TE OGH 2010/7/29 Bsw3295/06

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Veröffentlicht am 29.07.2010
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Agraw gegen die Schweiz, Urteil vom 29.7.2010, Bsw. 3295/06.

Spruch

Art. 8 EMRK - Familienleben bei Unmöglichkeit der Abschiebung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.330,– für materiellen Schaden, € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 526,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist äthiopische Staatsbürgerin. Im August 1998 stellte sie in der Schweiz einen Asylantrag und wurde gemäß Art. 27 Abs. 3 des Schweizer Asylgesetzes einem Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge im Kanton Bern zugewiesen. Am 24.8.2000 wurde ihr Asylantrag abgewiesen und ihre Ausreise bis zum 30.10.2000 angeordnet. Die Bf. blieb jedoch in der Schweiz.

Im Jänner 1999 beantragte der ebenfalls aus Äthiopien stammende T. A. in der Schweiz Asyl. Er wurde dem Kanton Waadt zugewiesen. Auch sein Asylantrag wurde abgewiesen und seine Ausreise angeordnet. Wie die Bf. verblieb auch er auf Schweizer Staatsgebiet.

2002 heirateten die Bf. und T. A. in Lausanne. Danach beantragten sie zweimal, der Bf. den Aufenthalt bei ihrem Mann im Kanton Waadt zu ermöglichen. Das Bundesamt für Flüchtlinge wies die Anträge jedoch am 16.10. bzw. 28.11.2002 ab, da ihre Asylanträge rechtskräftig abgewiesen worden und die Ausreisefristen bereits verstrichen seien, weshalb keine Möglichkeit für eine Änderung der kantonalen Zuweisung mehr bestünde. Eine Berufung der Bf. wurde am 5.9.2003 letztinstanzlich abgewiesen.

Ein im November 2003 erneut gestellter Antrag der Bf. auf Zusammenführung mit ihrem Ehemann wurde als Revisionsantrag interpretiert und als solcher mit der Begründung abgewiesen, die Vollstreckung der Ausweisung sei noch im Gange. Zwar sei zur Zeit die zwangsweise Ausweisung nach Äthiopien nicht durchführbar. Freiwillige Ausreisen seien jedoch jederzeit möglich.

Die Bf. beantragte daraufhin beim eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement die Nichtigerklärung dieser Entscheidung sowie die kantonale Neuzuweisung und machte geltend, dass die Weigerung, einem Ehepaar das Zusammenleben zu ermöglichen, den Art. 8 und 12 EMRK zuwiderliefe. Am 23.6.2005 teilte sie den Behörden mit, dass sie einen Sohn geboren habe, der nun getrennt von seinem Vater lebe.

Das Departement wies den Antrag am 7.7.2005 ab und führte aus, dass das Asylgesetz keine Möglichkeit vorsehe, die kantonale Zuweisung zu ändern, wenn das Asylverfahren – wie vorliegend – beendet sei. Was die behaupteten Konventionsverletzungen betreffe, sei Art. 12 EMRK nicht anwendbar und würde Art. 8 EMRK kein Recht auf Aufenthalt in einem Staat und noch weniger in einem bestimmten Teil davon gewähren. Die freiwillige Rückkehr des Ehepaares nach Äthiopien sei außerdem jederzeit möglich und der Bf. und ihrem Mann sei bei der Heirat bewusst gewesen, dass sie kein Recht haben würden, gemeinsam in der Schweiz zu leben. Die Geburt des Kindes habe daran nichts geändert, sondern viel mehr gezeigt, dass trotz der Situation ein regelmäßiger Kontakt der Ehepartner möglich war.

Am 24.5.2007 erhielt der Ehemann der Bf. eine Aufenthaltsgenehmigung für den Kanton Waadt. Am 7.1.2008 wurde der Aufenthalt der Bf. und ihres Sohnes im selben Kanton autorisiert, da eine eheliche Verbindung vorliege und die Bf. daher ein Recht auf Familieneinheit habe. Gestützt wurde die Entscheidung unter anderem auf eine Weisung des Migrationsbüros vom Jänner 2008.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. rügt das Versäumnis der Behörden, ihre kantonale Zuweisung abzuändern, sodass sie mit ihrem Ehemann zusammen leben hätte können.

1. Zur Zulässigkeit

Die Regierung schlägt vor, die Beschwerde aus der Liste zu streichen, da der Bf. im Jänner 2008 der Aufenthalt im Kanton Waadt genehmigt worden sei und die Angelegenheit daher als gelöst angesehen werden könne.

Dieses Vorbringen betrifft den Opferstatus der Bf. »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK ist jene Person, die direkt von der umstrittenen Maßnahme betroffen ist. Eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Betroffenen bewirkt prinzipiell nur dann den Wegfall der Opfereigenschaft, wenn die Behörden den Konventionsverstoß anerkannt und die Verletzung wiedergutgemacht haben. Die Entscheidung, der Bf. Aufenthalt im Kanton Waadt zu gewähren, hat die Opfereigenschaft der Bf. in Hinblick auf die Verletzungen nicht beseitigt, die sie hinsichtlich der Abweisung ihrer Anträge auf Änderung der kantonalen Zuweisung behauptet. Auch hat sie für die fortgesetzte Trennung von ihrem Ehemann nie eine Entschädigung erhalten. Sie kann daher weiterhin behaupten, Opfer der gerügten – mehr als fünf Jahre dauernden – Konventionsverletzung zu sein. Die Einrede der Regierung ist zurückzuweisen.

Die Regierung behauptet zudem, die Beschwerde sei ratione materiae und wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurückzuweisen. Der GH hält sie jedoch nicht für offensichtlich unbegründet. Die Frage der Vereinbarkeit ratione materiae wird er zusammen mit der Sache prüfen. Da die Beschwerde aus keinem anderen Grund unzulässig ist, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).

2. In der Sache

a. Anwendbarkeit von und Eingriff in Art. 8 EMRK

Der GH teilt die Ansicht der nationalen Behörden nicht, Art. 8 EMRK sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Er erinnert daran, dass die Asylanträge der Bf. und ihres Ehemanns im Jahr 2000 abgewiesen wurden, sie sich jedoch bei ihrer Eheschließung und den anschließenden Anträgen, die Bf. dem Kanton Waadt zuzuweisen, immer noch in der Schweiz befanden. Zu diesen Zeitpunkten war klar, dass eine Rückverbringung nach Äthiopien in naher Zukunft nicht denkbar war. Unter diesen Umständen und in Anbetracht des fortgesetzten Aufenthalts des Paares unterstand dieses der Jurisdiktion der Schweiz, die damit ihre konventionsrechtliche Verantwortlichkeit wahrnehmen musste.

Die Bf. wurde ausdrücklich mehr als fünf Jahre daran gehindert, mit ihrem Mann zusammenzuleben. In Anbetracht des Prinzips, demnach für Ehegatten das Leben als Paar eines der essentiellen Elemente des Rechts auf Achtung des Familienlebens darstellt, ist der GH der Meinung, dass der Bf. – jedenfalls ab dem Zeitpunkt ihrer Heirat – die Garantien des Art. 8 EMRK zukamen.

Die Weigerung der Behörden, die Bf. jenem Kanton zuzuweisen, in dem ihr Ehemann lebte, begründete somit einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens. Dieser stellt eine Konventionsverletzung dar, wenn er nicht iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist.

b. Rechtfertigung des Eingriffs

Die Entscheidungen, die die Bf. davon abhielten, mit ihrem Mann zusammenzuleben, waren auf Art. 27 Schweizer Asylgesetz gestützt, dessen Abs. 3 vorsieht, dass das Bundesamt bei der Zuweisung von Asylwerbern vor allem die legitimen Interessen der Kantone zu berücksichtigen hat. Das Prinzip, dem zufolge eine Änderung der Zuweisung nicht mehr möglich ist, wenn das Asylverfahren endgültig abgeschlossen ist, wurde in einem Urteil des Bundesgerichts bestätigt.

Was das Vorliegen eines legitimen Ziels betrifft, so ist der GH in Anbetracht der Vorbringen der Parteien der Ansicht, dass die verweigerte Änderung der kantonalen Zuweisung darauf abzielte, Asylwerber gerecht auf die Kantone zu verteilen. Soweit sich dieses Interesse dem Begriff des »wirtschaftlichen Wohls des Landes« zuordnen lässt, wurde mit der strittigen Maßnahme ein in Art. 8 Abs. 2 EMRK genanntes legitimes Ziel verfolgt.

Der GH muss nun prüfen, ob zwischen den Interessen der Bf. und ihres Ehemannes einerseits und dem Ziel der gerechten Aufteilung der Asylwerber auf die Kantone andererseits ein gerechter Ausgleich geschaffen wurde.

Die Bf. wurde über fünf Jahre hinweg daran gehindert, mit ihrem Mann ein Eheleben zu führen. Die Betroffenen lebten zwar nur eineinhalb Zugstunden von einander entfernt und hatten, wie ihre Heirat und die Geburt ihres Sohnes zeigt, auch die Möglichkeit zu regelmäßigem Kontakt. Dennoch stellte die anhaltende Trennung der Bf. von ihrem Mann eine schwere Beschränkung ihres Rechts auf Achtung des Familienlebens dar.

Den Behörden ist sicherlich in gewissem Maße ein Interesse daran zuzugestehen, den Status abgewiesener Asylwerber nicht zu ändern. Hier ist aber wichtig anzumerken, dass die Durchführung der Abschiebung der Bf. und ihres Mannes unmöglich und das Paar daran gehindert war, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und so ein Familienleben außerhalb der Schweiz zu begründen. Aus früheren Weisungen des Bundesamtes geht hervor, dass die äthiopischen Behörden seit 1993 systematisch die Rückführung ihrer Staatsbürger behindern.

Nach Ansicht des GH hätte die Zuweisung der Bf. in den Kanton Waadt – auch wenn das Ziel der gleichmäßigen Verteilung von Asylwerbern vielleicht als Maßnahme zur Wahrung des wirtschaftlichen Wohls des Landes angesehen werden kann – weder eine besondere Auswirkung auf die Anzahl der in diesem Kanton zugewiesenen Fremden gehabt, noch die gerechte Verteilung von Asylwerbern gestört oder die öffentliche Ordnung verletzt. Die positiven Effekte des vom Staat angewendeten Systems haben vorliegend weit weniger Gewicht als die Interessen der Bf. Sicher bedingt die Zuweisung von einem Kanton in einen anderen einen gewissen Verwaltungsaufwand, doch geht das Interesse der Bf., mit ihrem Ehemann zusammenzuleben, vor.

Aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls und in Anbetracht der vielen Jahre, während derer die Bf. ausdrücklich an einem Zusammenleben mit ihrem Ehemann gehindert wurde, befindet der GH, dass die strittige Maßnahme nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war und daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt (einstimmig).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 2.330,– für materiellen Schaden, € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 526,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Abdulaziz, Cabales und Balkandali/GB v. 28.5.1985, EuGRZ 1985, 567.

Gül/CH v. 19.2.1996, NL 1996, 41; ÖJZ 1996, 593.

Ahmut/NL v. 28.11.1996, NL 1996, 171; ÖJZ 1997, 676.

Boultif/CH v. 2.8.2001, NL 2001, 159.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.7.2010, Bsw. 3295/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 248) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Agraw.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01021

Im RIS seit

13.12.2010

Zuletzt aktualisiert am

31.03.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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