Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Juni 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Mag. Hautz in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Rumpl als Schriftführerin in der Strafsache gegen Mladen Mi***** und andere Angeklagte wegen Finanzvergehen der gewerbsmäßigen Abgabenhehlerei nach §§ 37 Abs 1 lit a, 38 Abs 1 lit a FinStrG und anderer strafbarer Handlungen, AZ 15 Hv 64/10w des Landesgerichts Wels (vormals AZ 7 Hv 35/10v des Landesgerichts für Strafsachen Graz), über die Grundrechtsbeschwerde des Branko M***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 28. April 2010, AZ 11 Bs 151/10d (ON 10 in ON 151), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Branko M***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der mit 800 Euro, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, festgesetzten Beschwerdekosten auferlegt.
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mit dem angefochtenen Beschluss setzte das Oberlandesgericht Graz die vom Landesgericht für Strafsachen Graz am 10. Jänner 2010 verhängte (ON 10 in ON 125) und mit Beschlüssen dieses Gerichts vom 25. Jänner 2010 (ON 44 in ON 125) und - nach Einbringen der Anklage am 17. und 18. Februar 2010 - vom 12. April 2010 (ON 6 und 7 in ON 151) fortgesetzte Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit a und b StPO iVm § 195 Abs 1 FinStrG fort.
Dabei ging es zur Haftvoraussetzung des dringenden Tatverdachts anklagekonform davon aus, der Angeklagte Branko M***** stehe in dringendem Verdacht, die Finanzvergehen des gewerbsmäßigen Schmuggels nach §§ 35 Abs 1 lit a, 38 Abs 1 lit a FinStrG und des vorsätzlichen Eingriffs in die Rechte des Tabakmonopols nach § 44 Abs 1 lit b FinStrG in einem 75.000 Euro bei weitem übersteigenden strafbestimmenden Wertbetrag dadurch begangen zu haben, dass er mit im Beschluss genannten Mittätern von Juli 2008 bis 9. Jänner 2010 in zahlreichen Angriffen vorsätzlich eingangsabgabepflichtige Waren vorschriftswidrig und in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung von Schmuggel eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, in einem PKW versteckt über das Zollamt Nickelsdorf in das Zollgebiet verbrachte, indem er insgesamt 5.200.000 Stück Zigaretten verschiedener Sorten von Serbien nach Ungarn und weiter nach Österreich transportierte, und er durch diese Vorgangsweise zu seinem und seiner Mittäter Vorteil Monopolgegenstände (§ 17 Abs 4 FinStrG) einem monopolrechtlichen Einfuhrverbot zuwider einführte.
Die ausschließlich gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatgehungsgefahr gerichtete und eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) behauptende Grundrechtsbeschwerde ist allein aufgrund des Umstands, dass in ihr der Tag, der für den Beginn der Beschwerdefrist maßgeblich ist, nicht angeführt und somit gegen das Formgebot des § 3 Abs 1 letzter Satz GRBG verstoßen wurde, nach nunmehriger Rechtsprechung nicht als unzulässig anzusehen (RIS-Justiz RS0114092, zuletzt 13 Os 120/09k).
Die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr, welche bei gegebenem dringenden Tatverdacht für sich allein zur Begründung der Haft ausreicht, wurde in der Grundrechtsbeschwerde nicht bestritten, sodass sich ein Eingehen auf die gegen die Annahme von Tatbegehungsgefahr erhobenen Einwände erübrigt (RIS-Justiz RS0061196 [T2]).
Zu Recht aber - und in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - wirft die Grundrechtsbeschwerde dem Oberlandesgericht eine aus dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen resultierende Grundrechtsverletzung vor.
Eine solche ist stets gegeben, wenn eine haftrelevante Vorschrift in letzter Instanz missachtet oder deren Missachtung durch eine Unterinstanz nicht festgestellt und bereinigt, erforderlichenfalls ausgeglichen wurde. Denn aufgrund des in Art 5 Abs 1 MRK genannten Erfordernisses „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ schlagen Verletzungen einfachgesetzlicher Vorschriften direkt auf die Frage einer Verletzung des Grundrechts auf Freiheit und Sicherheit durch (14 Os 108/08a, EvBl 2008/174, 904; zuletzt ausdrücklich: 13 Os 160/08s, EvBl-LS 2009/40, 236; Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vor §§ 170-189 Rz 25).
Bei Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen durch die Staatsanwaltschaft hat das angerufene Oberlandesgericht Abhilfe durch einen konkreten Auftrag an diese zu schaffen. Hat die Staatsanwaltschaft das zunächst Versäumte inzwischen nachgeholt, obliegt es dem Oberlandesgericht, nach Möglichkeit die Folgen der Säumnis zu beseitigen, um ein Fortwirken der Verzögerung hintanzuhalten (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 177 Rz 6).
Der Beschwerdeführer beantragte mit Schriftsatz vom 26. März 2010 (einem Freitag), welcher noch am selben Tag der Staatsanwaltschaft Graz zur Stellungnahme übermittelt wurde und am 29. März 2010 dort einlangte, seine Enthaftung (ON 1 in ON 151 S 1). Nachdem Branko M***** am 7. April 2010 einen Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG mit dem Begehren gestellt hatte, das übergeordnete Oberlandesgericht Graz möge die zuständige Richterin anweisen, ehestens eine Haftverhandlung anzuberaumen (ON 3 in ON 151), urgierte die Vorsitzende des Schöffengerichts am 8. April 2010 die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft (unjournalisierter Amtsvermerk bei ON 144 S 39), welche am 9. April 2010 (wiederum einem Freitag) beim Gericht einlangte (ON 4 in ON 151). Noch am selben Tag wurde für den 12. April 2010 (somit den nächsten Werktag) die Haftverhandlung anberaumt und die Haft am selben Tag fortgesetzt.
Trifft das Gericht nach § 176 Abs 1 Z 2 iVm § 175 Abs 5 StPO die Pflicht, über einen sogenannten Enthaftungsantrag unverzüglich zu entscheiden und haben nach § 177 Abs 1 erster Satz StPO sämtliche am Strafverfahren beteiligten Behörden darauf hinzuwirken, dass die Haft so kurz wie möglich dauere, so kann nicht zweifelhaft sein, dass eine ohne ersichtlichen Grund erst am 11. Tag nach Einlangen (nach gerichtlicher Urgenz) übermittelte Stellungnahme der Staatsanwaltschaft den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Dass Ostern in diesen Zeitraum fiel, spielt keine entscheidende Rolle, ebenso wenig die vom Oberlandesgericht angestellten Erwägungen zum Agieren von Gericht und Staatsanwaltschaft vor dem Enthaftungsantrag und dessen Verweis auf die zu 15 Os 23/09k des Obersten Gerichtshofs ergangene Entscheidung, welche einen wesentlich verschiedenen Sachverhalt betraf. Wenngleich dem Oberlandesgericht vorliegend keine rechtliche Möglichkeit offenstand, die Grundrechtsverletzung auszugleichen (neuerliche Haftentscheidung hätte dazu nichts beigetragen), hätte sie jedoch jedenfalls anerkannt werden müssen.
Die Kostenentscheidung fußt auf § 8 GRBG. Zur Beurteilung der Strafbarkeit der Hinterziehung der Tabaksteuer als Selbstberechnungsabgabe wird übrigens auf 13 Os 27/09h, EvBl 2009/138, 920, verwiesen, zum Finanzvergehen nach § 44 FinStrG auf RIS-Justiz RS0119558.
Textnummer
E94347European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0130OS00057.10X.0617.000Im RIS seit
02.08.2010Zuletzt aktualisiert am
20.10.2011