TE OGH 2010/6/1 10ObS10/10h

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Veröffentlicht am 01.06.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Georg Eberl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Doris H*****, vertreten durch den Sachwalter Dr. Herbert Kaspar, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, Wienerbergstraße 15-19, 1103 Wien, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Anstaltspflege, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. November 2009, GZ 8 Rs 143/09x-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 18. Mai 2009, GZ 17 Cgs 235/08k-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentlichen Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am 25. 1. 1961 geborene Klägerin ist alkoholkrank. Am 23. 9. 2007 wurde sie alkoholisiert auf der Straße vorgefunden und nach Polizeiintervention mit der Rettung in das Krankenhaus Wien-Hietzing gebracht. Dort wurde sie stationär auf der Erstversorgungsabteilung aufgenommen, verweigerte jedoch sämtliche Untersuchungen. Medizinische Interventionen oder Behandlungen sind nicht erfolgt; eine vitale Gefährdung bestand nicht. Am Tag nach der Aufnahme hat die Klägerin im ausgenüchterten Zustand die Abteilung wieder verlassen.

Während des stationären Aufenthalts der Klägerin im Krankenhaus Wien-Hietzing vom 23. 9. bis 24. 9. 2007 wurde keine gezielte Krankenbehandlung durchgeführt; eine solche war auch nicht notwendig.

Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin, die beklagte Wiener Gebietskrankenkasse zu verpflichten, ihr Anstaltspflege im Krankenhaus der Stadt Wien-Hietzing für den Zeitraum vom 23. 9. bis 24. 9. 2007 zu gewähren, ab. In seiner rechtlichen Beurteilung kam das Erstgericht zum Ergebnis, der Krankenhausaufenthalt der Klägerin habe keiner notwendigen Krankenbehandlung, sondern bloß der Ausnüchterung gedient, wobei die Klägerin auch nicht behandlungsbedürftig gewesen sei. Damit liege ein Fall der Asylierung vor, der keinen Anspruch auf Anstaltspflege begründe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Der Ansicht der Klägerin, allein ihre Aufnahme in die Obhut und Pflege der Krankenanstalt stelle eine „Aufnahme zur Krankenbehandlung“ dar und sei damit vom Krankenversicherungsträger zu decken, sei zu entgegnen, dass zwar nach der höchstgerichtlichen Judikatur (10 ObS 99/08v; 10 ObS 75/09s) zur Klärung eines Krankheitsverdachts grundsätzlich ein Anspruch auf Krankenbehandlung bzw Anstaltspflege bestehe. Im vorliegenden Fall stehe jedoch fest, dass die Klägerin in der Erstversorgungsabteilung sämtliche Untersuchungen verweigert habe, weshalb weder medizinische Interventionen noch Behandlungen erfolgt seien, die der Klärung oder Beseitigung eines Krankheitsverdachts dienen hätten können. Eine generelle Verpflichtung der beklagten Partei, die Klägerin unabhängig von Untersuchungen im Zusammenhang mit einem Krankheitsverdacht jedenfalls von den Kosten ihres Krankenhausaufenthalts zu entlasten, bestehe nicht. Allein der Umstand, dass die Klägerin nicht sofort „entlassen“ worden, sondern zur Ausnüchterung einige Stunden lang im Krankenhaus geblieben sei, begründe noch keine Verpflichtung der beklagten Partei, für die dadurch entstandenen Kosten aufzukommen. Schon von vornherein sei festgestanden, dass der Krankenhausaufenthalt nicht im Zusammenhang mit medizinischer Betreuung erfolgt sei. Von einer die Klägerin einseitig belastenden ex post-Betrachtung könne keine Rede sei.

Die Revision sei nicht zulässig, da keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gemäß § 502 Abs 1 ZPO zu lösen seien.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Gewährung der Anstaltspflege durch Kostenübernahme.

Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klärung der Grenzen der Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers nach § 145 Abs 2 ASVG zulässig; sie ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

In ihrer außerordentlichen Revision macht die Klägerin geltend, dass sie sich mangels eigener Einsichtsfähigkeit nicht gegen eine Untersuchung und Behandlung zur Abklärung des Krankheitsverdachts aussprechen habe können. Eine solche Untersuchung wäre auch gegen ihren Willen „menschwürdig und zumutbar“, sogar geboten gewesen. Diese Abklärung, deren Kosten von der beklagten Partei zu tragen seien, begründe ein Verpflichtungsverhältnis, das „von der Beklagten (der Krankenanstalt)“ nur durch einen formalen Akt im Sinne des § 107 Abs 1 ASVG beendet werden hätte können. Diese Erklärung hätte infolge mangelnder Einsichtsfähigkeit der Klägerin gegenüber dem Sachwalter erfolgen müssen, was aber nicht geschehen sei.

Dazu wurde erwogen:

1. Auszugehen ist davon, dass dann, wenn ein Versicherter bei Alkoholisierung lediglich der Ausnüchterung bedarf, mangels Behandlungsbedürftigkeit der Versicherungsfall der Krankheit zu verneinen ist. In diesem Fall besteht auch kein Leistungsanspruch gegenüber dem Krankenversicherungsträger aus dem Titel der Anstaltspflege, weil der Krankenhausaufenthalt nur die fehlende häusliche Pflege und Obsorge ersetzt und nicht einer erfolgversprechenden Behandlung einer Krankheit dient (vgl RIS-Justiz RS0084002).

2. In den vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen 10 ObS 99/08v (= EF-Z 2009/85, 110 [R. Leitner]) und 10 ObS 75/09s (= RdM-LS 2009/55, 224 [Leischner]) hat der Oberste Gerichtshof in Bezug auf die Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers bei einer der Ausnüchterung bedürftigen Person differenziert: Zunächst besteht ein Anspruch auf Krankenbehandlung bzw Anstaltspflege im Sinn einer Klärung des Krankheitsverdachts. Der Anspruch auf Behandlung erlischt jedoch, sobald sich herausstellt, dass lediglich ein alkoholisierter Zustand vorliegt, aufgrund dessen die Patientin allein der Ausnüchterung und keiner Krankenbehandlung bedarf. In der Entscheidung 10 ObS 75/09s hat der Oberste Gerichtshof ergänzt, dass im Hinblick auf das Erfordernis der Erkennbarkeit der fehlenden Notwendigkeit ärztlicher Behandlung in sinngemäßer Anwendung des § 107 Abs 1 ASVG ein „formaler Akt“ des Krankenversicherungsträgers erforderlich ist, um die krankenversicherungsrechtliche Leistung zu beenden. Dieser Hinweis, dass keine (weitere) Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers besteht, kann auch durch einen Dritten erfolgen, etwa die Krankenanstalt.

3. Im vorliegenden Fall ist die Klägerin zwar in stationäre Anstaltspflege aufgenommen worden, aber es sind offenbar keine medizinischen Untersuchungen an ihr vorgenommen worden.

3.1. Zu beurteilen ist im vorliegenden Fall der Anspruch der Klägerin auf Gewährung der Anstaltspflege durch den Krankenversicherungsträger (§§ 144 - 150 ASVG). Dieser Anspruch unterscheidet sich in manchen Belangen vom Anspruch auf Krankenbehandlung (§§ 133 - 137 ASVG). Befindet sich ein Versicherter in Anstaltspflege, so besteht für diese Zeit gemäß § 133 Abs 5 ASVG kein eigener Anspruch auf Leistungen der Krankenbehandlung, soweit die entsprechenden Leistungen nach dem KAKuG im Rahmen der Anstaltspflege zu gewähren sind. Dadurch soll ein doppelter Anspruch auf Sachleistungen ausgeschlossen werden (Tomandl, Sozialrecht6 [2009] Rz 179).

3.2. Die bloß faktische stationäre Aufnahme allein begründet keine Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers für Anstaltspflege.

Gemäß § 144 Abs 1 ASVG ist Anstaltspflege (in der allgemeinen Gebührenklasse einer landesgesundheitsfondsfinanzierten Krankenanstalt) zu gewähren, wenn und solange es die Art der Krankheit erfordert. Ist die Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt (Asylierung), wird sie nicht auf Kosten des Krankenversicherungsträgers gewährt (§ 144 Abs 3 ASVG; näher Tomandl, Sozialrecht6 Rz 179, und Schrammel, Krankenanstaltengesetz und Sozialversicherungsrecht, ZAS 1990, 109 [113 f]).

3.3. Die Abgrenzung zwischen „Behandlungsfall“ und „Asylierungsfall“ muss an die Voraussetzungen für das Vorliegen des Versicherungsfalls der Krankheit, dh eines die Krankenbehandlung notwendig machenden regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands anschließen. Demnach liegt ein Behandlungsfall dann vor, wenn prognostisch festgestellt werden kann, dass das beim Versicherten vorliegende Leiden einer Behandlung zugänglich ist, wenn auch nur eine geringfügige Besserung des Grundleidens erhofft wird oder wenn die Behandlung eine Verschlechterung des Zustands hintanzuhalten geeignet ist, mag auch das Grundleiden als solches nicht mehr behebbar sein (RIS-Justiz RS0084016, RS0084002). Hingegen handelt es sich um einen Asylierungs- oder Pflegefall, wenn ein Krankenhausaufenthalt nur die fehlende häusliche Pflege und Obsorge allein ersetzt und nicht mehr einer erfolgversprechenden Behandlung der Krankheit dient (10 ObS 43/91 = SSV-NF 5/134 mwN, 10 ObS 2317/96z ua).

3.4. Die Klägerin wurde nicht nach § 145 Abs 1 ASVG durch den Krankenversicherungsträger in die landesgesundheitsfondsfinanzierte Krankenanstalt eingewiesen. In einem solchen Fall ist die Aufnahme in die Krankenanstalt der Einweisung gleichzuhalten, sofern die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Anstaltspflege gegeben sind (§ 145 Abs 2 ASVG). Zu diesen übrigen Voraussetzungen gehört vor allem, dass die Art der Krankheit nicht nur Krankenbehandlung, insbesondere ärztliche Hilfe, sondern eben Anstaltspflege erfordert. Unter dem im ASVG nicht definierten Begriff „Anstaltspflege“ ist die durch die Art der Krankheit erforderliche, durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingte „einheitliche und unteilbare“ Gesamtleistung der stationären Pflege in einer - nicht gemäß § 144 Abs 4 ASVG ausgenommenen - Krankenanstalt zu verstehen. So wie die Krankenbehandlung im Sinn des § 133 ASVG bezweckt sie die Wiederherstellung, Festigung oder Besserung der Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Selbsthilfefähigkeit, tritt aber insofern hinter die Krankenbehandlung zurück, als sie als Leistung der Krankenversicherung erst beansprucht werden kann, wenn eine ambulante Krankenbehandlung nicht mehr ausreicht, um eine Krankheit durch ärztliche Untersuchung festzustellen und sodann durch Behandlung zu bessern oder zu heilen (10 ObS 10/94 = SSV-NF 8/9 mwN; RIS-Justiz RS0083970).

In diesem Sinn tritt die Verpflichtung des Krankenversicherers zur Kostentragung nach § 145 Abs 2 ASVG ein, wenn die Anstaltspflege notwendig und unaufschiebbar war (10 ObS 360/89 = SSV-NF 4/8 = ZAS 1990/25, 198 [A. Radner]).

3.5. Das Krankenanstaltenrecht verwendet weder in der Bundesgrundsatzbestimmung des § 22 KAKuG noch in der ausführungsgesetzlichen Bestimmung im Wr KAG das Begriffspaar „notwendig und unaufschiebbar“, sondern definiert die Begriffe „anstaltsbedürftig“ (§ 22 Abs 3 KAKuG bzw § 36 Abs 3 Wr KAG) und „unabweisbar“ (§ 22 Abs 4 KAKuG bzw § 36 Abs 4 Wr KAG). Während die Begriffe „notwendig“ und „anstaltsbedürftig“ als identisch angesehen werden (A. Radner in der Entscheidungsanmerkung zu 10 ObS 360/89 = ZAS 1990/25, 198), wird über die Frage der Deckungsgleichheit von „unaufschiebbar“ und „unabweisbar“ diskutiert; mögliche Abweichungen betreffen letztlich aber nur Randbereiche (näher A. Radner, Kostenersatz bei Unterbringung in einer privaten Krankenanstalt, SozSi 1990, 131 [133 ff], Th. Radner, Die Anstaltspflege [1995] 31 ff, und Plank, Verteuert die Neufassung des § 150 Abs 1 ASVG unser Gesundheitswesen? RdM 2002, 132). Nach der Rechtsprechung kann allgemein davon ausgegangen werden, dass das Kriterium der Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit dann erfüllt ist, wenn der geistige oder körperliche Zustand einer Person wegen Lebensgefahr oder wegen Gefahr einer sonst nicht vermeidbaren schweren Gesundheitsschädigung sofortige Anstaltsbehandlung erfordert (siehe auch die Judikaturnachweise bei Plank, RdM 2002, 134; Th. Radner, Anstaltspflege 81 ff; Binder in Tomandl, SV-System [21. ErgLfg] 255 [2.2.3.4.D.]).

3.6. Nach den erstgerichtlichen Feststellungen bestand bei der Klägerin keine „vitale Gefährdung“. Aus den Feststellungen geht aber nicht hervor, ob es sich dabei um eine ex post-Beurteilung oder um die notwendigerweise anzustellende Beurteilung ex ante handelt. Weiters ist der Begriff „vitale Gefährdung“ insoweit unscharf, als daraus nicht hervorgeht, ob damit nur „Lebensgefahr“ gemeint ist oder ob auch die Gefahr einer sonst nicht vermeidbaren schweren Gesundheitsschädigung einbezogen ist, die ebenfalls die Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit der Anstaltspflege nach sich zieht. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Anstaltspflege auch dann erforderlich sein kann, wenn der Versicherte nur fortgesetzt beobachtet werden muss (OLG Wien 20 R 76/77 = SSV 17/62), etwa wenn die Ausnüchterung eine medizinische Überwachung erfordert, die nur nach stationärer Aufnahme in einer Krankenanstalt erbracht werden kann.

Zur Klärung dieser Fragen erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

4. In den Entscheidungen 10 ObS 99/08v (= EF-Z 2009/85, 110 [R. Leitner]) und 10 ObS 75/09s (= RdM-LS 2009/55, 224 [Leischner]) hat der Oberste Gerichtshof in Bezug auf die Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers bei einer der Ausnüchterung bedürftigen Person ausgesprochen, dass auch die Klärung des Krankheitsverdachts Teil der Krankenbehandlung ist.

4.1. Wenn die Klägerin zwar stationär aufgenommen wurde, aber offenbar keine medizinischen Untersuchungen an ihr vorgenommen worden sind, stellt sich die Frage, wie die Anstaltsbedürftigkeit bzw deren Fehlen (ex ante) beurteilt werden konnte. Auch zu diesem Punkt fehlt es an ausreichenden Feststellungen.

4.2. In diesem Zusammenhang kann auch von Bedeutung sein, ob eine Behandlung (einschließlich einer Untersuchung zur Diagnoseerstellung) nicht durchgeführt wurde, weil keine Befugnis dazu bestand. Nach den inhaltlich weitgehend übereinstimmenden Regelungen des § 13 Abs 3 Wr KAG, des § 283 Abs 3 ABGB und des § 146c Abs 3 ABGB erfordern medizinische Behandlungen die Einwilligung des Betroffenen. Nur bei fehlender Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist die Zustimmung einer anderen Person (gesetzlicher Vertreter bzw Pflegeperson bzw Sachwalter) erforderlich. Der Einwilligung (des einsichtsunfähigen Patienten) bzw der Zustimmung bedarf es dann nicht, wenn die Behandlung so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Einwilligung bzw der Zustimmung verbundene Aufschub das Leben gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre (dazu anstatt vieler zuletzt Kopetzki, Behandlungsablehnung trotz vitaler Indikation, RdM 2010, 15).

Soweit die Frage einer allfälligen Behandlungsablehnung durch die Klägerin nach dem Vorgesagten noch von rechtlicher Bedeutung ist, ist im bisherigen Verfahren nicht ausreichend geklärt, ob die alkoholisierte Klägerin zum Zeitpunkt einer möglichen Behandlungsablehnung noch einsichtsunfähig oder schon wieder einsichtsfähig war. Im erstgenannten Fall ist - im Fall der Durchführung einer Behandlungsmaßnahme - auch zu klären, ob der mit der Einholung der Einwilligung (bzw der Zustimmung, falls die Klägerin bereits damals unter Sachwalterschaft gestanden sein sollte) verbundene Aufschub das Leben der Klägerin gefährdet hätte oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden gewesen wäre.

Im zweitgenannten Fall (Einsichtsfähigkeit) konnte die Klägerin von vornherein eine Behandlung (einschließlich einer Untersuchung zur Diagnoseerstellung) wirksam ablehnen, mit der Konsequenz, dass auch keine Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers zur Gewährung von Anstaltspflege besteht.

4.3. Falls keine Krankenbehandlung an der Klägerin begonnen wurde, bestand auch kein Anlass zu einer „formellen“ Beendigung dieser „Leistung“. Wurde dagegen eine Behandlung begonnen, wurde im Hinblick auf das Erfordernis der Erkennbarkeit der fehlenden Notwendigkeit ärztlicher Behandlung in sinngemäßer Anwendung des § 107 Abs 1 ASVG ein „formaler Akt“ erforderlich, um die krankenversicherungsrechtliche Leistung der Anstaltspflege zu beenden (10 ObS 75/09s = RdM-LS 2009/55, 224 [Leischner]).

5. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war auch das Urteil erster Instanz aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Schlagworte

12 Sozialrechtssachen,Gruppe: Zivilrechtsfragen - Menschenrechte,Grundfreiheiten

Textnummer

E94255

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:010OBS00010.10H.0601.000

Im RIS seit

22.07.2010

Zuletzt aktualisiert am

19.02.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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