Kopf
Das Landesgericht Klagenfurt hat als Berufungsgericht durch die Richter Dr. Joham (Vorsitz), Dr. Steflitsch und Mag. Süßenbacher in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) ***** und 2.) ***** beide vertreten durch Kalmann-De Cillia, Rechtsanwälte in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei ***** vertreten durch Dr. Andreas Grassl, Rechtsanwalt in Wien, wegen € 1.431,67 s. A., über die Berufung der klagenden Parteien gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Klagenfurt vom 26. August 2009, 20 C 1633/08b 32, gemäß § 501 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:
"Die Beklagte hat dem Erstkläger den Betrag von € 812,96 samt 4 % Zinsen seit 24. April 2008 und der Zweitklägerin den Betrag von € 618,71 samt 4 % Zinsen seit 24. April 2008 zu bezahlen und den Klägern die mit € 2.237,76 bestimmten Verfahrenskosten erster Instanz (darin € 465,70 Barauslagen und € 295,34 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen."
Die Beklagte hat den Klägern die mit € 445,01 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin € 136,40 Pauschalgebühr und € 51,44 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die Revision ist gemäß § 502 Abs 2 ZPO jedenfalls unzulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Die beiden Kläger traten am 24. Dezember 2007 (Montag) eine Urlaubsreise nach Punta Cana in der Dominikanischen Republik an, die bis zum 8. Jänner 2008 dauern sollte. In dem von den Klägern hiefür bezahlten Betrag sind die Kosten für den Abschluss einer europäischen Reiseversicherung, Komplettschutz, beider Beklagten in der Höhe von € 310, enthalten. Am Mittwoch, dem 26. Dezember 2007, traten bei der Zweitklägerin Zahnschmerzen im Kiefer links unten auf. Die Zweitklägerin nahm sowohl Schmerzmittel als auch Antibiotika, die sie in ihrer Reiseapotheke mit sich führte. In der Nacht zum Donnerstag wurden die Zahnschmerzen stärker. Den Donnerstag und Freitag verbrachte die Zweitklägerin ausschließlich in ihrem Hotelzimmer. Am Freitag rief die Zweitklägerin beim Service Center der Beklagten an. Sie meldete (noch) keinen Versicherungsfall, sondern fragte an, "was man tun könne, wenn man Zahnschmerzen habe, welche Möglichkeiten es gibt und wie das ganze allgemein aussieht". Die Zweitklägerin erhielt die Antwort, dass "vor Ort eine Behandlung durchgeführt bzw. ein Arzt aufgesucht werden müsse". In der Nacht von Freitag auf Samstag (28. zum 29. Dezember 2007) wurden die Schmerzen der Zweitklägerin so stark, dass die Kläger am Samstag mit dem Reiseleiter ihrer Hotelanlage Kontakt aufnahmen, welcher ihnen mitteilte, dass ein Rückflug mangels Sitzplätzen nicht möglich sei. Die Kläger hatten sich entschlossen, ihren Urlaub nicht fortzusetzen, sondern so rasch wie möglich nach Österreich zurückzufliegen. Am Sonntag (30. Dezember 2007) suchte die Zweitklägerin um 7.00 Uhr morgens den Hotelarzt auf. Dieser wollte der Zweitklägerin eine schmerzstillende Spritze geben, was die Zweitklägerin jedoch nicht zuließ, weil die Ordination des Hotelarztes nicht vertrauenerweckend wirkte und nicht österreichischem Standard entsprach. Der Hotelarzt rief in Gegenwart der beiden Kläger in einer Klinik an und teilte den Klägern mit, dass es in dieser einen Zahnarzt gebe, welcher am folgenden Dienstag (1. Jänner 2008) erreichbar sein werde. Der Hotelarzt sagte der Zweitklägerin, dass man "den Kiefer aufschneiden müsse, um sehen zu können, was los sei". Anschließend wandten sich die Kläger an die Rezeption und sprachen dort mit einem "Herrn Cesar", der sie dahin informierte, dass sie die Hotelanlage nicht verlassen sollten, da dies zu gefährlich sei. Die Kläger erkundigten sich nicht, ob und welche Zahnärzte es in der Umgebung gibt, wann diese ordinieren und ob ein solcher aufgesucht werden könne. Aufgrund der Mitteilungen des Hotelarztes war den Klägern klar, dass sie nach Österreich zurückfliegen müssten. Dass die Zweitklägerin reiseunfähig gewesen wäre, vermochte das Erstgericht nicht festzustellen.
Von Freitag bis Sonntag telefonierten die Kläger mehrfach mit der Beklagten (dem Service Center der Beklagten) und erhielten die dezidierte Auskunft, dass das Zahnproblem der Zweitklägerin vor Ort abgeklärt werden müsse und, dass die Bestätigung eines "Facharztes" (offenbar eines Zahnarztes), dass die Rückreise medizinisch indiziert sei, erforderlich ist, damit die Beklagte die Kosten des Rückfluges übernimmt. Die Bestätigung des Hotelarztes hätte nicht ausgereicht, was den Klägern bekannt war. Den Klägern wurde mitgeteilt, dass die Kostenübernahme für den Rückflug nur erfolge, wenn eine Behandlung vor Ort nicht möglich sei und eine Bestätigung des Facharztes vorliege. Das Service Center der Beklagten gab den Klägern ferner die Auskunft, dass es nicht Aufgabe der Beklagten sei, den Rückflug der Kläger zu organisieren. Schließlich teilte das Service Center der Beklagten den Klägern mit, dass eine medizinische Abklärung auch in einem Krankenhaus vor Ort erfolgen könne.
Die Zweitklägerin telefonierte auch mit einem Arzt von der Tyrolian Air Ambulanz, der irh im ersten Telefonat mitteilte, dass eine Abklärung vor Ort stattfinden müsse und ihr auf den Einwand, dass sie aufgrund der hygienischen Zustände nicht vor habe, sich den Kiefer aufschneiden zu lassen, sagte, dass er dies ebenfalls nicht tun würde. Die Kläger flogen am 30. Dezember 2007 nach Österreich zurück. Den Rückflug hatten sie selbst organisiert.
Weiters traf das Erstgericht noch Tatsachenfeststellungen über die Organisation des Service Centers der Beklagten, das von der Europe Assistance geführt wird, und auf die verwiesen werden kann.
Die bei der Zweitklägerin am 26. Dezember 2007 aufgetretenen Zahnschmerzen sind auf eine akute Pulpitis des Zahnes 36 zurückzuführen. Eine solche Pulpitis kann jederzeit unter einer tiefen Füllung beginnen. Sie stellt ein unerwartetes und nicht vorhersehbares Ereignis für jedermann dar. Mit einer Pulpitis einher gehen oft sehr starke Schmerzen, wobei normale Schmerzmittel häufig schlecht ansprechen. Die Gefahr einer Pulpitis wird durch einen Klimawechsel gefördert. Dem Gutachten des zahnärztlichen Sachverständigen ist ferner zu entnehmen, dass eine Pulpitis zum Absterben des Zahnes und zur Abszessbildung und zum Zahnverlust führen kann. Nach der Rückkehr der Zweitklägerin wurde die Pulpitisbehandlung unter anderem mit Laser durchgeführt. Eine Abtötung des Zahnes und eine Wurzelkanalfüllung erfolgte nicht.
Bei der letzten zahnärztlichen Kontrolle vor der Reise am 20. Dezember 2007 ergab sich kein Grund für den Nichtantritt der gebuchten Reise.
In ihrem Schreiben vom 30. Jänner 2008 gab die Beklagte bekannt, dass Voraussetzung für einen gedeckten Reiseabbruch die schriftliche Bestätigung eines Zahnarztes vor Ort sei, dass die Behandlung medizinisch nicht möglich und eine Weiterführung der Reise ohne Behandlung nicht zumutbar sei.
Mit ihrem Schreiben vom 10. April 2008 verwies die Beklagte auf die der Reiseversicherung zugrunde liegenden ERV-RVB 2006. Art 39 Punkt 1.6 derselben regle, dass der Versicherer die nachgewiesenen Kosten bis zur Versicherungssumme für den Rücktransport des Versicherten, organisiert durch den Versicherer, und zwar sobald dieser medizinisch sinnvoll und vertretbar ist, ersetze. In Art 43 werde festgehalten, dass der Versicherungsnehmer verpflichtet sei, den Versicherungsfall dem Versicherer ehestmöglich zu melden, jedenfalls spätestens zu jenem Zeitpunkt, zu dem Kosten entsprechend des Leistungsumfanges (Art 39) entstehen. Organisatorische Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Leistungsumfang müssen vom Versicherer getroffen werden; anderenfalls werden keine Kosten ersetzt.
Die Europäischen Reiseversicherungsbedingungen ERV-RVB 2006 enthalten unter anderem folgende Bestimmungen:
"I. Allgemeiner Teil
Art 7
Obliegenheiten
1. Als Obliegenheiten, deren Verletzung die Leistungsfreiheit des Versicherers gemäß § 6 VersVG bewirkt, werden bestimmt:
1.1 Versicherungsfälle nach Möglichkeit abzuwenden und deren Folgen zu mindern und dabei allfällige Weisungen des Versicherers zu befolgen;
1.2 den Versicherer über den eingetretenen Versicherungsfall ehestmöglich, wahrheitsgemäß und umfassend schriftlich zu informieren, falls erforderlich auch per Telefon oder Fax;
...
1.4 Alles ihm Zumutbare zu tun, um die Ursachen, den Hergang und die Folge des Versicherungsfalles aufzuklären;
...
II. Besonderer Teil
A) Stornoschutz bei Nichtantritt oder Abbruch einer Reise
...
Art 13
Versicherungsfall
1. Ein Versicherungsfall liegt vor, wenn aus einem der folgenden Gründe eine Reise nicht angetreten werden kann oder abgebrochen werden muss:
1.1 plötzlich eintretende schwere Erkrankung, schwere gesundheitliche Unfallfolgen, Impfunverträglichkeiten oder Tod der versicherten Person.
Die Erkrankung, Impfunverträglichkeit oder Unfallfolge gilt als schwer, wenn sich daraus für die gebuchte Reise zwingend die Reiseunfähigkeit ergibt.
...
Art 16
Obliegenheiten
Der Versicherte ist verpflichtet, ...
2. wenn die Reise aus medizinischen Gründen abgebrochen werden muss, eine entsprechende Bestätigung des behandelnden Arztes vor Ort (siehe Art 13, Punkt 1.1) ausstellen zu lassen;
..."
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht die Klage abgewiesen. Es ging dabei von den eingangs wiedergegebenen Tatsachenfeststellungen aus. Rechtlich vertrat das Erstgericht die Ansicht, dass zu beurteilen sei, ob die bei der Zweitklägerin aufgetretene Pulpitis eine Erkrankung im Sinne der Reiseversicherungsbedingungen darstelle, welche die Kläger zum Rückflug bei Kostentragung der Beklagten berechtigte und ferner, ob die Kläger Obliegenheitsverletzungen zu verantworten hätten. Das Erstgericht legte dar, dass bei Stornierung einer Reise vor ihrem Antritt erforderlich sei, dass sowohl die schwere Erkrankung als auch die Reiseunfähigkeit von einem Facharzt bestätigt werde. Bei einem vorzeitigen Reiseabbruch sei die schwere Erkrankung und die Unfähigkeit des Versicherten, die Reise fortzusetzen, ebenfalls durch einen Facharzt zu bestätigen. Gegen diese Obliegenheit hätten die Kläger verstoßen, was grundsätzlich zur Leistungsfreiheit der Beklagten führe.
Zu prüfen sei allerdings noch, ob den Klägern zumutbar gewesen sei, die erforderliche Bestätigung eines Facharztes einzuholen. Hiezu vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass die Kläger in dem Wissen um die Notwendigkeit einer fachärztlichen Bestätigung - sich an der Hotelrezeption erkundigen hätten müssen, wo ein Zahnarzt erreichbar sei. Dass ein Mitarbeiter der Rezeption den Klägern mitteilte, dass es zu gefährlich sei, die Hotelanlage zu verlassen, könne der Beklagten nicht zugerechnet werden. Da das Hotel Ausflüge in die Umgebung anbiete, könne das Aufsuchen eines Zahnarztes "nicht so gefährlich" sein. Zumindest hätten aber die Kläger bei der Beklagten noch einmal Rücksprache halten müssen, was sie bei starken Zahnschmerzen tun sollen, ein Zahnarzt erst in zwei Tagen erreichbar sei und vom Verlassen der Hotelanlage abgeraten werde.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Kläger mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung dahin abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Mit ihrer Berufungsbeantwortung strebt die Beklagte die Bestätigung des Ersturteiles an.
Die Berufung ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die Kläger wenden sich gegen die Annahme des Erstgerichtes, es sei ihnen zumutbar gewesen, vor Reiseabbruch die Bestätigung eines Facharztes einzuholen. Das Erstgericht habe die Feststellung unterlassen, dass bei der Zweitklägerin eine Erkrankung vorlag, die zur Unfähigkeit führte, die Reise fortzusetzen, was sich aus dem zahnmedizinischen Gutachten des Sachverständigen ergebe, der einen vorzeitigen Abbruch der Reise aus medizinischen Gründen für gerechtfertigt halte. Das Erstgericht habe ferner nicht festgestellt, dass die Kläger insgesamt wenigstens zwanzigmal mit der Beklagten (ihrem Service Center) telefoniert hätten, Rückrufe der Beklagten aber nicht stattgefunden hätten und ihnen widersprüchliche Informationen erteilt worden seien. Den Klägern sei einmal mitgeteilt worden, die Zweitklägerin könne nach Hause fliegen, nicht aber der Erstkläger, während ein anderes Mal der Mitarbeiter des Service Center erklärt habe, er wisse nicht, ob der Rückflug gedeckt sei und dass alles im Nachhinein geklärt werden müsse. Daraus ergebe sich, dass die Kläger bemüht gewesen seien, mit der Beklagten eine Regelung zu erzielen, die Beklagte aber nicht rückgerufen habe, sodass die Kläger nicht verhalten gewesen seien, neuerlich mit der Beklagten Kontakt aufzunehmen. Immerhin hätten die Kläger € 194,25 für Telefonate mit der Beklagten aufgewendet, welche Tatsachenfeststellung das Erstgericht ebenfalls unterlassen habe.
Den Darlegungen der Berufungswerber ist im Ergebnis, wenn auch aus anderen Erwägungen, beizupflichten.
Art 7 ERV-RVB 2006 bestimmt in seinem Allgemeinen Teil als Obliegenheit des Versicherten, deren Verletzung Leistungsfreiheit des Versicherers gemäß § 6 VersVG bewirkt, dass der Versicherte unter anderem Versicherungsfälle nach Möglichkeit abzuwenden oder deren Folgen zu mindern und dabei allfällige Weisungen des Versicherers zu befolgen hat (1.1), den Versicherer über den eingetretenen Versicherungsfall ehestmöglich, erforderlichenfalls auch per Telfon, zu informieren hat (1.2) und alles ihm Zumutbare zu tun hat, um die Ursachen, den Hergang und die Folgen des Versicherungsfalles aufzuklären (1.4). Im Besonderen Teil (A) Stornoschutz unter anderem bei Abbruch einer Reise) wird als Versicherungsfall unter anderem eine plötzlich eintretende schwere Erkrankung (Art 13 Punkt 1.1) angesehen. Als Obliegenheit bestimmt hier Art 16 Z 2, dass der Versicherte verpflichtet ist, "eine entsprechende Bestätigung des behandelnden Arztes vor Ort ausstellen zu lassen", wenn die Reise aus medizinischen Gründen abgebrochen werden muss. Ferner ist der Versicherte verpflichtet, sich auf Verlangen des Versicherers durch einen von diesem beauftragten Facharzt/Vertrauensarzt untersuchen zu lassen (Art 16 Z 2). In ihrem Teil "E) Reisekrankenversicherung" ist Versicherungsfall unter anderem eine akut eintretende Erkrankung während einer Reise im Ausland (Art 38). In diesem Fall ersetzt der Versicherer die Kosten des Rücktransportes des Versicherten, organisiert durch den Versicherer, und zwar sobald dieser medizinisch sinnvoll und vertretbar ist (Art 39 Z 1.6) sowie die Kosten der Heimreise eines versicherten Mitreisenden (Art 39 Z 1.8). Als Obliegenheiten bestimmt hier Art 43, dass der Versicherte verpflichtet ist, den Versicherungsfall ehestmöglich zu melden. Organisatorische Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Leistungsumfang müssen vom Versicherer getroffen werden; anderenfalls werden keine Kosten ersetzt.
Hieraus folgt zunächst, dass sich die Beklagte widersprüchlicher Bedingungen bedient, denn Versicherungsfall bei der Reisekrankenversicherung ist der Eintritt einer "akut eintretenden Erkrankung" während der Reise im Ausland (Art 38), während beim Stornoschutz bei Abbruch einer Reise als Versicherungsfall eine "plötzlich eintretende schwere Erkrankung" vorliegen muss (Art 13). Die Obliegenheiten beim Stornoschutz (Art 16 Z 2 und Z 3) decken sich wiederum nicht mit den Obliegenheiten bei der Reisekrankenversicherung (Art 43). Hinzu kommt, dass sich der Versicherte zwar auf Verlangen des Versicherers durch einen von diesem beauftragten Facharzt/Vertrauensarzt untersuchen lassen muss (Art 16 Z 3) dieser Fall liegt hier nicht vor, denn den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes ist nicht zu entnehmen, dass die Beklagte einen Facharzt/Vertrauensarzt zur Untersuchung der Zweitklägerin beauftragt hätte -, während die Beibringung einer fachärztlichen Bestätigung durch den Versicherten von Art 16 Z 2, der nur die Ausstellung einer "entsprechenden Bestätigung des behandelnden Arztes vor Ort" vorsieht, nicht geboten ist. Art 16 Z 2 deckt demnach nach seinem Wortlaut auch die Ausstellung einer ärztlichen Bestätigung durch den Hotelarzt, die von den Klägern über Verlangen der Beklagten leicht beigebracht werden hätte können. Die Belehrung der Kläger durch die Beklagte, dass die Bestätigung eines Facharztes (hier: Zahnarztes) vorliegen müsse, war jedenfalls unrichtig und für die Kläger irreführend.
Art 7 ERV-RVB 2006 listet unter Z 1 die Obliegenheiten auf, deren Verletzung die Leistungsfreiheit gemäß § 6 VersVG nach sich zieht. Es ist nicht erkennbar, dass die Kläger gegen eine unter Z 1 angeführte Obliegenheit verstoßen haben. Z 2 des Art 7 verweist darauf, dass neben diesen allgemeinen (unter Z 1 angeführten) Obliegenheiten noch besondere in den Art 16, 26, 32, 43 und 48 geregelt seien. Ob auch ein Verstoß gegen diese vereinbarungsgemäß Leistungsfreiheit bewirkt, ist weder Art 16 noch Art 43 zu entnehmen, weil die genannten Artikel andres als etwa Art 32 - keinen Hinweis auf die Leistungsfreiheit des Versicherers enthalten. Art 16 verstößt insoweit gegen das in § 6 Abs 3 KSchG verankerte Transparenzgebot.
Nach der Rechtsprechung muss der Versicherer die objektive Verletzung der Obliegenheit durch den Versicherungsnehmer nachweisen. Hat der Versicherer diese bewiesen, hat der Versicherungsnehmer sein mangelndes Verschulden sowie mangelnde Kausalität zu beweisen (RIS-Justiz RS0043728 und 0081313), wobei leichte Fahrlässigkeit ohne Sanktion bleibt (7 Ob 43/98v; 7 Ob 63/02v uva).
Nach § 6 Abs 3 VersVG bleibt der Versicherer zur Leistung verpflichtet, soweit die Verletzung einer vereinbarten Obliegenheit weder auf die Feststellung des Versicherungsfalles noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung Einfluss gehabt hat. Aus der fahrlässigen Verletzung einer vereinbarten Obliegenheit kann der Versicherer nach § 6 Abs 5 VersVG Rechte nur ableiten, wenn dem Versicherungsnehmer vorher die Versicherungsbedingungen ausgefolgt worden sind oder ihm eine andere Urkunde ausgefolgt worden ist, in der die Obliegenheit mitgeteilt wird. Dass den Klägern die Versicherungsbedingungen oder eine andere Urkunde, in der die Obliegenheit mitgeteilt wurde, ausgefolgt worden ist, ist nicht festgestellt. Ebenso wenig ist erkennbar, inwieweit im hier zu beurteilenden Fall die Unterlassung der Beibringung einer ärztlichen Bestätigung auf die Feststellung des Versicherungsfalles oder auf den Leistungsumfang Einfluss gehabt haben könnte. Im Gegenteil: Es steht fest, dass bei der Zweitklägerin plötzlich starke Zahnschmerzen auftraten, welche auf eine Pulpitis zurückzuführen waren, dass die von der Zweitklägerin eingenommenen Schmerzmittel nicht ausreichend griffen und der Hotelarzt der Zweitklägerin mitteilte, dass man "den Kiefer aufschneiden müsse, um sehen zu können, was los sei". Damit lag bei der Zweitklägerin der Versicherungsfall nach Art 38 (akut eintretende Erkrankung) ohne jeden Zweifel vor. Ob auch der Versicherungsfall nach Art 13 Z 1.1 vorlag (plötzlich eintretende schwere Erkrankung), muss daher nicht mehr geprüft werden. Ebenso ist eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der "Reiseunfähigkeit" entbehrlich, weil sich Abs 2 der genannten Bestimmung eindeutig auf den Nichtantritt der gebuchten Reise bezieht und nicht auf den Reiseabbruch. Der Leistungsumfang ist ohnehin nicht strittig.
Die Auffassung der Berufungsgegnerin, wonach der ärztliche Sachverständige durch seine Darlegung, dass der vorzeitige Abbruch der Reise aus "medizinischen Gründen gerechtfertigt erscheine", seine Kompetenz als Gutachter überschritten habe, wird vom Berufungssenat nicht geteilt, weil es im vorliegenden Verfahren gerade darum ging, ob die Reise "aus medizinischen Gründen" abgebrochen werden musste. Abgesehen davon halten sich die Ausführungen des Gutachters im Rahmen des ihm erteilten Auftrages. Dass ferner die medizinische Unfähigkeit, die Reise fortzusetzen, bedingungskonform von einem Facharzt bestätigt werden müsse (lit b) der Berufungsbeantwortung), entspricht nicht dem Text der ERV-RVB 2006. Die Frage wiederum, ob Erklärungen des "Herrn Cesar" der Beklagten zuzurechnen seien, ist ebenso wenig entscheidungswesentlich wie der Zeitpunkt, zu welchem die Kläger den Entschluss fassten, die Reise abzubrechen.
Zusammenfassend folgt hieraus:
1.) Der Versicherungsfall nach Art 38 ist bei der Zweitklägerin durch eine akute Pulpitis mit starken Zahnschmerzen eingetreten.
2.) Die Beklagte hat keinen Facharzt/Vertrauensarzt beauftragt, die Zweitklägerin zu untersuchen.
3.) Die Beklagte hat die Zweitklägerin unrichtig belehrt, dass eine Bestätigung des Hotelarztes nach Art 16 Z 2 ERV-RVB nicht ausreicht.
4.) Die Beklagte hat keine Maßnahmen zur Organisation des Rücktransportes der Kläger vorgenommen (Art 39 Z 1.6 und Z 1.8 sowie Art 43).
5.) Die Unterlassung der Beibringung einer ärztlichen Bestätigung hatte weder auf die Feststellung des Versicherungsfalles noch auf die Feststellung des Leistungsumfanges Einfluss (§ 6 Abs 3 VersVG).
6.) Es ist nicht festgestellt, ob den Klägern die Versicherungsbedingungen ausgefolgt wurden (§ 6 Abs 5 VersVG).
7.) Art 16 Z 2 ERV-RVB enthält keinen Hinweis auf die Leistungsfreiheit und verstößt gegen § 6 Abs 3 KSchG.
8.) Gegen eine unter Art 7 Z 1 ERV-RVB bestimmte Obliegenheit haben die Kläger nicht verstoßen.
Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt haben nicht die Kläger gegen vereinbarte Obliegenheiten, die Leistungsfreiheit bewirken, verstoßen, sondern die Beklagte ist ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Leistungsfreiheit der Beklagten ist nicht eingetreten. Die Beklagte, die den Rücktransport nicht organisierte, hat den Klägern die Kosten des Rücktransportes zu ersetzen. Der Höhe nach ist der Leistungsumfang nicht strittig.
Der Berufung war aus den dargelegten Gründen stattzugeben und das Ersturteil im Sinne der Klagsstattgebung abzuändern.
Die Abänderung des Ersturteiles führt zur Neubemessung der Verfahrenskosten erster Instanz. Die Replik vom 15. April 2009 war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung der Kläger nicht erforderlich. Die Rücküberweisung der nicht verbrauchten Kostenvorschüsse war zu berücksichtigen. Darüber hinaus stützen sich die Kostenentscheidungen auf die §§ 41 und 50 ZPO.
Textnummer
EKL00106European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LG00729:2010:00100R00312.09S.0702.000Im RIS seit
16.09.2010Zuletzt aktualisiert am
20.09.2010