Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Mai 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Stuhl als Schriftführerin in der Strafsache gegen Günter K***** wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 28. Jänner 2010, GZ 034 Hv 47/09t-36, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
G r ü n d e :
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Günter K***** jeweils mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (I) und Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (II) schuldig erkannt.
Danach hat er in der Zeit vom Jahr 2003 bis zum 1. Mai 2005 in mehrfachen Angriffen
(I) außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen
1) an der am 13. Dezember 1993 geborenen Samanta Ko***** vorgenommen, indem er seinen Penis an ihrer Scheide rieb, sie im Bereich der Schamlippen leckte und ihre Scheide sowie ihre Brüste betastete, und
2) von der Genannten an sich vornehmen lassen, indem er sie veranlasste, seinen Penis zu reiben, weiters
(II) durch die zu I beschriebenen Taten
1) mit einer minderjährigen Person, die seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen und
2) von ihr an sich vornehmen lassen.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus Z 3, 5, 5a und (richtig:) 9 lit a des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist im Recht.
Die Verfahrensrüge (Z 3) zeigt zutreffend auf, dass nach der Aktenlage die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs 1 Z 2 StPO ausgeschlossen (ON 35 S 5) und anlässlich der Verkündung des Urteils nicht wiederhergestellt (ON 35 S 75) worden ist.
In Umsetzung der diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Vorgaben (Art 90 Abs 1 B-VG, Art 6 Abs 1 MRK) normiert § 228 Abs 1 StPO, dass die Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit öffentlich ist. Aus Sicht der Verfassung prinzipiell zulässige (Art 90 Abs 1 zweiter Satz B-VG, Art 6 Abs 1 zweiter Satz MRK) Ausnahmen von diesem Grundsatz enthält § 229 Abs 1 StPO, wobei die Verkündung des Urteils - unabhängig vom allfälligen Vorliegen der Voraussetzungen des Ausschlusses der Öffentlichkeit - gemäß § 229 Abs 4 StPO stets in öffentlicher Sitzung zu erfolgen hat (vgl auch Art 6 Abs 1 zweiter Satz MRK).
Wenngleich § 257 StPO die Urteilsfällung nach dem Schluss der „Verhandlung“ vorsieht und § 268 StPO nur von der Urteilsverkündung in öffentlicher „Sitzung“ spricht, bezieht der Oberste Gerichtshof die auf die Hauptverhandlung zielenden nichtigkeitsbewehrten Verfahrensgarantien auch auf die Urteilsverkündung (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 150). Demgemäß ist die zwingende gesetzliche Anordnung des § 229 Abs 4 StPO dahin zu verstehen, dass deren Verletzung als Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der „Hauptverhandlung“ zu sehen ist und solcherart Urteilsnichtigkeit nach § 228 Abs 1 StPO zur Folge hat.
Zu dieser Sicht führt im Übrigen schon die verfassungskonforme Interpretation der §§ 228 f StPO, weil andernfalls die grundrechtliche Garantie der öffentlichen Urteilsverkündung (Art 6 Abs 1 zweiter Satz MRK) im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren nicht durchsetzbar wäre.
Aufgrund der dargelegten Gesetzesverletzung war der Nichtigkeitsbeschwerde schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort Folge zu geben (§ 285e StPO).
Ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen erübrigt sich daher.
Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die Urteilskassation zu verweisen.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E94113European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0140OS00055.10K.0518.000Im RIS seit
08.07.2010Zuletzt aktualisiert am
23.09.2010