Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Michael Umfahrer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Michael Kerschbaumer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Deniz S*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Vacarescu, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, Josef Pongratz-Platz 1, 8010 Graz, vertreten durch Destaller Mader Rechtsanwälte in Graz, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Juli 2009, GZ 7 Rs 46/09b-31, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Jänner 2009, GZ 28 Cgs 1/09w-27, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,32 EUR (darin enthalten 61,92 EUR Umsatzsteuer und 1,80 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin und ihr Ehemann Tayyar S***** sind türkische Staatsbürger und verfügen seit 8. September 2005 über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung. Die Klägerin hat am 11. Mai 2006 einen Antrag auf Gewährung von Asyl im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 Abs 1 Z 3 AsylG gestellt. Das Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Der Ehemann der Klägerin hat seit 2003 bei diversen Dienstgebern gearbeitet und ist derzeit in Graz unselbständig erwerbstätig und aufrecht sozialversichert.
Die Klägerin verfügt über eine Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 36b AsylG, ihr Ehemann über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gemäß § 19 AsylG. Die Klägerin ist Hausfrau und hat kein eigenes Einkommen. Sie und ihre am 29. April 2006 geborene Tochter Irem Eda S***** sind bei ihrem Mann bzw Vater Tayyar S***** mitversichert.
Mit der Entscheidung des Unabhängigen Finanzsenats vom 25. März 2008 wurde hinsichtlich der Kinder Berkcam und Taylancan die Familienbeihilfe ab 1. Jänner 2006 gewährt. Die Familienbeihilfe für Irem Eda S***** wurde aufgrund der Mitteilung des Finanzamts Graz-Stadt vom 27. August 2008 für die Zeit von April 2006 bis Februar 2007 und von April 2007 bis Mai 2008 gewährt. Für März 2007 und für den Zeitraum Juni bis Oktober 2008 wurde kein Nachweis für einen Anspruch auf Familienbeihilfe erbracht.
Mit Bescheid der beklagten Steiermärkischen Gebietskrankenkasse vom 27. Juli 2006 wurde der Antrag der Klägerin vom 25. Juli 2006 auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes und des Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld für ihre Tochter Irem Eda, geboren am 29. April 2006, mit der Begründung abgelehnt, dass die Auszahlung von Kinderbetreuungsgeld nur an asylberechtigte Elternteile und für asylberechtigte Kinder erfolgen könne. Es bestehe kein Anspruch für Kinder, die Asylwerber seien bzw ehemalige Asylwerber, deren Asylantrag rechtskräftig abgewiesen worden sei.
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ab der Geburt von Irem Eda S***** (29. April 2006) bis 28. Oktober 2008 das Kinderbetreuungsgeld sowie den Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld zu leisten. Sie beruft sich vor allem darauf, dass ihrem Mann Arbeitnehmereigenschaft im Sinn des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 zukomme. Einem Mitgliedsstaat sei es verboten, den Anspruch eines türkischen Staatsangehörigen, dem er den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet gestattet habe, vom Besitz der Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, wenn Inländer insoweit nur ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedsstaat haben müssten.
Die beklagte Partei wandte ein, dass die Auszahlung von Kinderbetreuungsgeld (unter anderem) nur an asylberechtigte Elternteile für asylberechtigte Kinder erfolgen könne. Der gesetzlich geregelte Ausschluss eines Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld für Asylwerber gelte unabhängig von der Staatsangehörigkeit und treffe damit auch türkische Staatsbürger. Das Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei solle Personen begünstigen, die zur Arbeitssuche bzw Arbeitsaufnahme nach Österreich gekommen seien, nicht jedoch Personen, die aus politischen Gründen ihr Herkunftsland verlassen und als Asylwerber nach Österreich eingereist seien. Die Vertragspartner (EWG und Türkei) hätten demnach Begünstigungen für türkische Wanderarbeitnehmer schaffen wollen, nicht jedoch für türkische Asylwerber, denen bereits aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention besondere Rechte zustünden.
Das Erstgericht wies das Leistungsbegehren mit der Begründung ab, dass die Klägerin nach der anzuwendenden Fassung des § 2 Abs 1 KBGG keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld samt Zuschuss habe, weil sie bis zum Schluss der Verhandlung Asylwerberin ohne Asylstatus gewesen sei und daher keinen Aufenthaltstitel nach dem NAG gehabt habe. Auch wenn sie im Zeitraum April 2006 bis Februar 2007 sowie April 2007 bis Mai 2008 Familienbeihilfe bezogen habe, fehle es an der weiteren kumulativen Voraussetzung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass die beklagte Partei verpflichtet wurde, der Klägerin für ihre Tochter Irem Eda S*****, geboren am 29. April 2006, Kinderbetreuungsgeld vom 29. April 2006 bis 28. Februar 2007 und vom 1. April 2007 bis 31. Mai 2008 im gesetzlichen Ausmaß von 14,53 EUR täglich und einen Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß von 6,06 EUR täglich zu bezahlen.
In seiner ausführlichen, hier sehr verkürzt wiedergegebenen Behandlung der Rechtsrüge verneinte das Berufungsgericht eine Bindung an die Entscheidung des Unabhängigen Finanzsenats betreffend den Familienbeihilfenanspruch für die beiden anderen Kinder der Klägerin.
Mit dem Fremdenrechtspaket 2005 (BGBl I 2005/100) sei die bis dahin unübersichtliche Rechtslage bei den Anspruchsvoraussetzungen für Kinderbetreuungsgeld und Familienbeihilfe für EU-Bürger bzw EU-Bürgerinnen sowie für EWR- und Drittstaatsangehörige an die Systematik des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) angepasst worden. Seit seinem Inkrafttreten hänge der Anspruch sowohl auf Kinderbetreuungsgeld als auch auf Familienbeihilfe für Personen, die nicht österreichische Staatsbürger seien, davon ab, dass sie sich gemäß §§ 8 und 9 NAG legal im Land aufhalten. Die Klägerin und ihr Mann würden sich zwar rechtmäßig in Österreich aufhalten, verfügten aber über keinen Aufenthaltstitel gemäß §§ 8 und 9 NAG. Daher habe die Klägerin nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld. Der geltend gemachte Anspruch sei aber zum Teil berechtigt, weil er im Gemeinschaftsrecht, konkret im Diskriminierungsverbot des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 begründet sei.
Das Assoziationsabkommen der EWG mit der Türkei sei mit 1. Dezember 1964 in Kraft getreten. Sowohl die Bestimmungen des Abkommens als auch die Beschlüsse des Assoziationsrates seien unmittelbar anwendbar, soweit sie eine klare und eindeutige Verpflichtung enthalten, deren Erfüllung oder Erwirkung nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängig sei.
Ziel des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 vom 19. September 1980 (im Folgenden ARB 3/80) sei die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten dahingehend, dass die in der Gemeinschaft beschäftigten türkischen Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen könnten. Der Beschluss knüpfe an die wahrgenommene Freizügigkeit an, ohne türkischen Staatsangehörigen ein Recht auf Freizügigkeit zu verleihen. Nach Art 3 des Beschlusses hätten Personen, die im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnen und für die dieser Beschluss gelte, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats. Trotz Fehlens eines Anpassungsprotokolls sei das Assoziationsabkommen EWG-Türkei seit 1. Jänner 1995 auch für Österreich geltendes Gemeinschaftsrecht. Durch die Rechtsprechung des EuGH sei klargestellt, dass die Bestimmungen des ARB 3/80 unmittelbar anwendbar seien. Im Rahmen des Anwendungsbereichs des ARB 3/80 sei Österreich verpflichtet, sich legal in Österreich aufhaltende türkische Arbeitnehmer wie Unionsbürger zu behandeln. Es sei nicht zulässig, Ansprüche türkischer Arbeitnehmer auf Familienleistungen in Österreich vom Besitz einer Arbeitserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung abhängig zu machen. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld nach dem KBGG sei eine Familienleistung im Sinn der Verordnung (EWG) 1408/71. Unter den Anwendungsbereich des ARB 3/80 würden (nur) Arbeitnehmer und deren Familienangehörige fallen, die im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnen, dies selbst dann, wenn diese Personen einst als Flüchtlinge nach Österreich eingereist seien. Für den Arbeitnehmerbegriff gelte auch hier Art 1 lit a der VO 1408/71. Das Diskriminierungsverbot des Art 3 ARB 3/80 knüpfe nicht an einen Tatbestand der Ausübung der innergemeinschaftlichen Freizügigkeit an. Voraussetzung sei nur, dass ein türkischer Staatsangehöriger in wenigstens einem Mitgliedsstaat gearbeitet habe bzw in ein System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedsstaats einbezogen gewesen sei, und zwar auch dann, wenn er nicht aus seinem Heimatstaat gewandert sei, sondern bereits in diesem Mitgliedsstaat geboren worden sei.
Nach der Rechtsprechung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts und des Bundessozialgerichts sei ein türkischer Staatsangehöriger von der Gleichbehandlungsvorschrift des Art 3 Abs 1 in Verbindung mit Art 2 ARB 3/80 erfasst, wenn er direkt aus der Türkei in einen Mitgliedsstaat der Union eingereist sei, um hier erfolgreich um Asyl anzusuchen. Die türkische Staatsangehörigkeit des Anspruchswerbers sei ein ausreichendes Element für die Begründung des grenzüberschreitenden Bezugs.
Konsequenterweise sei davon auszugehen, dass der Anspruch der Klägerin, die in den Anwendungsbereich des ARB 3/80 falle, im Unionsrecht für jene Zeiträume begründet sei, in denen sie Familienbeihilfe bezogen habe.
Soweit die beklagte Partei damit argumentiere, dass vom Assoziationsabkommen nur Personen begünstigt werden sollten, die zur Arbeitssuche nach Österreich gekommen seien, nicht hingegen Personen, die aus politischen Gründen ihr Herkunftsland verlassen hätten, sei dem die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Kooperationsabkommen mit Marokko entgegenzuhalten, wonach es nur darauf ankomme, ob der marokkanische Staatsangehörige Arbeitnehmer sei. Selbst wenn Marokko bei Abschluss des Kooperationsabkommens kein Interesse an der sozialrechtlichen Gleichstellung von Personen gehabt haben sollte, die nicht als Wanderarbeitnehmer mit Wissen und Wollen der beteiligten Staaten, sondern als Flüchtlinge oder Asylsuchende Marokko verlassen, um in einem Mitgliedsstaat Arbeit zu suchen, sei dies für die Auslegung des Abkommens irrelevant, weil ein solches Desinteresse im Vertragstext keinen Niederschlag gefunden habe. Das Berufungsgericht schließe sich dieser Meinung an.
Insgesamt sei der Klägerin das begehrte Kinderbetreuungsgeld und der Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld für jene Zeiträume zuzuerkennen, für die sie Familienbeihilfe bezogen habe.
Die Revision sei zulässig, weil der Rechtsfrage des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld einer türkischen Asylwerberin Bedeutung über den vorliegenden Fall hinaus zukomme.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im klagsabweisenden Sinn abzuändern.
Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.
Die Revisionswerberin macht im Wesentlichen geltend, dass der Klägerin der ARB 3/80 nicht zugute komme, zumal die Gemeinschaft (nun Union) zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Assoziationsabkommens und der Erlassung der Beschlüsse des Assoziationsrates keine Kompetenz im Bereich der Asylpolitik gehabt habe (eine solche komme der Gemeinschaft bzw Union erst seit 1997 zu), weshalb keine Möglichkeit bestanden habe, türkische Asylwerber vom Anwendungsbereich auszuschließen. Jedenfalls habe kein Wille der Vertragsparteien bestanden, türkischen Asylwerbern mehr Rechte zuzugestehen als Asylwerbern anderer Staatsangehörigkeit; insoweit sei auch die vom Berufungsgericht zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts zum Kooperationsabkommen mit Marokko verfehlt. Mit dem ARB 3/80 seien Begünstigungen (nur) für türkische Wanderarbeitnehmer geschaffen worden, nicht jedoch für türkische Asylwerber, denen bereits aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention besondere Rechte zustünden. Es könne weder angenommen werden, dass die Türkei Personen, die nicht als Wanderarbeitnehmer, sondern wegen Verfolgung das Land verlassen, einen besonderen Status verleihen habe wollen, noch dass Österreich türkischen Asylwerbern während eines noch nicht abgeschlossenen Asylverfahrens über eine beschränkte Ermöglichung der Beschäftigung zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht durch die Hintertür des Assoziationsabkommens verhelfen habe wollen. Türkische Asylwerber in einem laufenden Asylverfahren seien demnach vom Anwendungsbereich des Assoziationsabkommens ausgenommen und unterlägen hinsichtlich des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld ausschließlich nationalen Rechtsvorschriften. Aufgrund ihres Sonderstatus seien sie nicht türkischen Staatsbürgern mit anerkanntem Flüchtlingsstatus gleichgestellt. Damit sei auch eine Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern ausgeschlossen; der Asylwerberstatus sei vorrangig. Im Übrigen könne die Klägerin Ansprüche aus dem ARB 3/80 nur vom arbeitenden Ehemann ableiten. Nicht einmal dann, wenn sie mit einem Österreicher verheiratet wäre, hätte sie Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.
Letztlich sei anzumerken, dass eine gegenteilige Rechtsansicht den Missbrauch des Asylrechts und eine Umgehung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen nach sich ziehen würde. Türkische Staatsbürger, die die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllten und daher vom Assoziationsabkommen nicht erfasst seien, könnten über den Weg des Asylrechts nach Österreich kommen, um dann mit einer später erlangten befristeten Beschäftigung in den Anwendungsbereich des Assoziationsabkommens zu gelangen, um davon wiederum ein Aufenthaltsrecht in Österreich abzuleiten. Personen wie die Klägerin, deren Mann und deren Kinder, die nicht als Arbeitnehmer, sondern als Asylwerber nach Österreich einreisen und sich hier als solche aufhalten, die Anspruch auf Grundversorgung in Österreich haben und denen es in eingeschränkter Weise erlaubt sei zu arbeiten, würden vom Assoziationsabkommen EWG-Türkei und damit vom Regelungsgehalt des ARB 3/80 nicht erfasst.
Demgegenüber steht die Klägerin in ihrer Revisionsbeantwortung nach wie vor auf dem Standpunkt, dass auf sie (als Ehegattin eines in Österreich beschäftigten Arbeitnehmers) das Diskriminierungsverbot nach Art 3 Abs 1 des ARB 3/80 trotz des offenen Asylverfahrens unmittelbare Anwendung finde; angesichts dessen könnten die nationalen Begriffsdefinitionen in § 8 und § 9 NAG nicht zum Ausschluss der Anspruchsberechtigung auf Kinderbetreuungsgeld führen.
Dazu hat der Senat erwogen:
Grundsätzlich kann auf die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts verwiesen werden (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).
Ergänzend ist hinzuzufügen:
1. Im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 4. Mai 1999, Rs C-262/96, Sürül, Slg 1999, I-2685 (Rn 62-74), besteht Übereinstimmung darüber, dass dem Art 3 des ARB 3/80 unmittelbare Wirkung zukommt und dass sich folglich die Bürger, für die er gilt, vor den Gerichten der Mitgliedsstaaten darauf berufen können. Daher greift die von Art 3 des ARB 3/80 vorgesehene Rechtsfolge auch betreffend den Anspruch der Klägerin ein, falls für sie der persönliche und der sachliche Geltungsbereich des Beschlusses zu bejahen sind.
2. Zum persönlichen Geltungsbereich des ARB 3/80:
2.1. Nach seinem Art 2 gilt der ARB 3/80 für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind und für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, sofern sie im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnen sowie für Hinterbliebene dieser Arbeitnehmer. In der schon genannten Entscheidung in der Rs Sürül (Rn 84) hat der EuGH ausgesprochen, dass sich die Definition des persönlichen Geltungsbereichs des ARB 3/80 an die Definition der Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Selbständige“ in Art 2 Abs 1 der VO (EWG) 1408/71 anlehnt (ebenso 10 Ob 14/09w); dieser Status als Arbeitnehmer oder Selbständiger ist wiederum aus der Mitgliedschaft in einem Sozialversicherungssystem abzuleiten.
2.2. Eine weitere Voraussetzung ist die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats; daneben werden auch noch Staatenlose und (anerkannte) Flüchtlinge erfasst, die im Gebiet der Mitgliedsstaaten wohnen.
2.3. Der EuGH hat in der erwähnten Entscheidung in der Rs Sürül den persönlichen Anwendungsbereich in einem Fall bejaht, in dem die dortige Klägerin und ihr Ehemann nicht als Wanderarbeitnehmer eingereist waren; vielmehr war dem Ehemann der Klägerin die Einreise nach Deutschland zur Aufnahme eines Studiums gestattet worden und die Klägerin erhielt eine Genehmigung, im Wege der Familienzusammenführung zu ihrem Ehemann nach Deutschland zu ziehen.
2.4. Zur Frage, ob auch Asylwerber, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, vom persönlichen Geltungsbereich des ARB Nr 3/80 erfasst sind, gibt es folgende nationale Rechtsprechung:
2.4.1. In seinem den Anspruch auf Notstandshilfe betreffenden Erkenntnis 2005/08/0019 bejahte der Verwaltungsgerichtshof die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots des Art 3 Abs 1 ARB 3/80 im Fall eines Asylwerbers, dessen Asylverfahren noch nicht abgeschlossen war und der sich im fraglichen Zeitraum seines potenziellen Anspruchs auf Arbeitslosengeld rechtmäßig in Österreich aufhielt. Anzumerken ist, dass der UFS Linz (UFS Linz 12. 04. 2007, RV/0662-L/06; UFS Linz 12. 04. 2007, RV/1024-L/06; UFS Linz 01. 08. 2008, RV/0433-L/07) nicht dem Verwaltungsgerichtshof gefolgt ist und mehrfach ausgesprochen hat, dass das ARB 3/80 auf türkische Staatsbürger, die Asylwerber in Österreich sind und deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, nicht anwendbar sei, weil dieser Beschluss die Freizügigkeit von Arbeitnehmern behandle und nicht für Personen gedacht sei, die vor der Türkei internationalen Schutz begehren.
2.4.2. Nach der in einem Verfahren über den Antrag auf Gewährung von Landeserziehungsgeld geäußerten Ansicht des deutschen Bundesverwaltungsgerichts (6. 12. 2001, 3 C 25/01, NVwZ 2002, 864) knüpft Art 2 ARB 3/80 den persönlichen Geltungsbereich allein an die türkische Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers. Aus der Gesamtheit der Bestimmungen des Assoziierungsrechts sei weder ein geschriebener noch ein ungeschriebener Vorbehalt des Inhalts zu entnehmen, dass die vereinbarten Vergünstigungen und der gewährte Schutz für die türkischen Staatsangehörigen angesichts einer Asylberechtigung in einem Mitgliedsstaat gegenstandslos würden.
In dieser Entscheidung leitet das BVerwG aus der EuGH-Rechtsprechung in der Rs Sürül ab, dass es unbeachtlich sei, ob der türkische Staatsangehörige als Arbeitnehmer nach Deutschland eingereist sei oder diese Eigenschaft erst nach seiner Einreise begründet habe.
Auch für das Assoziationsabkommen EG-Marokko hat das BVerwG im Urteil vom 1. 7. 2003, 1 C 18/02, NVwZ 2004, 241, ausgesprochen, dass die Einreise nicht bereits als Wanderarbeitnehmer erfolgen müsse, sondern dass die Einreise als Asylbewerber ausreiche. Entscheidend sei, dass der marokkanische Staatsangehörige im Zeitpunkt der Geltendmachung seiner Rechte sich legal in dem Mitgliedsstaat aufhalte und als Arbeitnehmer beschäftigt sei. Dabei bezog sich das BVerwG auf die Rechtsprechung des EuGH zum ARB 1/80 (EuGH 2. 3. 1999, Rs C-416/96, El-Yassini, Slg 1999 I-1209): In dem zugrunde liegenden Fall war der marokkanische Arbeitnehmer ebenfalls nicht als Wanderarbeitnehmer, sondern mit einem Besuchervisum in das Vereinigte Königreich eingereist; erst später war ihm aufgrund der Eheschließung mit einer britischen Staatsbürgerin der weitere Aufenthalt sowie die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt worden.
2.4.3. In seiner Entscheidung vom 29. 1. 2002, B 10 EG-5/01R, hat das deutsche Bundessozialgericht ausgesprochen, dass Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, die im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnen, unter den Anwendungsbereich des Kooperationsabkommens zwischen der EWG und dem Königreich Marokko fallen, selbst wenn sie einst als Flüchtlinge in den Mitgliedsstaat eingereist sind. Entscheidend sei nur, ob der marokkanische Staatsangehörige Arbeitnehmer sei. Selbst wenn Marokko bei Abschluss des Kooperationsabkommens kein Interesse an der sozialrechtlichen Gleichstellung von Personen gehabt haben sollte, die nicht Wanderarbeitnehmer, sondern als Flüchtlinge oder Asylsuchende Marokko verlassen, um in einem Mitgliedsstaat der EG Arbeit zu suchen, sei dies für die Auslegung des Abkommens nicht relevant, weil ein solches Desinteresse im Vertragstext keinen Niederschlag gefunden habe.
2.5. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass es nach der dargestellten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs und in vergleichbarer Weise des deutschen Bundesverwaltungsgerichts und des Bundessozialgerichts für den persönlichen Anwendungsbereich des ARB 3/80 ohne Belang ist, ob der türkische Staatsangehörige als Wanderarbeitnehmer nach Österreich eingereist ist oder als Asylwerber. Folglich ist es auch unbeachtlich, wann der türkische Staatsangehörige die Arbeitnehmereigenschaft in Österreich begründet hat.
Gerade aus der schon mehrmals erwähnten Entscheidung des EuGH in der Rs Sürül ist zu schließen, dass nicht nur solche Personen vom persönlichen Geltungsbereich des ARB 3/80 erfasst sind, die mit einer vorherigen Einreiseerlaubnis in einen Mitgliedsstaat eingereist sind; entscheidend ist vielmehr die rechtmäßige Beschäftigung im Mitgliedsstaat. Haben demnach Asylwerber aufgrund einer ihnen erteilten Arbeitserlaubnis Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt und damit zu den Systemen der sozialen Sicherheit gefunden, unterliegen sie dem Schutz des ARB 3/80.
3. An der Arbeitnehmereigenschaft des Ehemannes der Klägerin ist nicht zu zweifeln.
Dass die Klägerin selbst keine Arbeitnehmerin ist, sondern nur ihr Ehemann, schließt den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht aus. In den Rs C-245/94, Hoever, und Rs C-312/94, Zachow, hat der EuGH am 10. 10. 1996 entschieden, dass der Bezug von Familienleistungen nicht davon abhängt, welcher Familienangehörige nach den nationalen Vorschriften diese Leistung beanspruchen kann. Es ist unerheblich, ob der berechtigte Arbeitnehmer oder Familienangehöriger eines Arbeitnehmers ist. Eine Familienleistung kann dem Ehegatten nicht aufgrund der Unterscheidung zwischen eigenen Rechten des Arbeitnehmers und abgeleiteten Rechten des Familienangehörigen verweigert werden, weil diese Unterscheidung nur maßgebend ist, wenn sich ein Familienangehöriger auf Bestimmungen der VO 1408/71 beruft, die ausschließlich für Arbeitnehmer und nicht für Familienangehörige gelten.
Auch in der Rs Sürül hat der EuGH ausgesprochen, dass die Klägerin für die Zeit, in der sie nicht in einem System der sozialen Sicherheit versichert war, die Rechte geltend machen kann, die sich aus der Eigenschaft eines Familienangehörigen eines Arbeitnehmers iSd ARB 3/80 ergeben, wenn feststeht, dass ihr Ehemann auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit b des ARB 3/80 genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.
Demnach ist der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld zu bejahen, selbst wenn sie persönlich nicht (aufgrund eigener Beschäftigung) in ein System der sozialen Sicherung integriert ist, sondern ihr Ehemann.
4. Zum sachlichen Geltungsbereich des ARB 3/80:
Auch der sachliche Geltungsbereich ist gegeben. Gemäß Art 1 lit a des ARB 3/80 hat der Begriff der Familienleistung dieselbe Bedeutung wie in Art 1 lit u der VO 1408/71. Danach fallen unter den Begriff der Familienleistungen alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art 4 Abs 1 lit h der VO genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, mit Ausnahme von Geburts- oder Adoptionsbeihilfen. Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 erwähnt ebenso wie Art 4 Abs 1 lit h des ARB 3/80 Familienleistungen als eine Leistungsart im Gesamtgefüge der Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit. Es besteht kein Zweifel, dass das Kinderbetreuungsgeld zu den Familienleistungen im Sinn von Art 4 Abs 1 lit h des ARB Nr 3/80 gehört und folglich in dessen sachlichen Geltungsbereich fällt (vgl auch EuGH 7. 6. 2005, Rs C-543/03, Dodl und Oberhollenzer).
5. Im Ergebnis sind demnach der persönliche und der sachliche Geltungsbereich des ARB 3/80 gegeben. Infolge seiner unmittelbaren Anwendbarkeit kann sich die Klägerin auf das Diskriminierungsverbot des Art 3 des ARB Nr 3/80 stützen. Demnach ist der Revision der beklagten Partei nicht Folge zu geben.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Die Kostenbemessungsgrundlage beträgt 3.600 EUR (§ 77 Abs 2 ASGG).
Schlagworte
12 Sozialrechtssachen,EuroparechtTextnummer
E94017European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:010OBS00168.09T.0504.000Im RIS seit
27.06.2010Zuletzt aktualisiert am
24.04.2013