TE OGH 2010/8/10 1Ob114/10m

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Veröffentlicht am 10.08.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann, Dr. E. Solé und Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mohammed D*****, vertreten durch Dr. Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 10.680,22 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 5.456,37 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 24. März 2010, GZ 14 R 36/10g-14, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. Dezember 2009, GZ 31 Cg 8/09p-9, teilweise abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die im Zuspruch von 5.223,85 EUR sA rechtskräftig sind, werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt lauten:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 10.323,85 EUR samt 4 % Zinsen seit 27. 1. 2009 zu zahlen und die mit 4.548,19 EUR bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen (darin enthalten 554,03 EUR USt und  1.224 EUR Barauslagen) zu ersetzen.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 356,37 EUR samt 4 % Zinsen seit 27. 1. 2009 zu zahlen, wird abgewiesen.“

Text

Entscheidungsgründe:

Nach Abweisung des Asylantrags des Klägers mit Bescheid des Bundesasylamts vom 9. 9. 2008 wurde am 27. 9. 2008 die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Der Kläger wurde am gleichen Tag in Schubhaft genommen. Mit Bescheid vom 2. 10. 2008 wurde über den Kläger ein Aufenthaltsverbot verhängt. Am 8. 10. 2008 beantragte der Kläger die neuerliche Zustellung des Asylbescheids und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Einbringung der Berufung gegen diesen Bescheid, der nicht wirksam zugestellt worden sei. Beiden Anträgen gab das Bundesasylamt mit Bescheid vom 21. 10. 2008 nicht statt. Am 16. 10. 2008 erhob der Kläger - bereits vertreten durch den Klagevertreter - Berufung gegen das am 2. 10. 2008 verhängte Aufenthaltsverbot und verwies darauf, dass das Asylverfahren wegen der nicht rechtswirksamen Zustellung des Asylbescheids noch nicht abgeschlossen sei. Mit Schriftsatz vom 21. 1. 2009 erhob der Kläger schließlich eine Schubhaftbeschwerde, der der Unabhängige Verwaltungssenat (UVS) Wien am 27. 1. 2009 Folge gab und dabei feststellte, dass die Anhaltung in Schubhaft seit 27. 9. 2008 rechtswidrig gewesen sei und die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft nicht vorlägen, weil das Asylverfahren mangels rechtswirksamer Zustellung des negativen Asylbescheids noch nicht abgeschlossen sei.

Der Kläger begehrt eine Haftentschädigung von 10.200 EUR (12.300 EUR - Zahlung 2.100 EUR) sowie die Kosten des Aufforderungsschreibens von 480,22 EUR (604,44 EUR - Zahlung 124,22 EUR), insgesamt daher 10.680,22 EUR.

Die Beklagte wendete - soweit noch relevant - ein Mitverschulden des Geschädigten nach § 1304 ABGB ein, weil der anwaltlich vertretene Kläger bei der bereits am 8. 10. 2008 möglichen und zumutbaren Erhebung der Schubhaftbeschwerde die Aufhebung der Schubhaft zumindest ab 18. 10. 2008 erreicht hätte. Das Aufforderungsschreiben sei entgegen der Auffassung des Klägers nur nach TP 2 RATG zu honorieren.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt. Bei der von Anfang an rechtswidrigen Verhängung und der rechtswidrigen Aufrechterhaltung einer Schubhaft scheide ein Mitverschulden des Geschädigten aus. Für das Aufforderungsschreiben seien Kosten nach TP 3A RATG im Betrag von 604,44 EUR abzüglich der bereits vor Klagseinbringung bezahlten 124,22 EUR zu ersetzen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, die einen Zuspruch von 123,85 EUR sA (Kosten für das Aufforderungsschreiben) unbekämpft ließ, teilweise statt, verpflichtete die Beklagte (rechtskräftig) zur Zahlung von 5.223,85 EUR sA (Haftentschädigung 5.100 EUR, Kosten des Aufforderungsschreibens 123,85 EUR) und wies das Mehrbegehren von 5.456,37 EUR sA ab. Zwar gelte § 2 Abs 2 AHG, der die im österreichischen Zivilrecht allgemein geltenden Schadensminderungspflichten verschärfe, als Sondervorschrift einschränkend auszulegen und nicht analogiefähig sei, nicht für den auf Art 5 Abs 5 EMRK gegründeten Schadenersatzanspruch. Dem Rechtsträger stehe aber in diesem Fall, in dem das Verhalten des Klägers nicht iSd § 2 Abs 2 AHG zum vollständigen Entfall des Anspruchs führe, ein Mitverschuldenseinwand nach § 1304 ABGB zu, weil auch im Amtshaftungsverfahren die Grundsätze des bürgerlichen Rechts gelten würden. Der UVS hätte innerhalb der verfassungsgesetzlich vorgegebenen Wochenfrist über eine Schubhaftbeschwerde entscheiden müssen, die der Kläger aber bereits am 8. 10. 2008 erheben hätte können. Schon an diesem Tag hätte der anwaltlich vertretene Kläger ja in seinen Anträgen auf neuerliche Zustellung des Asylbescheids und auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf die Unwirksamkeit der Zustellung hingewiesen. Die ohne nachvollziehbaren Grund mit einer dreimonatigen Verspätung erhobene Schubhaftbeschwerde stehe dem Verhalten der Organe der Beklagten gegenüber, die trotz Kenntnis der am 8. 10. 2008 gestellten Anträge die rechtswidrige Schubhaft aufrechterhalten hätten. Eine Schadensteilung von 1 : 1 sei angemessen, weshalb dem Kläger eine weitere Haftentschädigung von 5.100 EUR zustehe. Die Kosten des Aufforderungsschreibens fielen im Amtshaftungsprozess als anwaltliche Nebenleistung unter den tariflichen Einheitssatz. Die Beklagte habe den Kostenersatzanspruch des Klägers richtig mit 248,06 EUR berechnet, indem sie die Bemessungsgrundlage von 3.194,24 EUR (den aufgrund des Aufforderungsschreibens vor Prozess beglichenen Betrag) und den Ansatz nach TP 3A herangezogen habe. Aus diesem Titel sei dem Kläger daher kein 123,85 EUR übersteigender Betrag zuzusprechen.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil höchstgerichtliche Judikatur zu der Frage der Zulässigkeit eines Mitverschuldenseinwands nach § 1304 ABGB bei Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs nach Art 5 Abs 5 EMRK fehle.

Die Revision des Klägers ist zulässig und auch teilweise berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Einzige Voraussetzung des in Art 5 Abs 5 EMRK gewährten verschuldensunabhängigen und im Amtshaftungsverfahren geltend zu machenden (RIS-Justiz RS0050017) Schadenersatzanspruchs ist die - hier eindeutig gegebene und auch nicht bezweifelte - Rechtswidrigkeit der Haft (RIS-Justiz RS0074679). Aus eben diesem Grund lehnt die höchstgerichtliche Judikatur die Anwendung des § 2 Abs 2 AHG auf Schadenersatzansprüche nach Art 5 Abs 5 EMRK, der einen verfassungsunmittelbaren (1 Ob 129/02f = SZ 2002/87) und daher (materiell-rechtlich) selbständigen Ersatzanspruch begründet und dem Geschädigten keine Verpflichtung zur Einbringung eines Rechtsmittels mit der Wirkung des Anspruchsverlusts bei (schuldhafter) Unterlassung auferlegt, ab (1 Ob 43/89 = SZ 62/176 mwN; 1 Ob 4/94 mwN).

Ob der Einwand des Mitverschuldens nach § 1304 ABGB bei einem derartigen Schadenersatzanspruch generell ausgeschlossen ist, wurde in der Judikatur des Obersten Gerichtshofs noch nicht abschließend beantwortet. In 1 Ob 43/89 berücksichtigte der Oberste Gerichtshof die konkrete Situation des unvertretenen, inhaftierten Klägers und verneinte deshalb ein Verschulden an der unterlassenen Erhebung eines Rechtsmittels, was aber Voraussetzung sowohl für eine Verletzung der Rettungspflicht nach dem (grundsätzlich nicht anzuwendenden) § 2 Abs 2 AHG als auch für ein Mitverschulden iSd § 1304 ABGB gewesen wäre. In der - ebenfalls vom Berufungsgericht zitierten - Entscheidung 1 Ob 26/95 wurde die Frage der Zulässigkeit des Mitverschuldenseinwands (dort gestützt auf die illegale Einreise als einleitende Ursache für die Verhängung der Schubhaft) ausdrücklich offen gelassen. Verwiesen wurde allerdings auf die bei einem Mitverschuldenseinwand zu berücksichtigende Wertung, wonach die Organe der Rechtsträger unabhängig von Handlungen der Parteien verpflichtet seien, sich rechtmäßig zu verhalten. Damit müsse der von der beklagten Partei erhobene Mitverschuldenseinwand im Fall der rechtswidrigen Aufrechterhaltung einer durch Bescheid verhängten Schubhaft selbst bei einem Amtshaftungsanspruch scheitern. Eine vergleichbare Wertung kommt auch in der ständigen höchstgerichtlichen Judikatur zum Ausdruck, die bei konventionswidrigem Freiheitsentzug die Einwendung des beklagten Rechtsträgers, derselbe Schaden wäre auch bei rechtmäßigem Organverhalten entstanden, ausdrücklich ausschließt (1 Ob 35/80; RIS-Justiz RS0027498). Die Bedeutung, die der österreichische Gesetzgeber den Folgen einer konventionswidrigen Haft auf den Ersatzanspruch des Geschädigten zubilligt, zeigt sich in § 4 Abs 2 StEG 2005. Nach dieser Ausnahmeregelung zu § 4 Abs 1 leg cit kann die Haftung des Bundes im Fall einer Haft, die entgegen Art 5 EMRK oder dem Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit erfolgte, aufgrund eines Mitverschuldens des Geschädigten weder ausgeschlossen noch gemindert werden.

Es ist nun richtig, dass das StEG 2005 nur für Freiheitsentziehungen zum Zweck der Strafrechtspflege oder durch eine strafrechtliche Verurteilung (§ 1 Abs 1 leg cit) ein Ausführungsgesetz für die grund- und verfassungsrechtlichen Bestimmungen nach ua Art 5 Abs 5 EMRK ist (Eder-Rieder, StEG 2005, 33; RIS-Justiz RS0108782) und seine Verfahrensvorschriften auf den unmittelbar nach Art 5 Abs 5 EMRK gestützten Schadenersatzanspruch (hier: ungerechtfertigte Schubhaft) auch nicht anzuwenden sind (1 Ob 88/00y; 1 Ob 178/05s ua). Dennoch kann das vom Berufungsgericht herangezogene Argument, im Amtshaftungsverfahren würden die Grundsätze des bürgerlichen Rechts gelten, was die Anwendbarkeit des § 1304 ABGB einschließe (RIS-Justiz RS0050022), letztlich nicht überzeugen. Es handelt sich hier - wie bereits erwähnt - um einen, von den Anspruchsgrundlagen des AHG unabhängigen, verfassungsunmittelbaren Schadenersatzanspruch. Dieser ist nur deshalb im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen, weil das österreichische Recht - abgesehen von dem hier nicht anzuwendenden StEG - keine ausdrückliche verfahrensrechtliche Einbindung des genannten Schadenersatzanspruchs vorgenommen hat (1 Ob 43/89). Der auf die unterlassene Einbringung einer Schubhaftbeschwerde gestützte Einwand des Mitverschuldens nach § 1304 ABGB ist daher bei einer von Anfang an rechtswidrigen Verhängung und fortdauernden rechtswidrigen Aufrechterhaltung einer Schubhaft nicht zulässig. Aus diesem Grund ist der Anspruch des Klägers auf Ersatz der (der Höhe nach unstrittigen) Haftentschädigung zur Gänze berechtigt.

Seit der Beseitigung des obligatorischen Aufforderungsverfahrens fällt das Aufforderungsschreiben (§ 8 AHG idF der WGN 1989) im Amtshaftungsprozess über die Hauptsache (hier: Haftentschädigung) als anwaltliche Nebenleistung unter den tariflichen Einheitssatz (1 Ob 111/06i). Dem Kläger stehen damit keine weiteren Kosten für das Aufforderungsschreiben zu.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 43 Abs 2 erster Fall, 50 Abs 1 ZPO. Der Kläger ist nur mit einem geringfügigen Teil seines Begehrens nicht durchgedrungen, weshalb ihm die gesamten Kosten zuzusprechen sind.

Schlagworte

4 Amtshaftungssachen,Gruppe: Zivilrechtsfragen - Menschenrechte,Grundfreiheiten

Textnummer

E94888

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0010OB00114.10M.0810.000

Im RIS seit

24.09.2010

Zuletzt aktualisiert am

14.02.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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