Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Lavinia Cecile R*****, geboren am 24. Oktober 1995, *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 1, 4, 5, 6, 7, 8, 9, Amerlingstraße 11, 1060 Wien), über die Revisionsrekurse des Kindes und des Vaters Daniel R*****, Rechtsanwalt, *****, Deutschland, dieser vertreten durch Mag. Stefan Benesch, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 30. Oktober 2009, GZ 44 R 490/09y-84, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 20. Juli 2009, GZ 2 PU 185/09d-65, teilweise abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs des Kindes wird nicht Folge gegeben.
Hingegen wird dem Revisionsrekurs des Vaters Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
Die am 24. 10. 1995 geborene Lavinia Cecile R***** ist die Tochter von Daniel R***** und DI Valentina S*****. Sowohl die Eltern als auch das Kind sind deutsche Staatsbürger. Der Vater ist Rechtsanwalt und lebt nach der Aktenlage in H*****. Die Mutter und die Tochter haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in W*****.
Im Annexverfahren zur Scheidung der Eltern wurde der Vater mit Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Altona vom 8. 8. 2002 dazu verurteilt, „ab dem 01. 10. 2001 einen monatlichen Unterhaltsbetrag für das Kind Lavinia in Höhe von 454,-- EUR abzüglich des jeweiligen hälftigen Kindergeldes“ zu zahlen.
Das Kind stellte am 18. 6. 2009 (ON 58) beim Erstgericht den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach §§ 3, 4 Z 1 UVG mit der Begründung, dass die zu 8 DR II 914/02 des Amtsgerichts Hamburg geführte Exekution auf das Arbeitseinkommen den laufenden Unterhalt für die letzten sechs Monate vor Antragstellung „nach wie vor nicht gedeckt“ habe. Weiters wird in dem Antrag darauf hingewiesen, dass das Kind als EWR-Bürger unter den gleichen Voraussetzungen wie österreichische Staatsbürger Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätten.
Mit Beschluss vom 20. 7. 2009 (ON 65) bewilligte das Erstgericht dem Kind gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum vom 1. 6. 2009 bis 31. 5. 2012 Unterhaltsvorschüsse in monatlicher Höhe von 454 EUR. In der Begründung wies es auf die Antragsbegründung zur erfolglosen Exekution vor dem Amtsgericht Hamburg sowie darauf hin, dass Unterhaltsvorschüsse in Deutschland nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes ausbezahlt würden, weshalb Lavinia keinen Anspruch auf deutsche Unterhaltsvorschüsse habe.
Das Rekursgericht gab den Rekursen des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, und des Vaters teilweise Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass es die Höhe des monatlich zu gewährenden Vorschusses auf 388,55 EUR (454 EUR abzüglich der Hälfte der von der Mutter bezogenen Familienbeihilfe von derzeit 130,90 EUR) reduzierte (ON 84).
Seiner rechtlichen Beurteilung legte das Rekursgericht zugrunde, dass ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss vorrangig vom Aufenthaltsstaat der Mutter und des Kindes zu erfüllen sei, weshalb das Kind einen Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse habe. Die formale Anspruchsberechtigung der Mutter laut Urteil vom 8. 8. 2002 entspreche der materiellen Anspruchsberechtigung des Kindes nach österreichischem Recht; der Mutter seien mit dem Unterhaltstitel keine eigenen materiellen Rechte verschafft worden.
Einer dem Vorschussantrag vorangehenden Exekution in Deutschland bedürfe es nicht, weil der Vater keine unselbständige Tätigkeit ausübe und eine Fahrnisexekution im Ausland nicht geeignet sei, dem Kind rasch die erforderlichen Mittel für seinen laufenden Unterhalt zu verschaffen. Da die Mutter für das Kind die österreichische Familienbeihilfe beziehe, die etwas geringer als das deutsche Kindergeld sei, entspreche der Abzug der Hälfte der Familienbeihilfe im Ergebnis dem im Unterhaltstitel vorgesehenen Abzug des halben Kindergeldes. Nur auf diese Weise könnten die Eltern und das Kind so behandelt werden wie im deutschen Unterhaltstitel vorgesehen. In diesem Sinn sei die Vorschusshöhe um die Hälfte der von der Mutter für Lavinia bezogenen Familienbeihilfe auf 388,55 EUR zu reduzieren.
Der Revisionsrekurs sei im Hinblick auf das Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage der Anspruchsberechtigung aufgrund eines zugunsten der Mutter ergangenen Unterhaltstitels einerseits und zum Abzug des halben Kindergeldes andererseits zulässig.
Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richten sich die Revisionsrekurse des Kindes (ON 88) und des Vaters (ON 89). Das Kind strebt eine Vorschussgewährung „entsprechend dem österreichischen Recht in Höhe von 454 EUR monatlich ohne Abzüge oder in Höhe von 538,55 EUR entsprechend der deutschen Rechtsprechung“ an. Der Vater will eine Abänderung im Sinne einer Zurück- bzw Abweisung der Vorschussanträge erreichen; hilfsweise stellt er einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag.
In ihren Revisionsbeantwortungen beantragen das Kind und der Vater sinngemäß, dem Revisionsrekurs der Gegenseite jeweils nicht Folge zu geben. Der Bund und die Mutter haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionsrekurse sind zulässig. Der Revisionsrekurs des Kindes ist nicht berechtigt; derjenige des Vaters ist im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.
1. Zum Revisionsrekurs des Kindes:
In seinem Revisionsrekurs bringt das Kind vor, dass es zum Zeitpunkt der Antragstellung entsprechend der „Düsseldorfer Tabelle“ einen monatlichen Unterhaltsanspruch von 604 EUR gehabt habe; abzüglich der Hälfte der österreichischen Familienbeihilfe belaufe sich der Anspruch daher auf 538,55 EUR monatlich. Werde aber österreichisches Recht angewendet, sei die Hälfte der Familienbeihilfe nicht abzuziehen.
Damit lässt das Kind aber außer Betracht, dass es selbst (nur) einen monatlichen Unterhaltsvorschuss von 454 EUR beantragt hat (ON 58). Aufgrund des auch im Außerstreitverfahren geltenden Dispositionsgrundsatzes (RIS-Justiz RS0006259) kann keinesfalls ein höherer Vorschuss zugesprochen werden. Weiters darf der Vorschuss die Titelhöhe nicht übersteigen (§ 5 Abs 1 UVG). Dass der Titel „dynamisiert“ wäre und in welcher Höhe aktuell die Geldunterhaltspflicht des Vaters liegen soll, wurde im Verfahren erster Instanz weder behauptet noch bescheinigt.
Das anzuwendende (materielle) Unterhaltsrecht wird auf der Grundlage von Art 1 Abs 1 des Haager Unterhaltsstatutübereinkommens (BGBl 1961/293) bestimmt; diese Norm führt angesichts des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zur Anwendung österreichischen Sachrechts.
Um das evidentermaßen mit dem Exekutionstitel angestrebte Ziel, dass die staatliche Familienleistung (in Deutschland Kindergeld) beiden Eltern je zur Hälfte zugute kommen soll, zu erreichen, liegt die vom Rekursgericht vorgenommene Auslegung des Exekutionstitels nahe, wonach im Fall des Bezugs österreichischer Familienbeihilfe ebenfalls die Hälfte davon vom Betrag von 454 EUR abzuziehen ist (§ 71 Abs 3 Satz 2 AußStrG).
2. Zum Revisionsrekurs des Vaters:
In seinem Revisionsrekurs macht der Vater inhaltlich geltend, die Entscheidungsvielfalt des Obersten Gerichtshofs offenbare die Unklarheit, ob dem „Beschäftigungsprinzip“ zu folgen sei oder nicht. Tatsächlich fehle es an Feststellungen, ob die Mutter überhaupt in den Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerver-ordnung 1408/71 falle. Im Übrigen könne ein Exekutionsmisserfolg (§ 3 Z 2 UVG) nicht angenommen werden, wenn in Deutschland gar kein Antrag auf Fahrnisexekution gestellt worden sei. Auch die Aussichtslosigkeit der Fahrnisexekution sei gegenüber einem Rechtsanwalt mit Kanzleisitz in Deutschland zu verneinen. Das Argument des Rekursgerichts, die Fahrnisexekution sei als Mittel zur Hereinbringung des laufenden Unterhalt ungeeignet, sei gesetzlich nicht gedeckt. Schließlich sei das erstinstanzliche Verfahren mangelhaft geblieben, weil der Vater nicht gemäß § 12 UVG einvernommen worden sei (eine Einvernahme hätte ergeben, dass eine Fahrnisexekution keinesfalls aussichtslos gewesen wäre).
2.1. Zur Rechtslage bis 30. 4. 2010 (Anwendungsbereich der VO [EWG] 1408/71):
Der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 für Unterhaltsvorschusssachen allein zuständige 10. Senat hat in seiner Rechtsprechung keinen Zweifel daran gelassen, dass im Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr 1408/71 grundsätzlich das Recht desjenigen Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet; dies kann sowohl auf den Vater als auch auf die Mutter zutreffen (RIS-Justiz RS0124515; 10 Ob 75/08i und viele andere). Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners, wie sie in drei Entscheidungen vertreten worden war (4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y, 1 Ob 267/07g), ist den Koordinierungsregelungen der VO 1408/71 nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften desjenigen Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird (Neumayr in Schwimann, ABGB3 I § 1 UVG Rz 39).
Im vorliegenden Fall hängt der Anspruch des Kindes auf Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen UVG im Zeitraum vor dem 1. 5. 2010 davon ab, ob die Mutter als tätige oder arbeitslose Arbeitnehmerin oder als Selbständige in Österreich in das System der sozialen Sicherung integriert ist. Die Aktenlage gibt gewisse Hinweise darauf (ON 5, 9 und 14); auch der im gegenständlichen Verfahren ergangenen Entscheidung 4 Ob 4/07b wurde diese Annahme (obiter) zugrunde gelegt. Da es aber an entsprechenden Feststellungen fehlt, sind diese im fortgesetzten Verfahren nachzuholen.
2.2. Zur Rechtslage ab 1. 5. 2010 (Inkrafttreten der VO [EG] 883/2004):
Mit 1. 5. 2010 wurde die VO (EWG) 1408/71 von der neuen Koordinierungsverordnung, der VO (EG) 883/2004 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des EuGH als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausgenommen (siehe etwa Spiegel, Familienleistungen aus Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [140]). Die Frage, ob bei Sachverhalten mit Unionsbezug österreichische Unterhaltsvorschüsse gebühren, ist seit 1. 5. 2010 (wieder) auf Grundlage des § 2 UVG zu lösen. Anspruch auf Vorschüsse haben demnach „minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind“.
Auch wenn diese Kriterien (gewöhnlicher Aufenthalt im Inland und österreichische Staatsangehörigkeit bzw Staatenlosigkeit) nicht mehr auf ihre Vereinbarkeit mit dem Koordinierungsrecht der VO (EG) 883/2004 zu überprüfen sind, ist weiterhin der Maßstab des Unionsrechts in Gestalt des europäischen Primär- und Sekundärrechts zu beachten. Zwar kommt aufgrund der für Unterhaltsvorschüsse normierten Ausnahme das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 der VO (EG) 883/2004 nicht zur Anwendung; dennoch gilt der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (Felten/Neumayr, Unterhaltsvorschuss und Gemeinschaftsrecht, iFamZ 2009, 326; Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung, in DRV Bund [Hrsg], Die Reform des Europäischen koordinierenden Sozialrechts [2007] 30 [38]). In diesem Sinn hat der Oberste Gerichtshof bereits unter dem Regime der VO (EWG) 1408/71 bei im Übrigen reinen Inlandsfällen (in denen die Koordinierungsregeln der VO 1408/71 nicht anzuwenden waren) einen Vorschussanspruch von Kindern mit der Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats bejaht (10 Ob 76/08m). An dieser Rechtsprechungslinie ist auch ab 1. 5. 2010 festzuhalten. Demnach wäre das Abstellen auf das Staatsbürgerschaftskriterium in § 2 UVG als unionsrechtswidrig einzustufen, weshalb die Bezugnahme auf die österreichische Staatsbürgerschaft so zu lesen ist, dass damit die Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaats gemeint ist (in diesem Sinn bereits der Erlass des BMJ vom 20. 6. 2001, JMZ 4589/358-I1/2001, ÖA 2001, 227; ebenso Spiegel, Familienleistungen aus Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts 145).
Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind. Es ist daher grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen, ob eine Rechtsänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist (RIS-Justiz RS0031419). Sofern der Rechtssetzer nicht ausdrücklich anderes verfügt oder wenn der besondere Charakter einer zwingenden Norm nicht deren rückwirkende Anwendung verlangt, ist sie insoweit nicht anzuwenden, als der zu beurteilende Sachverhalt vor Inkrafttreten der neuen Bestimmung endgültig abgeschlossen ist. Bei Dauerrechtsverhältnissen ist im Falle einer Rechtsänderung mangels abweichender Übergangsregelung der in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Gesetzes reichende Teil des Dauertatbestands nach der Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Änderung zu beurteilen (5 Ob 78/00g; 1 Ob 46/03a; 6 Ob 263/04a uva). Art 87 der VO (EG) 883/2004 enthält keine spezielle Übergangsbestimmung für anhängige Vorschussverfahren, sodass die Frage nach den allgemeinen Grundsätzen zu beantworten ist. Im vorliegenden Fall war der Unterhaltsvorschussantrag in die Zukunft gerichtet und es sind die Vorschüsse in erster Instanz auch über den 30. 4. 2010 hinaus bewilligt worden. Für die Perioden ab dem 1. 5. 2010 ist demnach schon die neue Rechtslage anzuwenden (6 Ob 16/01y; 6 Ob 263/04a).
In diesem Sinn kommt es ab 1. 5. 2010 nicht mehr darauf an, dass die Mutter in Österreich in das System der sozialen Sicherung integriert ist; vielmehr hat das Kind mit der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaats und dem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich (bei Erfüllung der weiteren, unter 2.3. näher bezeichneten Voraussetzungen) ab 1. 5. 2010 einen Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse.
Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV natürlich auch schon vor dem 1. 5. 2010 anzuwenden war. Bis zum 30. 4. 2010 war allerdings die grenzüberschreitende Koordination des Anspruchs auf die Familienleistung Unterhaltsvorschuss - ohne Widerspruch zum Primärrecht - im Sekundärrecht (VO 1408/71) geregelt. Aufgrund der sekundärrechtlichen Vorgaben bedurfte es im Anwendungsbereich der VO 1408/71 keines Rückgriffs auf das Primärrecht. Dementsprechend hat der Oberste Gerichtshof in Fällen, in denen nach den Regeln der VO 1408/71 von vornherein nur die „Vorschriften eines Mitgliedstaates“ (nämlich der österreichischen) in Betracht kamen, den Vorschussanspruch eines Kindes mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich, aber der Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats aus einer dem Art 12 EG (nun Art 18 AEUV) entsprechenden Auslegung des § 2 Abs 1 UVG abgeleitet (näher Neumayr, iFamZ 2009, 145), während dann, wenn wegen eines grenzüberschreitenden Wanderarbeitnehmerbezugs der Anwendungsbereich der VO 1408/71 und ihrer Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 anzuwenden waren, auf die Koordinierungsregeln dieser Verordnung zurückgegriffen wurde. Wie bereits erwähnt unterliegt die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen seit der Anwendbarkeit der VO 883/2004 (mit 1. 5. 2010) dem nationalen Recht, das allerdings unionsrechtskonform (und damit auch primärrechtskonform) auszulegen ist.
2.3. Zum Erfordernis der Exekutionsführung gegen den Vater:
Das Kind hat den Vorschussantrag evidentermaßen auf die Erfolglosigkeit einer von ihm gegen den Vater eingeleiteten Exekution auf das Arbeitseinkommen (§ 3 Z 2 UVG) gestützt und nicht auf die Aussichtslosigkeit einer Exekutionsführung (§ 4 Z 1 UVG). Ein Eingehen auf die Ausführungen des Vaters und des Rekursgerichts, soweit sie sich auf die Aussichtslosigkeit der Exekution beziehen, ist daher nicht notwendig.
Nach der hier (im Hinblick auf den im Jahr 2009 gelegenen Antragstag) noch anzuwendenden Fassung des § 3 Z 2 UVG vor dem Inkrafttreten des FamRÄG 2009 (BGBl I 2009/75) setzt die Vorschussgewährung voraus, dass „eine wegen der laufenden Unterhaltsbeiträge geführte Exekution nach § 291c Abs. 1 EO oder, sofern der Unterhaltsschuldner offenbar keine Gehaltsforderung oder eine andere in fortlaufenden Bezügen bestehende Forderung hat, eine Exekution nach § 372 EO auch nur einen in den letzten sechs Monaten vor Stellung des Antrags auf Vorschußgewährung fällig gewordenen Unterhaltsbeitrag nicht voll gedeckt hat; dabei sind hereingebrachte Unterhaltsrückstände auf den laufenden Unterhalt anzurechnen“. Das Erfordernis der Exekutionsführung ist im Rahmen des § 3 Z 2 UVG zwingend (Neumayr in Schwimann, ABGB3 I § 3 UVG Rz 22) und wird von pragmatischen Erwägungen, wie sie das Rekursgericht in Bezug auf die generell fehlende Tauglichkeit einer Fahrnisexekutionsführung angestellt hat, nicht beseitigt. Innerhalb eines sechsmonatigen Beobachtungszeitraums vor dem Vorschussantrag muss eine - wegen Uneinbringlichkeit - nicht gänzlich erfolgreiche Exekutionsführung auf den in dieser Zeit fällig gewordenen Unterhalt gelegen sein (2 Ob 64/03f = RIS-Justiz RS0117686; 10 Ob 59/09p = RIS-Justiz RS0125485).
Das Kind hat in seinem Vorschussantrag (ON 58) behauptet, gegen den Vater eine Exekution auf das Arbeitseinkommen eingeleitet zu haben, die - in Bezug auf die Deckung des laufenden Unterhalts vor Vorschussantragstellung - erfolglos geblieben sei („nach wie vor nicht gedeckt“). Aus der Geschäftszahl kann geschlossen werden, dass dieses Exekutionsverfahren bereits im Jahr 2002 eingeleitet wurde. Nun kann eine schon vor längerer Zeit eingeleitete Gehaltsexekution zweifellos in den sechsmonatigen Beobachtungszeitraum hineinreichen. Ob dies hier der Fall war, ist unklar, ergeben sich doch aus der Aktenlage Hinweise, dass der Vater nicht über ein Arbeitseinkommen verfügte und verfügt (siehe etwa ON 7 und 9).
Nach Rechtsprechung (2 Ob 64/03f) und Lehre (Neumayr in Schwimann, § 3 UVG Rz 21) muss das Kind in Bezug auf die Einleitung der Exekution den „richtigen Schritt“ setzen, je nachdem, ob der Geldunterhaltsschuldner der Gruppe der Unselbständigen oder der Selbständigen zuzurechnen ist. Wie schon erwähnt, muss diese (im Übrigen nicht gänzlich erfolgreiche) Exekutionsführung dann auch noch in den sechsmonatigen Beobachtungszeitraum hineinreichen.
In diesem Sinn ist im fortgesetzten Verfahren zu prüfen, ob das Kind bei Einleitung der Exekution (vermutlich im Jahr 2002) - abhängig von der Zugehörigkeit des Vaters zur Gruppe der Selbständigen oder der Unselbständigen - den „richtigen Schritt“ gesetzt hat und in Deutschland ein der Gehaltsexekution oder Exekution zur Sicherstellung nach § 372 EO vergleichbares Verfahren eingeleitet hat. Weiters ist zu klären, ob diese Exekution in den sechsmonatigen Beobachtungszeitraum gereicht hat und ob in diesem Zeitraum keine volle Deckung erreicht wurde.
2.4. Zur Klärung dieser offenen Fragen (siehe Punkte 2.1. und 2.3.) sind in Stattgebung des Revisionsrekurses des Vaters die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben.
Schlagworte
Unterhaltsrecht,EuroparechtTextnummer
E94234European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0100OB00014.10X.0601.000Im RIS seit
18.07.2010Zuletzt aktualisiert am
19.02.2013