Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und VPr. Susanna Höller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Margarete H*****, vertreten durch Dr. Sabine Reichl, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. März 2010, GZ 10 Rs 20/10z-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 9. Juni 2009, GZ 10 Cgs 275/08s-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid der beklagten Partei vom 23. 6. 2008 wurde der Antrag der Klägerin vom 5. 5. 2008 auf Gewährung des Pflegegelds abgelehnt.
Das Erstgericht gab dem von der Klägerin dagegen erhobenen Klagebegehren insoweit statt, als es die beklagte Partei verpflichtete, der Klägerin ab dem 1. 1. 2009 Pflegegeld der Stufe 1 „in gesetzlicher Höhe“ zu gewähren. Das Mehrbegehren auf Gewährung des Pflegegelds auch für den Zeitraum vom 1. 6. 2008 bis einschließlich 31. 12. 2008 wies es unbekämpft ab. Nach seinen Feststellungen leidet die am 26. 6. 1954 geborene Klägerin im Wesentlichen an einer „somatisierenden Depression“ - ICD 10 - F 45.0 bei fraglicher Diagnose der Unterbegabung, an Bluthochdruck, altersentsprechenden Aufbrauchserscheinungen des Stütz- und Bewegungsapparats sowie an einem Zustand nach Lungen- und Rippenfellentzündung. Bei der Untersuchung (durch den neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen) erwies sich die Klägerin als zeitlich, örtlich und situativ voll orientiert, im Ductus kohärent das Denkziel erreichend. Es besteht eine einfach strukturierte Persönlichkeit. Wahnvorstellungen oder Sinnestäuschungen waren nicht feststellbar. Die Stimmungslage wirkte weinerlich, im Affekt arm korrespondierend. Es war keine psychiatrische Plussymptomatik fassbar. Rein körperlich ist die Klägerin grundsätzlich in der Lage, alle körperlichen Arbeiten zu den üblichen Arbeitszeiten und Arbeitspausen unter städtischen und ländlichen Anmarschbedingungen auszuüben. Sie bedarf jedoch nach den weiteren Feststellungen des Erstgerichts fremder Hilfe für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie für die Pflege der Leib- und Bettwäsche und aus psychiatrischer Sicht auch der Hilfe bei der Einnahme der Medikamente sowie der Motivation für alle Verrichtungen des täglichen Lebens.
In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, dass der Pflegebedarf der Klägerin für die genannten Verrichtungen ab 1. 6. 2008 insgesamt 44 Stunden monatlich und ab 1. 1. 2009 69 Stunden monatlich betrage, da ab diesem Zeitpunkt aufgrund der Pflegegeldgesetznovelle 2009 „weitere 25 Stunden im Hinblick auf die rezidivierende Depression dazuzurechnen seien“.
Das Berufungsgericht wies über Berufung der beklagten Partei das Klagebegehren der Klägerin auch für den Zeitraum ab 1. 1. 2009 ab. Nach den Feststellungen des Erstgerichts leide die Klägerin insbesondere in der Zusammenschau der „Minderbegabung“ mit den „rezidivierenden-depressiven Episoden“ an einer schweren psychischen Erkrankung. Diese löse allerdings auch unter Berücksichtigung der übrigen festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin keinen erhöhten Pflegebedarf iSd § 4 Abs 5 und 6 BPGG idF BGBl I 2008/128 aus. Pflegeerschwerende Faktoren, die einen Mehraufwand der gesamten Pflegesituation bedingten, seien nicht zu erkennen. Eine zusätzliche Berücksichtigung des Erschwerniszuschlags zum festgestellten Pflegebedarf von 44 Stunden monatlich komme daher nicht in Betracht. Die Klägerin erfülle somit auch ab 1. 1. 2009 nicht die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegelds.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision im Hinblick auf das Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Voraussetzungen für die Gewährung eines Erschwerniszuschlags iSd § 4 Abs 5 und 6 BPGG zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens für den Zeitraum ab 1. 1. 2009 abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
Die Klägerin macht in ihren Revisionsausführungen - zusammengefasst - geltend, die bei ihr festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien zweifellos als Störungen des Antriebs, der emotionalen Kontrolle und/oder der sozialen Funktion anzusehen. Damit liege bei ihr in Summe eine schwere Verhaltensstörung vor, welche die Berücksichtigung des Erschwerniszuschlags iSd § 4 Abs 5 und 6 BPGG rechtfertige. Ihr Pflegebedarf betrage daher unter Berücksichtigung dieses Erschwerniszuschlags von 25 Stunden monatlich seit 1. 1. 2009 insgesamt 69 Stunden monatlich, weshalb ihr ab diesem Zeitpunkt Pflegegeld der Stufe 1 gebühre.
Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:
1. Bei der Klägerin besteht ein unstrittiger Pflegebedarf von 44 Stunden monatlich für die notwendige Hilfe bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, der Pflege der Leib- und Bettwäsche, der Einnahme von Medikamenten und für Motivationsgespräche. Strittig ist allein die Frage, ob bei der Bemessung des Pflegebedarfs der Klägerin auch der Erschwerniszuschlag bei schwerer geistiger oder psychischer Behinderung iSd § 4 Abs 5 und 6 BPGG idF der BPGG-Nov BGBl I 2008/128 zu berücksichtigen ist.
2. Nach § 4 Abs 5 BPGG idF BGBl I 2008/128 ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von pflegebedürftigen Personen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, insbesondere einer demenziellen Erkrankung, auf die besondere Intensität der Pflege in diesen Fällen Bedacht zu nehmen. Um den erweiterten Pflegebedarf von pflegebedürftigen Personen mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, insbesondere mit einer demenziellen Erkrankung, entsprechend zu erfassen, ist zusätzlich jeweils ein Pauschalwert hinzuzurechnen, der den Mehraufwand für die aus der schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, insbesondere einer demenziellen Erkrankung, erfließenden pflegeerschwerenden Faktoren der gesamten Pflegesituation pauschal abzugelten hat (Erschwerniszuschlag). Nach § 4 Abs 6 BPGG idF BGBl I 2008/128 liegen solche pflegeerschwerende Faktoren gemäß Abs 5 vor, wenn sich Defizite der Orientierung, des Antriebs, des Denkens, der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen, der sozialen Funktion und der emotionalen Kontrolle in Summe als schwere Verhaltensstörung äußern.
2.1 Nach den Erläuternden Bemerkungen zur RV 677 BlgNR XXIII. GP 7 f soll mit den Regelungen des § 4 Abs 5 und 6 BPGG eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen werden, dass auch bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von pflegebedürftigen Personen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung, insbesondere einer demenziellen Erkrankung, auf die besondere Intensität der Pflege in diesen Fällen Bedacht genommen werden kann. Bei dem Erschwerniszuschlag geht es nach der Intention des Gesetzgebers nicht um eine Graduierung der Schwere der jeweiligen Behinderung im Sinne einer diagnosebezogenen Betrachtungsweise, sondern um die Berücksichtigung des Mehraufwands der aus dieser Behinderung erfließenden pflegeerschwerenden Faktoren, die in § 4 Abs 6 BPGG präzisiert sind. Wesentlich für die Berücksichtigung des Erschwernisfaktors sind die Auswirkungen der pflegeerschwerenden Faktoren in der Pflege, die natürlich auch unterschiedlich gewichtet sein können. Diese funktionsbezogene Betrachtungsweise entspricht auch dem grundsätzlichen Konzept des derzeitigen Pflegegeldeinstufungssystems. Es sollen durch den Erschwerniszuschlag pflegeerschwerende Faktoren berücksichtigt werden, die bislang noch nicht Berücksichtigung fanden.
2.2 Die in § 4 Abs 6 BPGG angeführten pflegeerschwerenden Faktoren (Defizite der Orientierung, des Antriebs, des Denkens, der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen, der sozialen Funktion und der emotionalen Kontrolle) werden in den Gesetzesmaterialien (RV 677 BlgNR XXIII. GP 8) wie folgt näher umschrieben: Störung der Orientierung bedeutet, dass ein Zurechtfinden in zeitlicher, räumlicher und situativer Dimension nicht mehr gegeben ist. Störungen des Antriebs bedeutet, dass die Aktivität verändert ist. Es kommt entweder zu Überreaktionen bis hin zur Aggressivität oder zu fehlender Reaktion bis hin zum vollkommenen Rückzug. Störungen des Denkens bedeutet, dass Gedächtnisleistung, Konzentration und Auffassungsfähigkeit eingeschränkt sind und daher logische Abfolgen nicht entwickelt und erfasst werden können. Störungen der emotionalen Kontrolle bedeutet, dass die Reaktion auf Situationen, Herausforderungen, Belastungen, äußere Eindrücke nicht angemessen ist. Störung der sozialen Funktion bedeutet, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen (zB Familie, Freundeskreis, Arbeitswelt) beeinträchtigt sind. Die angeführten Bereiche steuern in Summe das Verhalten. Schwere Störungen im Verhalten führen zu bedrohlich wahrgenommenen Reaktionen im Alltag und massiven Belastungen sozialer Gefüge. Die Verwendung der Formulierung „in Summe“ in § 4 Abs 6 BPGG bedeutet nicht, dass jedes einzelne dieser Defizite vorliegen muss. Vielmehr wird dadurch nur zum Ausdruck gebracht, dass diese insgesamt (in Summe und nicht jede einzelne für sich) eine schwere Verhaltensstörung zur Folge haben. Maßgeblich ist daher im Ergebnis, dass die im § 4 Abs 6 BPGG aufgezählten Defizite eine „schwere Verhaltensstörung“ zur Folge haben (vgl Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld2 Rz 524).
2.3 Gemäß § 49 Abs 13 BPGG treten unter anderem die §§ 4 Abs 3 bis 7 und 48a idF BGBl I 2008/128 mit 1. 1. 2009 in Kraft. Gemäß § 48a Abs 3 BPGG sind bei allen am 1. 1. 2009 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf Zuerkennung oder Erhöhung des Pflegegelds für den Zeitraum bis 31. 12. 2008 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruchs geltenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zugrundezulegen. Dies gilt nach § 48a Abs 4 BPGG auch für gerichtliche Verfahren.
2.4 Der Erschwerniszuschlag nach § 4 Abs 5 BPGG wurde mit § 1 Abs 6 EinstV idF BGBl II 2008/469 mit einem Pauschalwert im Ausmaß von 25 Stunden monatlich festgelegt. Nach den Erläuterungen zur EinstV 2008 (vgl Fürstl-Grasser/Rudda, Die Einstufungsverordnung [2008] zum Bundespflegegeldgesetz samt Erläuterungen, SozSi 2009, 106 ff) wurde für den Erschwerniszuschlag zur leichteren Administrierbarkeit ein Fixwert, der weder über- noch unterschritten werden kann, vorgesehen, da es sich hiebei um eine völlig neue Betreuungsmaßnahme handelt, die jene Bedarfsbereiche in Form eines pauschalierten Erschwerniszuschlags erfassen soll, die bislang noch nicht entsprechend berücksichtigbar waren. Gerade aber, weil es sich hier um eine völlig neue Betreuungsmaßnahme handelt, die lediglich die pflegeerschwerenden Faktoren zusätzlich zu den herkömmlichen Einstufungskriterien erfassen soll, bleibt die gleichzeitige Berücksichtigung der übrigen Betreuungsbedarfskriterien einschließlich der systemimmanenten Überschreitungsmöglichkeiten unverändert aufrecht. Dies bedeutet, dass der Erschwerniszuschlag auch neben einem Betreuungsbedarf für Motivationsgespräche berücksichtigt werden kann, da es sich dabei um zwei unterschiedliche Kategorien an Betreuungsbedarf handelt (vgl Greifeneder/Liebhart aaO Rz 525).
3. Ausgehend von den dargelegten Grundsätzen ist das Berufungsgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung des Erschwerniszuschlags iSd § 4 Abs 5 BPGG im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind. Auch wenn man mit den Revisionsausführungen der Klägerin davon ausgeht, dass bei ihr eine schwere psychische Behinderung mit daraus resultierenden Defiziten im Bereich des Antriebs und der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen vorliege, könnten diese Defizite im Ergebnis nicht als schwere Verhaltensstörung gewertet werden. Nach den maßgebenden Feststellungen der Vorinstanzen leidet die Klägerin im Wesentlichen an einer somatisierenden Depression bei Unterbegabung, welche zu einer Antriebsstörung geführt hat. Die Klägerin benötigt daher fremde Hilfe bei der Medikamenteneinnahme sowie die Führung eines regelmäßigen Motivationsgesprächs. In einem solchen Gespräch werden etwa der Kochplan, der dazugehörige Einkaufsplan oder andere Alltagsverrichtungen für den nächsten oder übernächsten Tag besprochen und deren jeweiliger Ablauf festgelegt. Mit dieser konkreten Tagesstrukturierung wird dem Pflegebedürftigen die selbständige Lebensführung ermöglicht bzw erleichtert (vgl Greifeneder/Liebhart aaO Rz 504 mwN). Bei Berücksichtigung des Umstands, dass bei der Bemessung des Pflegebedarfs der Klägerin ein Pflegebedarf für motivierende Gespräche zur selbständigen Durchführung der einzelnen Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen bereits berücksichtigt wurde, kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass die bei der Klägerin im Bereich des Antriebs und der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen bestehenden Defizite in einem Ausmaß vorliegen, dass sie in Summe als schwere Verhaltensstörung zu bewerten wären. Für das Vorliegen weiterer pflegeerschwerender Faktoren iSd § 4 Abs 6 BPGG bieten die von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen keine Anhaltspunkte. Soweit die Klägerin ergänzende Feststellungen über frühere Behandlungen und Diagnoseerstellungen begehrt, ist darauf hinzuweisen, dass diese Umstände bei der Gutachtenserstellung durch die Sachverständigen im gegenständlichen Verfahren bereits berücksichtigt wurden.
Da der Pflegebedarf der Klägerin somit auch nach der ab 1. 1. 2009 geänderten Rechtslage 50 Stunden monatlich nicht übersteigt, erweist sich das Klagebegehren insgesamt als nicht berechtigt. Der Revision muss daher ein Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
Schlagworte
12 Sozialrechtssachen,Textnummer
E94752European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:010OBS00099.10X.0727.000Im RIS seit
12.09.2010Zuletzt aktualisiert am
15.02.2013