Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 23. März 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Gotsmy als Schriftführer, in der Strafsache gegen Franz O***** wegen des Vergehens der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB, AZ 3 U 196/09m des Bezirksgerichts Kufstein, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom 20. Oktober 2009, AZ 21 Bl 318/09m (ON 9 der U-Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wachberger, zu Recht erkannt:
Spruch
Im Verfahren AZ 3 U 196/09m des Bezirksgerichts Kufstein verletzt der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom 20. Oktober 2009, AZ 21 Bl 318/09m (ON 9 der U-Akten), §§ 2 Abs 2, 232 Abs 2, 254 Abs 2 StPO iVm §§ 110 Abs 1 Z 1, 210 Abs 3 StPO.
Text
Gründe:
Mit beim Bezirksgericht Kufstein eingebrachtem Strafantrag vom 25. Juni 2009 (75 BAZ 1508/09m; ON 3 der Akten AZ/ 3 U 196/09m des Bezirksgerichts Kufstein) legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck Franz O***** das Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB zur Last, weil er zwischen 1. und 30. April 2009 in W***** dadurch, dass er „in Gegenwart (unter Verwendung einer Webcam)“ der am 25. Oktober 1996 geborenen, mithin unmündigen Nadja T***** sein „erregtes Geschlechtsteil“ entblößte, vor einer unmündigen Person eine Handlung vorgenommen habe, die geeignet war, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter 16 Jahren zu gefährden, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen.
Franz O***** war am 17. Juni 2009 von der Polizeiinspektion W***** als Beschuldigter zu diesem Verdacht vernommen worden. Er hatte die Tatbegehung bestritten, jedoch angegeben, seit über fünf Jahren über MSN im Internet zu „chatten“; seit Herbst 2008 verwende er dazu seinen mit einer Webcam ausgestatteten Laptop. Diesen hatte er den Beamten in seiner Wohnung gezeigt. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens war das elektronische Gerät im Besitz des Beschuldigten verblieben, die Polizei hatte jedoch um dessen Sicherstellung aus Beweisgründen ersucht (ON 2).
Mit Beschluss vom 9. Juli 2009 (ON 4) ordnete das Bezirksgericht Kufstein gemäß § 110 Abs 1 Z 1 StPO die Sicherstellung des in der Wohnung des Franz O***** befindlichen und von dem Genannten verwendeten, mit einer integrierten Webcam ausgestatteten Laptops an und beauftragte die Polizeiinspektion W***** mit der Durchführung dieser Anordnung sowie der anschließenden Übermittlung dieses Datenträgers an das Landeskriminalamt für Tirol, welches die Anweisung erhielt, die auf den Festplatten befindlichen Daten auszuwerten.
Zur Begründung wurde ua ausgeführt, dass nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen Franz O***** die vorgeworfene Tat unter Verwendung seines Laptops begangen habe und die Sicherstellung dieses Datenträgers sowie die Auswertung und Rekonstruktion der darauf befindlichen Daten, insbesondere solche betreffend Internetkontakte („Chat“) und Aufnahmen der Webcam, für die weitere Untersuchung des Sachverhalts von wesentlicher Bedeutung seien.
Der dagegen vom Angeklagten erhobenen Beschwerde (ON 7) gab das Landesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 20. Oktober 2009, AZ 21 Bl 318/09m (ON 9 der U-Akten), dahin Folge, dass es den angefochtenen Beschluss aufhob und dem Erstgericht die Rückgabe des sichergestellten Laptops „samt Daten“ an den Angeklagten auftrug. Die Beschwerde sei nämlich insofern im Recht, als sie anzweifle, dass die angeordnete Sicherstellung Beweiszwecken dienen könne. Da die sofortige Sicherstellung des Laptops im Ermittlungsverfahren unterblieben sei und der Angeklagte spätestens seit seiner Einvernahme am 17. Juni 2009 von dem wider ihn erhobenen Vorwurf in Kenntnis sei, handle es sich bei der - drei Wochen später - angeordneten Sicherstellung um eine im Hauptverfahren unzulässige Erkundung darüber, ob auf dem Laptop noch relevante Daten in Bezug auf die vorgeworfene Tat zu finden seien. Das Erstgericht habe „nicht gemäß § 55 Abs 1 StPO dargelegt, aufgrund welcher konkreten Umstände anzunehmen“ sei, „dass drei Wochen nach der Einvernahme des Angeklagten das angestrebte Ergebnis (noch) zu erwarten“ sei. „Die Begründung“ müsse „umso eingehender sein, je fraglicher die Brauchbarkeit des geforderten Verfahrensschrittes im Lichte der übrigen Verfahrensergebnisse“ sei.
Rechtliche Beurteilung
Diese Entscheidung des Beschwerdegerichts steht - wie die Generalprokuratur (§ 23 StPO) zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Entsprechend der Grundsatzbestimmung des § 2 Abs 2 StPO hat das Gericht im Hauptverfahren die der Anklage zu Grunde liegende Tat und die Schuld des Angeklagten von Amts wegen aufzuklären. Durch die ihm gemäß §§ 232 Abs 2, 254 StPO eingeräumte diskretionäre Gewalt ist der Vorsitzende (im Verfahren vor dem Bezirksgericht der Einzelrichter, § 447 StPO) ermächtigt, (gerade) auch ohne Antrag der Beteiligten des Verfahrens nicht nur Zeugen und Sachverständige zu laden, sondern ganz allgemein (und auch schon vor der Hauptverhandlung) die Aufnahme von Beweisen anzuordnen, auch wenn dies mit Grundrechtseingriffen verbunden ist (vgl - insbesondere zu den einzelnen Ermittlungsmaßnahmen - Kirchbacher, WK-StPO § 254 Rz 2 ff; Fabrizy, StPO10 § 222 Rz 3).
Entgegen der Ansicht des Landesgerichts Innsbruck ist das erkennende Gericht bei Ausübung der genannten Befugnis nicht an die für die Antragstellung der Beteiligten geltenden Regeln des § 55 Abs 1 StPO gebunden (arg „ohne Antrag der Beteiligten“ in § 254 Abs 1 StPO). Maßgebend ist vielmehr, dass die Beweisaufnahme Aufklärung über erhebliche Tatsachen erwarten lässt (vgl abermals § 254 Abs 1 StPO iVm §§ 2 Abs 2, 232 Abs 2 StPO). Dass das Erstgericht willkürlich von einer solchen Erwartung ausgegangen wäre, hat selbst das Beschwerdegericht nicht angenommen.
Das Bezirksgericht Kufstein hat somit die Sicherstellung des gegenständlichen, vom Angeklagten mutmaßlich zur Tatbegehung verwendeten Geräts sowie die Auswertung des darauf noch gespeicherten bzw rekonstruierbaren Datenmaterials gesetzeskonform (§§ 109 Z 1 lit a, 110 Abs 1 Z 1, 210 Abs 3, 447 StPO) angeordnet.
Der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht, mit welchem dieser Beschluss des Bezirksgerichts Kufstein unter Hinweis auf das Beweisantragsrecht der Beteiligten aufgehoben und die Rückstellung des zwischenzeitig sichergestellten Laptops angeordnet worden ist, verstößt hingegen gegen §§ 2 Abs 2, 232 Abs 2, 254 Abs 2 StPO iVm §§ 110 Abs 1 Z 1, 210 Abs 3 StPO.
Dies war mangels Nachteils für den Angeklagten lediglich festzustellen (§ 292 letzter Satz StPO).
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E93616European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0110OS00022.10K.0323.000Im RIS seit
19.05.2010Zuletzt aktualisiert am
28.01.2013