen, ob für die begehrte Familienleistung nach den Koordinierungsregeln der VO die österreichische Leistungszuständigkeit besteht.
2.3.1. Abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen unterliegen Personen, für die die VO gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 13 Abs 1 der VO); dieser ist nach Titel II der VO zu bestimmen. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staats (Beschäftigungslandprinzip, Art 13 Abs 2 lit a der VO).
2.3.2. Grundsätzlich ist das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO begründet. Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners ist den Koordinierungsregelungen der VO nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem derjenige Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.
2.3.3. Daraus ist zu folgern, dass auch dann, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Recht seines Beschäftigungsstaats vermittelt, nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Anspruch auf Vorschüsse in einem anderen Mitgliedstaat durch den betreuenden Elternteil vermittelt wird. Für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats nicht von einer Berufstätigkeit abhängen und für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen bestehen kann, ist in Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen normiert (Wohnortstaatprinzip; Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 73 Rz 2). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind.
3. Zur Anspruchsberechtigung von drittstaatsangehörigen Kindern wurde vom Obersten Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen, dass diese bei reinem Inlandsbezug nicht in den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 und der VO 574/72 fallen, weshalb sie keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss im Inland haben (jüngst: 10 Ob 6/10w und 10 Ob 9/10m; RIS-Justiz RS0119548).
3.1. Soweit - wie hier - kein besonderes bilaterales Abkommen anzuwenden ist, unterliegen Familienmitglieder von Drittstaatsangehörigen nach Art 1 der VO (EG) 859/2003 (bei Erfüllung der unter 2. genannten Voraussetzungen) dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 VO (EWG) 1408/71, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation zumindest mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Österreich hat darüber hinaus im Anhang zur VO (EG) 859/2003 den Anspruch auf Familienleistungen (und damit auch für Unterhaltsvorschüsse) für Drittstaatsangehörige davon abhängig gemacht, dass diese die Voraussetzungen des österreichischen Rechts für einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfe erfüllen (10 Ob 9/10m; 10 Ob 6/10w mit Hinweis auf: Spiegel, Familienleistungen aus der Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [106 f]; Felten/Neumayr, Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, iFamZ 2009, 362 [364]).
3.2. Wie bereits unter 3. erwähnt, ist nach der Rechtsprechung kein österreichischer Unterhaltsvorschuss zu gewähren, wenn das Kind und beide Elternteile Staatsbürger eines Drittstaats sind und sowohl das Kind als auch beide Elternteile ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Österreich haben, sei es von Geburt an oder aufgrund direkten Zuzugs aus dem Drittstaat. In diesem Fall fehlt es nämlich am (Wanderarbeitnehmer-)Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat, der erst den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 859/2003 eröffnen würde.
Nimmt hingegen ein drittstaatsangehöriger Elternteil, der in Österreich als Arbeitnehmer oder Selbständiger beschäftigt war, eine (un-)selbständige Tätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat auf, so ist für diese Person und ihre Familienangehörigen die VO 1408/71 beachtlich (Art 1 der VO 859/2003). Das gilt im Hinblick auf § 2 Abs 1 UVG insbesondere auch für das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 der VO 1408/71. Gibt also der montenegrinische Vater eines antragstellenden Kindes seine Beschäftigung in Österreich auf, um eine Stelle in Deutschland anzunehmen, so sind für die Frage des Anspruchs auf österreichischen Unterhaltsvorschuss die Bestimmungen der VO 1408/71 zu beachten. Dem Kind darf also in dieser Konstellation - entgegen der Ansicht des Rechtsmittelwerbers - der Unterhaltsvorschuss grundsätzlich nicht wegen seiner Staatsangehörigkeit verweigert werden, sofern (entsprechend dem Anhang zur VO 859/2003) ein dauerhafter Anspruch auf Familienbeihilfe nach österreichischem Recht besteht (10 Ob 6/10w).
3.3. Für die Beurteilung der Leistungszuständigkeit sind die Kollisionsregeln der VO 1408/71 und der VO 574/72 zu beachten. Da sich gemäß Art 10 der VO 574/72 das anzuwendende Recht primär nach dem Beschäftigungsstaat richtet, ist in einem Fall wie dem unter 3.2. dargestellten in erster Linie Unterhaltsvorschuss nach deutschem Recht zu gewähren (auch in Deutschland ist die Ausnahme im Anhang zur VO 859/2003 zu beachten).
3.4. Sodann ist die Frage zu beantworten, ob sich diese Prioritätenregel zu Gunsten des Wohnsitzstaats umkehrt (Art 10 Abs 1 lit b sublit i VO 574/72), wenn der andere ebenfalls drittstaatsangehörige Elternteil einer Erwerbstätigkeit in Österreich nachgeht. Der nunmehrigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs folgend (siehe oben 2.) können grundsätzlich beide Elternteile den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach der VO 1408/71 vermitteln. Voraussetzung ist freilich, dass beide Elternteile auch den persönlichen Anwendungsbereich der VO erfüllen, indem sie (aktiver oder inaktiver) Arbeitnehmer oder Selbständiger sind (10 Ob 6/10w).
Nach Art 1 der VO 859/2003 ist die VO 1408/71 auf Drittstaatsangehörige sowie ihre Familienmitglieder anzuwenden, „wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist“. Aus dieser Formulierung („sie“) geht nicht eindeutig hervor, ob das grenzüberschreitende Sachverhaltselement auch in Bezug auf die Familienmitglieder in ihrer eigenen Person gegeben sein muss. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur VO 1408/71, wonach es ausreicht, dass der grenzüberschreitende Sachverhalt durch einen Familienangehörigen herbeigeführt wird (etwa EuGH 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205), wird man es - insbesondere in Anbetracht der sich aus den Erwägungsgründen der VO 859/2003 ergebenden Zielsetzung der Gleichbehandlung von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen - auch im Anwendungsbereich der VO 859/2003 als ausreichendes Bezugselement zu einem anderen Mitgliedstaat erachten müssen, dass der Vater als Wanderarbeitnehmer eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommen hat (siehe 1 Ob 171/05m, iFamZ 2006/3, 13 [Neumayr] = Zak 2006/267, 155 [Neuhauser 143]). Aus diesem Grund ist ein Anspruch auf österreichischen Unterhaltsvorschuss gemäß Art 1 der VO 859/2003 iVm Art 3 der VO 1408/71 zu bejahen, wenn die drittstaatsangehörige Mutter einer Beschäftigung in Österreich nachgeht (ebenso Spiegel, Familienleistungen, in Mazal, Die Familie im Sozialrecht 89 [107]), während der drittstaatsangehörige Vater als Wanderarbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat zur Arbeitsaufnahme gewechselt ist (10 Ob 6/10w).
4. Für den vorliegenden Fall ist daraus abzuleiten, dass für das Kind die Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse in Betracht kommt, wenn (kumulativ)
- der früher in Österreich tätige drittstaatsangehörige Vater als Wanderarbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat gewechselt ist, um dort eine unselbständige oder selbständige Beschäftigung aufzunehmen,
- die drittstaatsangehörige Mutter im beantragten Gewährungszeitraum in Österreich als Arbeitnehmerin im Sinn der VO 1408/71 anzusehen ist
- nach österreichischem Recht in diesem Zeitraum ein dauerhafter Anspruch auf Familienbeihilfe für die in Österreich lebenden Kinder besteht (10 Ob 6/10w).
5. Die letzten beiden Voraussetzungen sind hier jedenfalls erfüllt:
5.1. In den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 fallen nach Art 2 Abs 1 Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Der persönliche Anwendungsbereich nach Art 2 VO 1408/71 ist daher eröffnet, wenn der Antragsteller als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers, Selbständigen oder Studierenden anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH und des Obersten Gerichtshofs fällt somit eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i VO 1408/71 ist, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (10 Ob 9/10m; 10 Ob 48/09w ua; RIS-Justiz RS0116311).
5.2. Der Begriff des „Arbeitnehmers“ wird in Art 1 lit a Z i VO 1408/71 näher definiert. Danach besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne dieser Verordnung, wenn sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Dieser Begriff setzt nicht eine umfassende Vollversicherung voraus, vielmehr genügt schon die Pflichtversicherung gegen ein Risiko zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft. Aus diesem Grund sind auch die Bezieher von Kinderbetreuungsgeld, die gemäß § 28 Abs 1 KBGG in der gesetzlichen Krankenversicherung teilversichert (§ 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG) sind, vom persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 erfasst (vgl zuletzt 10 Ob 13/09y). Sie fallen in den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 und vermitteln daher nach dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 dieser Verordnung ihren Kindern als ihren Familienangehörigen auch einen Unterhaltsvorschussanspruch nach § 4 Z 3 UVG (10 Ob 9/10m).
Demnach kann ungeprüft bleiben, ob die Mutter im für die gewährten Unterhaltsvorschüsse relevanten Zeitraum noch Kinderbetreuungsgeld bezog oder bereits wieder unselbständig beschäftigt war.
5.3. Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden (10 Ob 9/10m mwN).
5.4. Zur Anspruchsberechtigung von drittstaatsangehörigen Kindern wurde vom Obersten Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen, dass diese bei reinem Inlandsbezug nicht in den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 und der VO 574/72 fallen, weshalb sie in diesem Fall keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse im Inland haben (vgl RIS-Justiz RS0119548). Es ist daher nach der Rechtsprechung kein österreichischer Unterhaltsvorschuss zu gewähren, wenn [bzw solange] das Kind und beide Elternteile Staatsbürger eines Drittstaats sind und sowohl das Kind als auch beide Elternteile ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Österreich haben, sei es von Geburt an oder aufgrund direkten Zuzugs aus dem Drittstaat. In diesem Fall fehlt es nämlich am (Wanderarbeitnehmer-)Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat, der erst den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 859/2003 eröffnen würde (10 Ob 6/10w mwN). Mit dieser Verordnung werden somit Drittstaatsangehörige nicht EU- bzw EWR-Bürgern generell gleichgestellt, sondern nur in Bezug auf grenzüberschreitende Bewegungen innerhalb der EU- bzw EWR-Mitgliedstaaten (jüngst: 10 Ob 9/10m mit Hinweis auf Neumayr in Schwimann I3 § 1 UVG Rz 38 mwN).
6. Wie im letztgenannten Fall fehlt dem Begehren auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch hier die Grundlage, soweit der Anspruch auf die Familienleistung von der Mutter der Antragstellerin abgeleitet wird: Sowohl die Antragstellerin als auch ihre Mutter sind Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina, also eines Drittstaats. Auf die Bestimmungen der VO 859/2003 kann sich die Antragstellerin im Hinblick darauf, dass durch ihre Mutter nur eine Verbindung zu einem Drittstaat und einem Mitgliedstaat, nämlich ausschließlich Österreich, besteht, aber nicht berufen (10 Ob 9/10m mwN); fehlt es doch insoweit am (Wanderarbeitnehmer-)Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat, der erst den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 859/2003 eröffnen würde (10 Ob 6/10w).
6.1. Es ist daher zu prüfen, ob die Antragstellerin einen Unterhaltsvorschussanspruch aus der Rechtsstellung ihres Vaters ableiten kann, der als Montenegriner ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist. Insoweit könnte - wie bereits dargelegt - der grenzüberschreitende Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat darin bestehen, dass der Vater als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder als Selbständiger zunächst in Österreich und dann in Deutschland in das System der sozialen Sicherheit eingebunden war/ist. In diesem Zusammenhang steht jedoch nur fest, dass der Vater seinen Wohnsitz nicht (mehr) in Österreich hat. Ob auch davon auszugehen ist, dass er als „Arbeitnehmer“ iSd VO 1408/71 von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und von Österreich nach Deutschland „gewandert“ ist, wurde nicht geprüft.
6.2. Das Verfahren ist ergänzungsbedürftig, weil es an weiteren Feststellungen zum ersten unter Punkt 4. genannten Element fehlt; nämlich zur Beurteilung der Frage, ob der (allenfalls) früher in Österreich tätige drittstaatsangehörige Vater als Wanderarbeitnehmer nach Deutschland, also in einen anderen Mitgliedstaat gewechselt ist, um dort eine unselbständige oder selbständige Beschäftigung aufzunehmen. Daher ist eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und Zurückverweisung der Pflegschaftssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung unumgänglich.
Dem Revisionsrekurs ist Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.
Schlagworte
Unterhaltsrecht,EuroparechtTextnummer
E93612European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0100OB00012.10B.0323.000Im RIS seit
20.05.2010Zuletzt aktualisiert am
20.03.2012